'Wir dürfen nicht zulassen, dass das Virus andernorts weiter wütet'

Britta Verlinden - Donnerstag, 29.4.2021
Person mit Schutzbekleidung, OP-Maske und blauen Handschuhen spritzt blaue Flüssigkeit in eine handgroße Weltkugel.

Weltweit fordern Regierungen und NGOs, den Patentschutz für COVID-Impfstoffe für die Dauer der Pandemie zu lockern. Im Interview mit dem AMBOSS-Blog erklärt Malte Radde, Koordinator der Universities Allied for Essential Medicines (UAEM), den Hintergrund der Kampagne “Fair Impfen”.

 

AMBOSS-Blog: Du arbeitest auf einer COVID-Intensivstation. Die Situation dort entspannt sich wohl erst, wenn hierzulande deutlich schneller geimpft wird. Du engagierst dich aber für mehr Impfstoff in anderen Ländern. Warum? 

Malte Radde: Wir haben weltweit viel zu wenig Impfstoff, und das ist für alle ein Problem. Zum einen gilt für mich als Mediziner allein schon aus humanitären Überlegungen: Wir dürfen nicht zulassen, dass in ärmeren Ländern hunderttausende weitere Menschen sterben, weil sie nicht geimpft werden, obwohl ein Impfstoff existiert. Das Virus andernorts einfach weiter wüten zu lassen, birgt zum anderen auch für uns hier in Deutschland große Risiken. Wir haben es in Großbritannien, Südafrika, Brasilien und zuletzt auch Indien schon gesehen: Mutationen entstehen und werden, solange sich das Virus verbreiten kann, auch weiterhin entstehen. Und wenn wir Pech haben, entstehen Immune-Escape-Varianten, vor denen die Impfung plötzlich nicht mehr schützt. Um dem zuvorzukommen, müssen wir die weltweite Impfstoffproduktion massiv hochfahren. Wir von den Universities Allied for Essential Medicines setzen uns dafür ein, dass nicht nur die Hersteller, sondern auch andere Firmen diese Impfstoffe produzieren dürfen. 

AMBOSS: Wie ließe sich das ermöglichen?

MR: Wer einen Impfstoff entwickelt, hat natürlich ein Patent darauf. Diese Unternehmen könnten anderen per Lizenz – z.B. gegen eine Gewinnbeteiligung – erlauben, ihren Impfstoff zu produzieren. Doch das tun sie bisher nicht. Südafrika und Indien haben deshalb im Oktober bei der Welthandelsorganisation (WTO) einen sogenannten TRIPS Waiver beantragt, um den internationalen Patentschutz für die Dauer der Pandemie auszusetzen.

AMBOSS: Eine Firma wie BioNtech investiert viel Zeit und Geld, bis sie einen wirksamen und sicheren Impfstoff findet. Ist der Patentschutz da nicht eine gute Sache?

MR: Klar! Das ist auch superwichtig, damit sich die Forschung lohnt, das stellen wir gar nicht infrage. Man könnte ihn aber für Erfindungen wie Medikamente und Impfstoffe, die zur Beendigung der Pandemie beitragen, vorübergehend aufheben. Mit dem TRIPS Waiver, wie ihn Südafrika und Indien beantragt haben, könnte ein Land auch anderen Firmen erlauben, z.B. den BioNtech-Impfstoff herzustellen und zu niedrigeren Preisen zu verkaufen. Das bedeutet aber nicht, dass alle WTO-Mitglieder plötzlich den Patentschutz aufheben müssen. Deutschland kann beispielsweise auch sagen: Wir möchten unsere Industrie schützen und setzen diese Ausnahmeregelung hier nicht um.

AMBOSS: Dann hätte BioNtech in Deutschland weiterhin das Monopol auf seinen Impfstoff und könnte ihn zum selben Preis verkaufen wie bisher? 

MR: Genau. Was viele außerdem vergessen: Die Impfstoffe sind alle zu großen Teilen in ihrer Entwicklung durch öffentliche Fördergelder finanziert worden. So hat eine Studie der UAEM UK gezeigt, dass z.B. 97% der Kosten für die Entwicklung des AstraZeneca-Impfstoffs aus öffentlicher Hand gezahlt wurden.

AMBOSS: Welche Länder unterstützen den Antrag von Südafrika und Indien?

MR: Leichter lässt sich beantworten, wer ihn nicht unterstützt. Denn bis auf die EU, USA*, Brasilien, Australien und Japan – also Länder mit einer starken Pharmaindustrie – gibt es fast niemanden, der dagegen ist. Einige wenige Länder haben sich noch nicht geäußert, z.B. Kanada und Mexiko, aber mehr als 100 WTO-Mitglieder sind bereits Sponsor, Co-Sponsor oder Unterstützer des Antrags. 

AMBOSS: Wie viele Stimmen braucht so ein Antrag denn?

MR: Eigentlich wird eine solche Entscheidung per Konsens aller WTO-Mitglieder getroffen. Wenn sich aber kein Konsens erzielen lässt, kann die Entscheidung durch Abstimmung gefällt werden. Dafür wäre eine Dreiviertelmehrheit erforderlich. Bisher ist die Entscheidung aber immer vertagt worden.

AMBOSS: Hat es in der Geschichte der WTO schon einmal einen solchen Konsens gegeben? 

MR: In diesem Ausmaß, dass der Patentschutz vorübergehend tatsächlich aufgehoben worden wäre, noch nicht. Aber es hat schon mit anderen Krankheiten ähnliche Situationen gegeben, das heißt: Es existiert ein Medikament, aber es wird nicht genug davon produziert oder es ist aufgrund eines Monopols viel zu teuer für ärmere Länder. Vor 20 Jahren ist es beispielsweise durch massiven öffentlichen Druck gelungen, den Preis für HIV-Medikamente auf weniger als einen Dollar pro Tag zu senken. 

AMBOSS: Vor einem Jahr hat Angela Merkel gesagt, einen Impfstoff zu produzieren und ihn in alle Teile der Welt zu verteilen, sei ein globales öffentliches Gut. Inwiefern sind diesen Worten Taten gefolgt? 

MR: Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, hat sich ähnlich geäußert. Und tatsächlich sind die EU und Deutschland auch Mitglieder der COVAX-Initiative. Im Zuge dieser Initiative soll Impfstoff für andere Länder gekauft werden. Doch wenn die reichen Länder zuerst kommen und sich teilweise mehr Impfstoff sichern, als sie für ihre Bevölkerung brauchen, dann bleibt für diese Initiative einfach kaum etwas übrig. Selbst im allerbesten Fall wird COVAX Schätzungen zufolge nur eine Durchimpfung von 10–20% der Empfängerstaaten erreichen. 

AMBOSS: ...was keine Herdenimmunität ist... 

MR: Genau, das reicht nicht. 

AMBOSS: Nun tagt die WTO erneut. Neben euch engagieren sich auch Oxfam, Ärzte ohne Grenzen und sogar die WHO dafür, dass der Antrag dort angenommen wird. Was können denn einzelne tun, die sich für das Thema interessieren? 

MR: Neben unserem Offenen Brief, den natürlich alle unterzeichnen können, ist es wichtig, mit so vielen Menschen wie möglich darüber zu sprechen – egal ob an der Klinik oder in der Uni. Vielleicht ist jemand auch selbst Mitglied einer Interessenvertretung und kann das Thema dort anbringen. Aber auch außerhalb des medizinischen Kosmos – es ist leider noch ein Nischenthema, und es ist wichtig, auch Menschen davon zu erzählen, die keinen medizinischen Hintergrund haben. Es geht uns alle an.

 

Malte Radde (21) studiert Medizin im siebten Semester an der Berliner Charité und ist Nationalkoordinator der UAEM für Deutschland. Gemeinsam mit Amnesty International, Brot für die Welt, Open Society Foundations, Oxfam, UNAIDS und vielen weiteren NGOs unterstützt die UAEM außerdem die Initiativen The People’s Vaccine und Free The Vaccine. 

 

Eine aktuelle Übersicht über verfügbare COVID-Impfstoffe, ihre Wirkprinzipien und die Grundlagen von Impfstoffentwicklung und Zulassung finden sich auch in AMBOSS. 

* Anm. d. Red.: Am 5. Mai haben die USA dem Antrag ihre Unterstützung zugesagt.