‘Der Patientennutzen steht im Mittelpunkt’
Patientenwohl trotz Kostendruck: Mit Value-based Healthcare könnte das Wirklichkeit werden. Was dahintersteckt, hat uns die Expertin Sophie-Christin Ernst erklärt.
AMBOSS-Blog: Sophie, du bist Ärztin und forschst an der TU Berlin seit knapp drei Jahren zur Value-based Healthcare. Wie bist du zu dem Thema gekommen?
Sophie-Christin Ernst: Während meines Medizinstudiums habe ich als Pflegeassistenz im Nachtdienst gearbeitet. Dort habe ich eine klare Diskrepanz zwischen der Intention, helfen zu wollen, und der Medizin bemerkt, die am Ende herauskommt. Dieser Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeit und guter Versorgung hat mich früh frustriert. In einem Auslandsjahr in Frankreich bin ich dann auf einen Kurs über Innovationen im Gesundheitswesen gestoßen. Dort bekam ich Antworten auf Fragen, die in meinem Studium bis dahin nicht behandelt worden waren.
AMBOSS: Welches Konzept steckt hinter Value-based Healthcare?
Ernst: Den Begriff haben Michael Porter und Elizabeth Teisberg 2006 geprägt. Den Patientennutzen, Value, bemessen sie als Outcome in Relation zu den Kosten. Dabei definieren sie sowohl Outcome als auch Kosten neu: Outcome nicht mehr allein über Parameter wie Komplikations- und Mortaliätsraten oder andere Clinician-reported Outcomes. Patient-reported Outcomes, die Ergebnisse aus Patientensicht abbilden, sind essenzieller Bestandteil von Value-based Healthcare. Kosten werden nicht nur für einzelne Leistungen, sondern über den gesamten Behandlungszyklus hinweg betrachtet. Damit fließen patientenrelevante Qualität und Nachhaltigkeit stärker in die Beurteilung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitswesens ein. Der Patientennutzen rückt ganz klar in den Mittelpunkt.
AMBOSS: Steht ein Krankenhaus, das Value-based Healthcare anwendet, trotzdem auf einem marktwirtschaftlichen Fundament?
Ernst: Was mich so begeistert, ist, dass bei der Value-based Healthcare Patientennutzen und Wirtschaftlichkeit, anders als bei anderen Konzepten, nicht im Konflikt stehen müssen. Transparenz über Outcomes kann zum Beispiel dazu führen, dass Patient:innen und Zuweiser:innen Kliniken vergleichen und sich bewusst für qualitativ bessere Versorgung entscheiden. Auch gibt es Ansätze, die Vergütung stärker an die erbrachte Qualität zu knüpfen und diese so weiter zu fördern.
AMBOSS: Bei der Value-based Healthcare kommen, wie du schon erwähnt hast, “Patient-reported Outcome Measures”, kurz PROMs, zum Einsatz. Sie sollen die Ergebnisqualität messen. Wie läuft das ab?
Ernst: Mittels Fragebögen wird die subjektiv empfundene Gesundheit erfasst. Die Patient:innen beantworten diese Fragen also selbst – analog, per App oder über ein Webportal. Je nach Krankheitsbild oder Therapieprozess erfolgt die Befragung zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Fragen können generisch oder krankheitsspezifisch sein. Mit PROMs fragen wir Aspekte ab, die Menschen dazu bringen, sich in medizinische Behandlung zu begeben, etwa Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und Funktionalität. Denn in der Regel suchen Menschen medizinische Hilfe auf, um möglichst uneingeschränkt Dinge tun zu können, die im Alltag für sie wichtig sind. Rein klinische Parameter geben oft keinen Aufschluss darüber, ob dieses Ziel erreicht wird.
AMBOSS: Wofür kann man PROMs noch nutzen?
Ernst: PROMs lassen sich sehr vielfältig anwenden: Sie können zu einer besseren Arzt-Patienten-Kommunikation und zum Shared-Decision-Making beitragen, als Entscheidungshilfe oder zum Screening und Monitoring von Symptomen zum Einsatz kommen. Aktuell untersucht das “PROMoting Quality”-Projekt der TU Berlin zum Beispiel die Anwendung von PROMs zur Verbesserung und Bewertung des Behandlungsverlaufs bei Hüft- oder Kniegelenkersatz. Kontinuierlich werden Betroffene vor und nach dem Eingriff online befragt. Die Behandelnden erhalten regelmäßig Feedback – insbesondere bei kritischen Verläufen. Sie können bei Bedarf also frühzeitig eingreifen und so den Behandlungserfolg verbessern. Und die Patient:innen haben die Möglichkeit, auf Behandlung und Nachsorge Einfluss zu nehmen. Außerdem wird untersucht, ob die Intervention mittels PROMs wirtschaftlicher ist. PROMs werden auch auf Systemebene zunehmend präsenter, beispielsweise bei der Leistungserbringer-übergreifenden Qualitätssicherung, der Zulassung und Nutzenbewertung von Medikamenten oder Medizinprodukten, einschließlich digitaler Gesundheitsanwendungen, oder auch für Outcome-basierte Vergütung und Zertifizierung.
AMBOSS: Sind Bereiche wie die Onkologie im Gegensatz zu den operativen Fächern bei der Anwendung von PROMs im Nachteil? Eine Verbesserung tritt hier ja oft nur langsam ein und das Therapieziel ist häufiger palliativ. Wie reagiert das System Value-based Healthcare auf diese Fachunterschiede?
Ernst: Abhängig vom Indikationsbereich werden PROMs unterschiedlich angewendet. Großes Potenzial haben sie aus meiner Sicht überall da, wo Krankheit oder Therapie einen starken Einfluss auf die subjektive Lebensqualität und Funktionalität haben – auch in einem palliativen Setting. Studien wie die von Bash et al. am Memorial Sloan Kettering Cancer Center konnten zeigen, dass die Anwendung von PROMs im Bereich der Onkologie Outcome-relevant ist: Patient:innen mit metastasierten soliden Tumoren unter Chemotherapie überlebten mit PROMs-basiertem Monitoring signifikant länger als Patient:innen in der Kontrollgruppe ohne diese Intervention. Aktuell untersucht das bundesweit durchgeführte Projekt "PRO B" der Charité, ob PROMs helfen, eine Verschlechterung des Zustands von Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs, etwa durch Nebenwirkungen der Therapie oder Tumorwachstum, schneller zu erkennen und ungeplante Krankenhausaufenthalte so zu vermeiden.
AMBOSS: Gibt es ein Beispiel aus der Praxis, wo PROMs bereits erfolgreich eingesetzt werden?
Ernst: Die Martini-Klinik in Hamburg ist ein Leuchtturmprojekt für umgesetzte Value-based Healthcare in Deutschland. Sie ist spezialisiert auf die Behandlung von Prostatakarzinomen und hat durch Outcome-Messungen eine steile Lernkurve hingelegt. Mittlerweile ist sie weltweit das Zentrum mit den meisten Operationen in diesem Bereich. Die Ergebnisqualität ist herausragend, soweit man das national vergleichen kann. Klinische Parameter wie Kontinenz und Potenz, die im Rahmen eines Eingriffs und der Folgetherapie verloren gehen können, werden kontinuierlich erfasst – auch noch Jahre nach der Behandlung. Auf Basis der Outcome-Daten konnte auch die Therapie angepasst werden. So zeigte eine neu eingeführte Technik für die Prostatektomie höhere Raten für Kontinenz und erhaltene Potenz bei den operierten Patienten. Nach und nach übernahmen alle Operateur:innen diese Technik. Outcome-Daten bilden dort auch die Grundlage für einen Vergleich der Operateur:innen und unterstützen einen stetigen Lernprozess: Diejenigen mit besserem Outcome operieren mit denen, die im direkten Vergleich weniger gut abgeschnitten hatten, und geben so ihre Technik im Team weiter. So ist ein unglaublich hohes Leistungsniveau entstanden! Die durch eine kontinuierliche Erhebung von Outcomes und anderen Parametern gewonnenen Daten lassen sich zudem wissenschaftlich nutzen. Die Martini-Klinik ist also auch in der Forschung extrem produktiv.
AMBOSS: Für einen breiten Vergleich wäre es sicher notwendig, dass noch mehr Krankenhäuser das Konzept anwenden. Welche weiteren Vorteile haben Studien für Patient:innen gezeigt?
Ernst: Ein interessanter Bereich ist die Indikationsqualität: Welche Patientengruppen profitieren wirklich von einer bestimmten Intervention? Bei Rückenschmerzen gibt es zum Beispiel die Tendenz, früh zu operieren, da ein Eingriff für die Krankenhäuser ökonomisch sinnvoll ist. Viele Patient:innen sind aber mit dem operativen Ergebnis nicht zufrieden. Hier wäre weitere Forschung sinnvoll: Wer geht bei welcher Therapieoption wie raus? Die Indikationsstellung von Operationen ließe sich anhand solcher Daten anpassen.
AMBOSS: Beeinflussen PROMs an deutschen Kliniken bereits die Abrechnungen?
Ernst: Es gibt einen Vertrag zwischen den Waldkliniken Eisenberg in Thüringen und einer deutschen Krankenversicherung, wo es explizit um eine bessere Indikationsqualität geht. Dort wird umfassender und strukturierter als üblich geprüft, ob und wie operiert werden sollte. Lässt die Erkrankung es zu, wird zunächst eine konservative Behandlung bevorzugt. Ist eine Operation indiziert, erfolgt ein Screening auf Erkrankungen, die das Outcome negativ beeinflussen könnten. Dazu gehören Diabetes mellitus, eine Depression oder auch eine Eisenmangelanämie. Diese werden vor dem Eingriff dann entsprechend behandelt. Das im Qualitätsvertrag vorgesehene Screening umfasst darüber hinaus auch PROMs zur Einschätzung des subjektiven Gesundheitsstatus und der Lebensqualität der Patient:innen. Für dieses umfassendere Screening und die Dokumentation der Ergebnisse erhält die Klinik eine Pauschale von 150 Euro pro Fall. Das ist ein erster Schritt, Outcome und Kosten stärker zusammenzubringen.
AMBOSS: An der TU Berlin habt ihr untersucht, welche Faktoren determinieren, ob eine Implementierung von PROMs erfolgreich ist. Was habt ihr herausgefunden?
Ernst: Wir haben im Wesentlichen sechs Erfolgsfaktoren identifiziert. Zunächst ist ein stärkerer Patientenfokus essenziell: Patient:innen müssen stärker involviert werden, zum Beispiel in die Entscheidung, bei welchen Indikationen PROMs zum Einsatz kommen und wie PROMs in den Versorgungsprozess integriert werden sollten. Auch braucht es "Clinical Champions", die von Outcome-Messung und dem Mehrwert von PROMs überzeugt sind. Fördern ließe sich das durch mehr Forschungsmittel in diesem Bereich, gezielte Weiterbildungsprogramme und Austausch in Netzwerken. Zu den Erfolgsfaktoren der Nutzung von PROMs innerhalb einer Indikation gehört außerdem die Standardisierung der Datenerhebung. Das kann bedeuten, dass man sich auf einen Fragebogen, also ein PROMs-Tool, einigt oder Kernfragen festlegt, die gegebenenfalls ergänzt, aber nicht verändert werden sollten und sich dann unter verschiedenen Kliniken vergleichen lassen. Wichtig ist auch die IT-Infrastruktur; sie sollte die Erhebung effizienter, Ergebnisse zeitnah anwendbar machen. Für eine Nutzung von PROMs in Zusammenschau mit etablierten Parametern ist auch die Interoperabilität solcher Systeme wichtig. Da braucht es auch Anreizstrukturen und eben politischen Willen, also ein klares Commitment zu PROMs als ein valides Instrument zur patientenzentrierten Versorgung, um Themen wie Standardisierung, Bereitstellung einer sektorenübergreifenden IT-Infrastruktur und Vergütung in Angriff zu nehmen. Das Krankenhauszukunftsgesetz ist ein erster Schritt in diese Richtung: Hiernach sind Patientenportale förderfähig, mit denen sich PROMs erheben lassen.
AMBOSS: Bei welchen Punkten ist Deutschland schon in der Lage, Value-based Healthcare flächendeckend einzusetzen? Und wo müssen wir noch was tun?
Ernst: Wir haben im Hinblick auf IT-Infrastruktur, Standardisierung, Qualitätstransparenz und Anreizstrukturen noch einiges vor uns. Der Innovationsfonds fördert Projekte zur PROMs-Implementierung und weiteren Erforschung der Effekte auf die Versorgung. Aktuell ist die PROMs-Landschaft in Deutschland leider ziemlich fragmentiert. Es gibt keine Übersicht darüber, welche Krankenhäuser PROMs erfassen. In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung führen wir aktuell eine Umfrage durch, um ein besseres Bild vom Status quo zu gewinnen.
AMBOSS: Wie gehen andere Projekte oder Länder mit den Daten um, die durch PROMs generiert werden?
Ernst: Auch das haben wir untersucht, als wir die Implementierung von PROMs in zehn Ländern verglichen haben. In Norwegen konnte man zum Beispiel über in Registern erhobene PROMs, feststellen, dass bei einer dislozierten Oberschenkelhalsfraktur eine Hemiarthroplastik für das Patienten-Outcome besser wäre als eine Osteosynthese. Daraufhin wurde die Leitlinie angepasst, innerhalb weniger Jahre gab es einen kompletten Shift – und heute werden 95% der Patient:innen mit einer Hemiarthroplastik versorgt.
AMBOSS: Glaubst du daran, dass Value-based Healthcare in naher Zukunft hier flächendeckend genutzt wird?
Ernst: Ich denke, wir werden in Zukunft mehr Elemente der Value-based Healthcare in der Versorgungslandschaft sehen, auch in Deutschland. Einerseits weil die Gründe, aus denen Value-based Healthcare Sinn ergibt, immer präsenter werden – also der stetig wachsende Kostendruck im Gesundheitswesen, die limitierten Ressourcen bei einer alternden Bevölkerung – und andererseits auch Enabler, zum Beispiel digitale Infrastruktur, immer besser werden und immer weiter verbreitet sind. Außerdem haben Patient:innen ein wachsendes Interesse daran, Teil dieses Prozesses zu sein. Sie wollen mehr Informationen und sind unter anderem durch digitale Technologien empowert, sich stärker an ihrem eigenen Behandlungsprozess zu beteiligen. Diese Entwicklungen fördern sicher eine weitere Implementierung von Value-based Healthcare. Es braucht aber auch Mut: zu messen, sich Vergleichen zu stellen und zu lernen. Value-based Healthcare impliziert einen kontinuierlichen Lern- und Entwicklungsprozess. Ich denke, in Deutschland braucht dieser kulturelle Wandel noch Zeit. Aus meiner Sicht löst Value-based Healthcare auch nicht alle Herausforderungen, vor denen unser System steht.
AMBOSS: Was würdest du unseren ärztlichen Leser:innen mitgeben, die jetzt sagen: Ich will meinen Klinikdirektor oder meine Klinikdirektorin überzeugen, das für unsere Abteilung auch mal auszuprobieren und sich einem Projekt anzuschließen oder ein Projekt zu gründen. Welche Möglichkeiten gibt es?
Ernst: Kliniken können in Forschungsprojekten, wie sie beispielsweise durch den Innovationsfonds gefördert werden, erste Schritte zur Implementierung von PROMs gehen und zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen. Auch kann man sich mit Gruppen und Kliniken, die bereits in diesem Bereich forschen, in Verbindung setzen, sich austauschen und nach Möglichkeit kooperieren. Um PROMs- und Value-based Healthcare-Projekte langfristig erfolgreich durchzuführen, braucht es auch Leadership – und zwar nicht nur auf Seiten der Ärzteschaft. Hier haben wir mit dem Value-based-Healthcare-Intensivseminar an der TU Berlin angesetzt. Es fand dieses Jahr zum ersten Mal statt und war ein voller Erfolg. Die Teilnehmenden haben beispielsweise Vorschläge für qualitätsbasierte Verträge entwickelt, die in sieben Bereichen zu mehr Value für Patient:innen führen sollen. Ich bin gespannt, was aus diesen Ideen wird.
Sophie-Christin Ernst ist Ärztin und hat in Münster und Paris Medizin studiert. Danach arbeitete sie unter anderem am Chair of Innovation & Value in Health der Université Paris Descartes und im European Institute of Innovation and Technology am Report „Implementing Value-Based Healthcare in Europe: Handbook for Pioneers“ mit, der im Jahr 2020 erschienen ist. Seit April 2021 forscht sie an der TU Berlin zu Outcome-Messung, Qualitätstransparenz und insbesondere der PROMs-Implementierung im internationalen Vergleich.