'Damit Familien selbstbewusst und informiert in die Geburt gehen'

Britta Verlinden - Sonntag, 4.7.2021
Schlafendes Baby liegt in den Armen einer Frau

Neben Gynäkologie, Hebammenwissenschaft und Pädiatrie waren auch Eltern an der S3-Leitlinie “Die vaginale Geburt am Termin” beteiligt. Katharina Desery von Mother Hood erklärt, was ihnen dabei wichtig war.

AMBOSS: Ihre Elterninitiative hat an der Erstellung der neuen S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin entscheidend mitgewirkt. Es ist eher ungewöhnlich, dass Patient:innen an Leitlinien mitschreiben. Wie kam es dazu?

Katharina Desery: Wir sind noch ein relativ junger Verein, aber uns war von Anfang an wichtig, mit den Berufsgruppen zusammenzuarbeiten. Also haben wir uns ihnen vorgestellt: “Wir sind hier die Eltern. Es gibt Probleme in der Geburtshilfe, die wir nur angehen können, wenn wir die Frauen im Fokus haben und das gemeinsam machen.” So haben wir uns, glaube ich, einen ganz guten Namen gemacht. 2018 hat sich dann Professor Abou-Dakn (unser Gast im aktuellen AMBOSS-Podcast, Anm. d. Red.) gemeldet und uns eingeladen, an der Leitlinie mitzuarbeiten.

AMBOSS: Wie lief das ab?

Katharina Desery: Das war eine Riesensache, ein sehr langer, harter Prozess, aber auch sehr konstruktiv. Immer wieder war der Wille zu spüren, dass sich etwas verändern muss in der Geburtshilfe – und zwar quer durch alle Berufsgruppen. Es ist also keine “Hebammen-Leitlinie”, wie manchmal unterstellt wird. Alle Empfehlungen sind konsensbasiert; da ist keine Berufsgruppe bevorzugt worden. 

AMBOSS: Als die Leitlinie dann herauskam, wurde sie, unter anderem von Ihnen, als “bahnbrechend” gefeiert. Tatsächlich stecken ja mehrere Paradigmenwechsel drin, was vielleicht auch die eine oder andere Fachperson überraschen wird. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten neuen Empfehlungen?

Katharina Desery: Das Entscheidende ist für uns, dass wirklich explizit drinsteht: Die Frau gehört ins Zentrum. Viele arbeiten schon lange so, das wissen wir auch. Aber eben nicht alle, und deshalb ist gut, dass die Leitlinie jetzt auch erklärt, wie die Frau ins Zentrum gehört – etwa durch partizipative Entscheidungsfindung – und von welch großer medizinischer Relevanz das Wohlbefinden ist. Ich erinnere mich an Gespräche mit Gynäkolog:innen und Kinderärzt:innen, die zum Thema “Eins-zu-Eins-Betreuung” sagten: “OK, nice to have. Aber wo ist die Evidenz, dass das wirklich was bringen würde?” Das können sie jetzt in der Leitlinie nachlesen. 

AMBOSS: Das bisher übliche CTG bei Aufnahme in den Kreißsaal wird nun nicht mehr routinemäßig empfohlen. Wer in Deutschland schon ein Kind bekommen hat, kennt es aber vermutlich gar nicht anders, als direkt “verkabelt” zu werden. Wie können sich Schwangere und ihre Angehörigen über die neuen Empfehlungen informieren, wenn allein die Kurzfassung der Leitlinie mehr als 100 Seiten zählt? 

Katharina Desery: Sprachlich ist es natürlich eine Herausforderung, aber ich finde, es ist trotzdem möglich, sich damit zu beschäftigen. Wir haben in den letzten Monaten auf Social Media die aus unserer Sicht wichtigsten und auch nachvollziehbarsten Empfehlungen unter dem Stichwort #LeitlinieVaginaleGeburt gepostet – und zwar im Wortlaut! Uns war das immens wichtig; schließlich soll die Leitlinie Familien helfen, selbstbewusst und informiert in die Geburt zu gehen. Und wir wünschen uns, dass diese Empfehlungen auch die Klinikstandards und das Handeln der Fachpersonen überall im Land beeinflusst.

AMBOSS: Man hört ja hin und wieder: “Das haben wir immer schon so gemacht”, selbst wenn die Evidenz fehlt. Eine wirkliche Veränderung könnte jedoch vor allem an personellen Ressourcen scheitern.

Katharina Desery: Natürlich, uns fehlen ja die Hebammen! Es steht halt ganz konkret in der Leitlinie: Wenn es wegen Personalmangel nicht anders geht, gibt’s natürlich ein CTG. Aber die Auskultation wäre eigentlich die bessere Wahl.

AMBOSS: Warum ist das so? Was wissen wir mittlerweile über das CTG?

Katharina Desery: Es bringt gegenüber dem intermittierenden Abhören der Herztöne keine Vorteile für Mutter und Kind. 

AMBOSS: Und was würden Sie Schwangeren entgegnen, die vielleicht sagen: “Also, ich hab’ meine ersten beiden Kinder so bekommen und mir käme das jetzt wie ein Rückschritt vor, wenn die Hebamme wieder zum Hörrohr greift. Ich will lieber eine kontinuierliche CTG-Überwachung”? 

Katharina Desery: Wir setzen uns ganz grundsätzlich für eine bessere Geburtshilfe ein. Das heißt, wir wollen, dass jede Familie ihr Kind so auf die Welt bringen kann, wie sie sich das wünscht und wie sie es braucht, und es ist nicht unsere Aufgabe, das zu bewerten. Wenn sich die Frau mit CTG-Überwachung sicherer fühlt, dann erwarte ich, dass eine Hebamme und der Arzt oder die Ärztin mit ihr darüber sprechen und nicht gegen ihren Willen ein CTG anlegen oder eben nicht anlegen. Die Eins-zu-Eins-Betreuung löst übrigens auch nicht alle Probleme. Wir bekommen leider auch Rückmeldungen von Frauen, die im Prinzip kontinuierlich betreut wurden – aber halt nicht gut! Eine Eins-zu-Eins-Betreuung nutzt gar nichts, wenn die Hebamme oder der Gynäkologe sagt: “Das ist mein Kreißsaal, hier bestimme ich.” 

AMBOSS: In der Leitlinie gibt es auch Empfehlungen, die Sie als Patientinnenorganisation so nicht mittragen wollten. Da ist zum einen das Thema Dammschnitt...

Katharina Desery: Ja, da haben wir, zusammen mit dem Arbeitskreis Frauengesundheit, ein Veto eingelegt. Die Leitlinie spricht sich gegen routinemäßige Episiotomien aus. Sollten sich Hebammen oder Gynäkolog:innen doch für einen Dammschnitt entscheiden, empfiehlt die Leitlinie eine bestimmte Schnittführung. Diese Empfehlung lehnen wir ab; uns fehlt der tatsächliche Nutzen für Mutter und Kind. Im Gegenteil: Ein Dammschnitt birgt aus unserer Sicht die Gefahr, die weibliche Klitoris zu verletzen, was die sexuelle Gesundheit der Frau über Jahre hinweg beeinträchtigen kann.

AMBOSS: Die Anatomie der Klitoris muss vielleicht auch noch in allen Köpfen ankommen… Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Abnabeln. Die Leitlinie empfiehlt, damit bis zu fünf Minuten zu warten – sagt aber auch ausdrücklich, die Entscheidung der Mutter, länger zu warten, solle respektiert werden. Was wäre Ihre Forderung gewesen?

Katharina Desery: Im Vergleich zu aktuell in manchen Kreißsälen festgelegten Standards, nach denen bereits sofort nach der Geburt oder innerhalb der ersten Minute abgenabelt wird, ist das schon eine sehr wichtige neue Empfehlung für Mutter und Kind. Aber es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass es auch für Kinder mit Schwierigkeiten nach der Geburt deutlich besser sein könnte, wenn mit dem Abnabeln länger abgewartet wird. Man kann Kinder sogar bei intakter Nabelschnur reanimieren. Die Evidenz ist noch nicht so weit, aber wir sind zuversichtlich, dass diese Empfehlung in Zukunft angepasst werden kann. 

AMBOSS: Auch zum Beckenbodenschutz erhoffen Sie sich baldige wissenschaftliche Erkenntnisse. Was ist hier das Problem?

Katharina Desery: Der Beckenboden scheint eins der letzten Tabuthemen zu sein. Dabei ist es aus Sicht der Betroffenen ein sehr drängendes! Im Zusammenhang mit Interventionen wie Kristellern oder angeleiteten Presswehen können teilweise massive Verletzungen entstehen. Deshalb muss dringend erforscht werden, welchen präventiven Einfluss Beckenbodentraining in der Schwangerschaft haben kann und auch welche Rolle Eingriffe wie Zange oder Saugglocke spielen.

AMBOSS: Wenn Sie sich eine ideale Geburtshilfe ausmalen könnten, was würden Sie sich vom Fachpersonal wünschen?

Katharina Desery: Ich würde mir wünschen, dass wir überall diese Haltung erreichen: Gebärende und Baby gehören als Einheit zusammen. Es geht nicht darum, das Kind irgendwie aus der Schwangeren herauszuholen. Leider ist heutzutage so ein Misstrauen gegenüber den Frauen zu spüren: “Die wollen das so, aber können die das überhaupt? Die sind doch alle zu alt, zu schwergewichtig, irgendwie selber Schuld…” Jede Frau bringt Ressourcen und Kompetenzen mit und es ist wichtig, diese anzuerkennen.

 

Katharina Desery ist Vorstand und Pressesprecherin der Bundeselterninitiative Mother Hood e.V. Neben der Arbeit an der S3-Leitlinie “Die vaginale Geburt am Termin” hat sich der Verein auch mit dem ”Hilfetelefon nach schwieriger Geburt” verdient gemacht, das er gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für Prä- und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM e.V.) betreibt.

 

Mehr aktuelles, leitliniengerechtes Wissen rund um die Geburt findet sich in den AMBOSS-Kapiteln Geburtsmechanik, Geburtseinleitung, Geburtsablauf, Kardiotokographie (CTG) und Operative Geburtshilfe.

Außerdem sprechen wir im aktuellen Podcast-Interview mit Prof. Dr. med. Michael Abou-Dakn, dem Koordinator der neuen S3-Leitlinie “Die vaginale Geburt am Termin” und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.

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