Diagnose-Odyssee – Hilfe bei Seltenen Erkrankungen

Philippa von Schönfeld - Freitag, 25.2.2022
Die Schleife, die für Seltene Erkrankungen steht, neben einer Gruppe bunter Figuren.

Auf jede Frage die passende Antwort: So stellen wir uns gerne das Berufsleben vor. Doch nicht immer ist es leicht, die richtige Diagnose zu stellen. Was können wir tun, um Menschen mit Seltenen Erkrankungen besser zu versorgen? 

Ein junger Patient kommt mit kiloweise Akten in die Sprechstunde: “Frau Doktor, was ist los mit mir?” Viel Diagnostik ist bereits gelaufen, aber greifen lässt sich das Krankheitsbild noch nicht: Brennende Schmerzen nach dem Sport, dunkle Punkte um den Bauchnabel, Magenkrämpfe – was nun, eine Überweisung zum Gastroenterologen, zur Dermatologin, in die Psychosomatik?

In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn sie weniger als fünf von 10.000 Menschen betrifft. Etwa 8.000 Seltene Erkrankungen sind bekannt. Es ist also wahrscheinlich, im Laufe des Berufslebens der einen oder anderen davon zu begegnen. Wie Fachkräfte den Betroffenen weiterhelfen können, beleuchtet unsere aktuelle Podcast-Folge. Schon die Anamnese kann dabei wichtige Hinweise auf eine Seltene Erkrankung geben.

Red Flags für eine Seltene Erkrankung:

  • Beschwerden seit der Kindheit: Etwa 70 Prozent der Betroffenen leiden bereits im Kindes- oder Jugendalter an Symptomen.
  • Zahlreiche ergebnislose Überweisungen: Die Symptome involvieren oft mehrere Organsysteme, sodass die Betroffenen bei verschiedenen Fachrichtungen Rat suchen.
  • Keine merkliche Besserung: Meist verlaufen die Erkrankungen chronisch und sind nicht heilbar.
  • Auch Angehörige haben Symptome: Da viele Seltene Erkrankungen genetisch bedingt sind, ist die Familienanamnese besonders wichtig.

Das große Problem: Bis zur Diagnose vergehen im Schnitt fünf Jahre voller Fehldiagnosen und Frustration. Diese Zeit drastisch verkürzen will das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE).

Schnell zur Diagnose – das Aktionsbündnis NAMSE

Das Bündnis vereint Initiativen und Projekte, vernetzt Forschende mit Versorgenden und bündelt Informationen sowohl für Ärzt:innen als auch Betroffene. Bisherige Erfolge umfassen die Zertifizierung von Zentren, ein Kodiersystem sowie Pilotprojekte für die Regelversorgung. 

Das Wichtigste sei ein gut funktionierendes Netz von Versorgungseinrichtungen, in dem Patient:innen möglichst schnell an die richtigen Ansprechpartner:innen gelangen, heißt es aus der NAMSE-Geschäftsstelle. “Der Leidensdruck der Betroffenen ist wahnsinnig hoch", sagt Dr. Miriam Schlangen, die die Geschäftsstelle leitet. "Viele Betroffene sind erst einmal erleichtert, wenn sie eine Diagnose erhalten. Oft gibt es ja gar keine Therapie, aber einfach die Tatsache, dass ihnen jemand glaubt und ihrer Erkrankung einen Namen geben kann – das ist ein wichtiger Schritt, auch für die Familienplanung.”

Neun der bundesweit 30 Zentren für Seltene Erkrankungen setzen bereits seit rund fünf Jahren zentrale Forderungen des Bündnisses im Rahmen von TRANSLATE-NAMSE um. Zu den Erfolgen zählen Selektivverträge zwischen Krankenkassen und Zentren, die die Abrechnung von Fallkonferenzen und genetischen Untersuchungen wie der Exom-Sequenzierung ermöglichen – zentrale Werkzeuge, um Seltene Erkrankungen zu diagnostizieren.

Seltenen Erkrankungen auf der Spur

An welchem Punkt überweist man nun Patient:innen mit unklarer Diagnose in ein Zentrum? “Lieber zu früh als zu spät”, sagt Monika Glauch, die TRANSLATE-NAMSE koordiniert. Auch wenn sich herausstelle, dass ein Patient nicht direkt ins Zentrum passe, ergebe sich aus der Fallkonferenz immer eine Empfehlung, wie es weitergehen könne, so Glauch. 

Welche Fachrichtungen an einer Fallkonferenz in einem Zentrum für Seltene Erkrankungen teilnehmen, entscheidet sich je nach Symptomatik der Betroffenen. Oft wird die Psychosomatik hinzugezogen, da eine psychiatrisch-psychosomatische Komponente die Diagnosestellung der komplexen Krankheitsbilder zusätzlich erschweren kann. Dieser Ansatz wird im Projekt ZSE-DUO intensiviert, indem sowohl Fachleute für körperliche Leiden als auch Fachleute für psychiatrisch-psychosomatische Erkrankungen die Betroffenen von Anfang an begleiten. 

Ziel all dieser Projekte ist es, die Zeit bis zur Diagnose und Behandlung zu verkürzen. Bei vielen Erkrankungen wäre es ideal, bereits im Kindesalter eine Diagnose zu stellen. Bundesweit sind über 700.000 Minderjährige von Seltenen Erkrankungen betroffen. Um ihnen frühzeitig helfen zu können, ist der Versorgungspfad für die Pädiatrie ein wichtiger Schritt. Während Betroffene früher aufgrund fehlender Therapieoptionen selten alt wurden, kommt dem Übergang in die Erwachsenenmedizin nun ein immer größerer Stellenwert zu.

 

Wichtige Links für den Alltag

ZIPSE (Zentrales Informationsportal zu Seltenen Erkrankungen): Fachkräfte und Betroffene finden hier Informationen zu medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Leistungserbringern.

SE-Atlas: Ein Überblick über Versorgungseinrichtungen und Selbsthilfeorganisationen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland.

Orphanet: Orphanet stellt hochwertige Informationen über seltene Krankheiten zur Verfügung und pflegt die Orphanet-Nomenklatur der seltenen Krankheiten (ORPHAcode), um so die Diagnose, Versorgung und Behandlung von Patient:innen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern.

ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V.): Ein Netzwerk, das für Selbsthilfeorganisationen Ressourcen und Know-how bündelt und “den Seltenen” eine Stimme geben will.

Verschiedene Europäische Referenzwerke bieten Weiterbildungen in ihren jeweiligen Fachgebieten an.

Auf nationaler Ebene machen die Zentren für Seltene Erkrankungen ebenfalls mit Fortbildungen auf Seltene Erkrankungen aufmerksam. Das Tübinger ZSE führt zum Beispiel in seiner  Fortbildungsakademie für Seltene Erkrankungen (FAKSE) monatlich kostenfreie Online-Webinare durch.

Anlässlich des diesjährigen Tages der Seltenen Erkrankungen fordert eine Petition eine nachhaltige Finanzierung der Zentren für Seltene Erkrankungen, um den Betroffenen eine strukturierte Versorgung und dem Personal langfristige Perspektiven zu bieten.

Aktuelle Entwicklungen sowie den Aktionsplan und weitere Strategiepapiere finden sich auf der Website von NAMSE.

Der junge Mann in der Praxis zeigt übrigens typische Symptome eines Morbus Fabry. Mehr Informationen dazu finden sich im AMBOSS-Kapitel Sammelsurium der Neurologie. Weitere Informationen zu Seltenen Erkrankungen gibt es in den Kapiteln zu seltenen hereditären Syndromen, seltenen hereditären Stoffwechselerkrankungen sowie im Sammelsurium der Pädiatrie, Sammelsurium der Dermatologie und Sammelsurium der Infektiologie.

Zur Podcastfolge „Von Kolibris und Zebras: Seltene Erkrankungen"

Im AMBOSS-Podcast ist Prof. Martin Mücke zu Gast, Vorstandssprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen in Aachen. Er spricht über Red Flags bei der Diagnosefindung und gibt ganz konkrete Tipps, wie wir Betroffenen helfen können. 

 

Kostenfrei hören auf:

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Quellen

  1. Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen: Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, 2013
  2. Hoffmann, G.F., Hebestreit, H. Seltene Erkrankungen. Monatsschr Kinderheilkd 170, 10–12 (2022). https://doi.org/10.1007/s00112-021-01371-x
  3. Choukair, D., Lee-Kirsch, M.A., Berner, R. et al. Der klinische Versorgungspfad zur multiprofessionellen Versorgung seltener Erkrankungen in der Pädiatrie – Ergebnisse aus dem Projekt TRANSLATE-NAMSE. Monatsschr Kinderheilkd 170, 52–60 (2022). https://doi.org/10.1007/s00112-021-01378-4
  4. Grasemann, C., Matar, N., Bauer, J. et al. Ein strukturierter Versorgungspfad von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer seltenen Erkrankung. Monatsschr Kinderheilkd 170, 61–69 (2022). https://doi.org/10.1007/s00112-020-00929-5