Autismus –  “Wer hat eigentlich Empathie mit wem?”

Philipp Winghart - Sonntag, 15.1.2023
Junge Frau arbeitet mit Kopfhörern im Gemeinschaftsbüro. Autismus im AMBOSS-Blog.

Probleme in der sozialen Interaktion führen bei autistischen Menschen oft zu großem Leidensdruck. Die Suizidrate ist hoch. Was gilt es zu wissen?

Einer von hundert Menschen lebt mit Autismus. Eine Diagnose, die nahezu jeden Bereich des Lebens beeinflusst. Wie sich Autismus erkennen und die Versorgungslage verbessern lässt, erklärt Prof. Leonhard Schilbach, Psychiater und Autismusexperte, im AMBOSS-Podcast.

Alles auf einen Blick

  1. Wie ist Autismus definiert?
  2. Wie erkenne ich Autismus?
  3. Masking und Camouflaging – sind Frauen unterdiagnostiziert?
  4. Worunter leiden Menschen mit Autismus?
  5. Wie können Behandelnde Menschen mit Autismus helfen?
  6. Frühkindlicher Autismus oder Asperger-Syndrom? Ein Spektrum!
  7. Double Empathy Problem und Neurodiversität: Was können wir von Menschen mit Autismus lernen?
  8. Störung der sozialen Interaktion – ein transdiagnostischer Ansatz?
  9. Die Podcastfolge "Autismus" mit Prof. Leonhard Schilbach

Wie ist Autismus definiert?

Klinisch äußert sich eine Autismus-Spektrum-Störung durch qualitative Auffälligkeiten im sozialen Verständnis und in der Kommunikation. “Wie geht es einer anderen Person? Ist derjenige fröhlich oder traurig? Hat er einen guten oder schlechten Tag? Diese intuitive Perspektivübernahme scheint bei Personen mit Autismusdiagnose nicht zu funktionieren", so Schilbach. Zwischen den Zeilen zu lesen oder unausgesprochene Botschaften zu verstehen, fällt autistischen Personen schwer. Häufig missverstehen sie und ihre Mitmenschen sich gegenseitig. Außerdem fallen oft besondere Interessen und Aktivitäten auf. Dazu zählt beispielsweise, sich sehr intensiv in bestimmte Themen einzuarbeiten, sich besonders ausdauernd mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen oder monoton anmutende Tätigkeiten zu verfolgen.

Zudem können sogenannte akzessorische Symptome vorliegen. "Viele Menschen mit Autismusdiagnose berichten, dass sie besonders sensibel für Sinnesreize sind”, so Schilbach. Prasseln zu viele Sinneseindrücke auf sie ein, versuchen Betroffene diesen auszuweichen, indem sie zum Beispiel Noise-Cancelling-Kopfhörer nutzen oder sich die Ohren zuhalten.

Wie erkenne ich Autismus?

Im Idealfall lässt sich eine Autismus-Spektrum-Störung bereits im Kindesalter diagnostizieren. Laut Schilbach können Fragen zum Sozialverhalten eines Kindes helfen: “Verhält sich das Kind anders als die meisten anderen Kinder? Spielt es nicht mit anderen? Hat es insgesamt wenig Interesse für soziale Kontakte und die Ausbildung von Freundschaften?” 

Bei erwachsenen Autist:innen ist es oft schwieriger, auf die richtige Diagnose zu kommen. Sie haben durch soziales Feedback häufig bereits gelernt, autismusspezifische Besonderheiten zu verstecken. Dennoch hilft es, auf Blickkontakt, sozial unangepasstes Verhalten oder zeitintensive Sonderinteressen zu achten. Im Zweifelsfall können Screeningtests wie der Autism Spectrum Quotient (AQ) oder dessen Kurzversion, der AQ-10, zum Einsatz kommen.

Masking und Camouflaging – sind Frauen unterdiagnostiziert?

Masking oder Camouflaging bezeichnet die Fähigkeit, Symptome des Autismus im Alltag zu maskieren. Frauen scheinen dies besonders gut zu beherrschen. Ausgrenzung und Mobbing lassen sich durch sogenanntes neurotypisches Verhalten vermeiden, Testverfahren und Fragebögen fallen dadurch aber auch falsch negativ aus. “Das ist durchaus ein Problem, weil dadurch Frauen mit Autismus übersehen werden können”, so Schilbach – und ohne Diagnose erhalten sie meist keine entsprechende Unterstützung. Aktuell wird Autismus bei Männern etwa dreimal häufiger diagnostiziert als bei Frauen. “In den alten Lehrbüchern stand noch 8:1. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sich das noch weiter entwickeln wird”, führt der Experte aus.

Worunter leiden Menschen mit Autismus?

Probleme in der sozialen Interaktion führen laut Schilbach am häufigsten zu Leidensdruck bei Autist:innen: “Entgegen dem Stereotyp, dass Menschen mit Autismus kein Interesse an sozialen Kontakten hätten, sagen die Personen, die ich über Jahre habe kennenlernen dürfen: Ich wünsche mir sozialen Austausch, ich wünsche mir Kontakte, aber das klappt nicht – und zwar weder im privaten Bereich noch im beruflichen.” Tatsächlich sind autistische Menschen häufig von Arbeitslosigkeit betroffen, obwohl sie im Durchschnitt besser beruflich qualifiziert sind als Menschen ohne Autismus-Spektrum-Störung. Das ist frustrierend und kann krank machen. Psychiatrische Komorbiditäten wie Angststörungen und Depressionen treten dementsprechend häufig auf: Erhalten Autist:innen ohne kognitive Einschränkungen ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter, leidet etwa die Hälfte von ihnen bereits an klinisch manifesten Depressionen. Suizide sind in dieser Subgruppe so häufig, dass sie sogar die durchschnittliche Lebenserwartung beeinflussen. 

Wie können Behandelnde Menschen mit Autismus helfen?

“Häufig ist die Diagnosestellung schon eine wichtige Unterstützung”, erklärt Schilbach. So lässt sich beispielsweise in Vorstellungsgesprächen erklären, dass Besonderheiten bestehen; auch sozialrechtliche Bestimmungen wie ein besonderer Kündigungsschutz geben Halt im Arbeitsleben. Ärztliche Hilfe ist aber auch darüber hinaus oft gefragt: “Immerhin drei Viertel der Personen mit Autismus haben Therapiewünsche”, so der Experte.

Psychotherapeutisch profitieren Autist:innen von Ansätzen, die Verhalten in sozialen Situationen trainieren. Eine Gruppentherapie kann hilfreich sein, insbesondere wenn die Gruppe ausschließlich aus Autist:innen besteht. Medikamentös kommen Präparate zur Behandlung der jeweiligen psychiatrischen Komorbidität zum Einsatz. 

Fundiertes Wissen zur psychotherapeutischen und pharmakologischen Therapie der Depression findet sich in unserem AMBOSS-Kapitel.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

 

Frühkindlicher Autismus oder Asperger-Syndrom? Ein Spektrum!

Die ICD-10 unterscheidet derzeit noch zwischen frühkindlichem und atypischem Autismus sowie dem Asperger-Syndrom. “Über Jahrzehnte dachte man, dass das eine wichtige Unterscheidung im Hinblick auf die Prognose ist”, so Schilbach. Das scheint aber nicht der Fall zu sein – auch aufgrund der hohen Suizidraten bei Autist:innen ohne kognitive Einschränkungen. Die ICD-11 wird die aktuell getrennten Diagnosen künftig daher unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung zusammenfassen. Im DSM-5 ist das bereits der Fall. 

Double Empathy Problem und Neurodiversität: Was können wir von Menschen mit Autismus lernen?

“Früher sprach man viel von sozialen Defiziten bei Menschen mit Autismusdiagnose”, erklärt Schilbach. Beispielsweise wurde ihnen mangelnde Empathie unterstellt. Viele Autist:innen sehen bei sich jedoch kein generelles Empathiedefizit, da sie mit anderen autistischen Menschen durchaus empathisch interagieren können. “Die Frage ist: Wer hat eigentlich Empathie mit wem?”, so Schilbach. “Mir erscheint die ausschließliche Konzentration auf eine Person nicht geeignet, um Interaktionsprozesse verstehen zu können, die von mehreren Personen abhängen.” Kommt es zum Beispiel zwischen einer autistischen und einer neurotypischen Person zu einem kommunikativen Missverständnis, liegt das meist an einem wechselseitigen Empathieproblem – einem Double Empathy Problem

Neurodiversität bedeutet, neurobiologische Unterschiede und daraus resultierendes Verhalten als natürliche menschliche Verschiedenheit anzuerkennen 1. Sich Neurodiversität bewusst zu machen und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, kann laut Schilbach dabei helfen, gesellschaftlich relevante Fragen zu beantworten: “Worauf müssen wir achten, um Kommunikationsprozesse aktiv zu halten und erfolgreich zu machen? Da können Menschen mit Autismus eine ganz wesentliche Rolle spielen, indem sie zum Beispiel durch ihre Wahrnehmung einen Beitrag leisten, um Diskussionen zu versachlichen”, so der Experte. 

Störungen der sozialen Interaktion – ein transdiagnostischer Ansatz?

Für den Psychiater Schilbach gehen alle psychischen Erkrankungen mit einer gestörten sozialen Interaktion einher. Bei der Schizophrenie sei sozialer Rückzug beispielsweise ein wichtiges Warnsignal: “Die frühen Beschreibungen von Schizophrenie haben sogar das Wort “Autismus” verwendet, um genau das zu beschreiben”, so der Experte. Auch bei Depressionen und Angst- oder Zwangsstörungen lässt sich das Phänomen beobachten. Bei Persönlichkeitsstörungen erschweren laut Schilbach unbewusste Erwartungen der Betroffenen gegenüber ihren Mitmenschen die soziale Interaktion. Er plädiert daher für einen transdiagnostischen Ansatz: Betroffene in ihrer sozialen Interaktion zu unterstützen und zu stärken, könnte Symptome unterschiedlicher Erkrankungen lindern. “Wir wissen, dass soziale Interaktion ein wichtiger Motor des Wohlbefindens ist”, so der Experte. 

Gleichzeitig finden soziale Interaktionen nicht erst seit der Corona-Pandemie immer seltener statt  – und Einsamkeit erhöht das Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. “Wie kommt es, dass die Menschen weniger soziale Kontakte unterhalten?”, gibt Schilbach zu Bedenken. “Ich würde mir wünschen, dass wir alle aufeinander achten und Interaktionsmöglichkeiten nutzen, wenn sie sich ergeben. Auch kleine Interaktionssequenzen sind wichtig für das Wohlbefinden. Da reicht auch der kurze Blickkontakt am Kaffeeautomat oder ein Gruß auf der Straße.”

 

Prof. Leonhard Schilbach ist Chefarzt einer allgemeinpsychiatrischen Abteilung am LVR-Klinikum Düsseldorf / Kliniken der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Als Professor und Fakultätsmitglied ist er an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der International Max Planck Research School for Translational Psychiatry und der Graduate School of Systemic Neuroscience aktiv.

 

Die Podcastfolge "Autismus" mit Prof. Leonhard Schilbach

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Quellen

  1. Jaarsma, P., Welin, S. Autism as a Natural Human Variation: Reflections on the Claims of the Neurodiversity Movement. Health Care Anal 20, 20–30 (2012). https://doi.org/10.1007/s10728-011-0169-9