„Nur eine Chance”: Die Übergabe in Notfallsituationen

Philipp Winghart - Sonntag, 9.4.2023
Ärztliches Personal steht im Schockraum um eine Trage und verfolgt konzentriert eine Übergabe. Übergabe im Notfall im AMBOSS-Blog.

Ein Schlüsselmoment in der Behandlung kritisch kranker Menschen: die Übergabe von einem Team zum nächsten. Wie lassen sich Fehler vermeiden?

Es ist drei Uhr nachts, ein Rettungswagen fährt vor. Die Notärztin übergibt einen polytraumatisierten Patienten an die diensthabende Ärztin der Notaufnahme. Beide benutzen dafür das ISBAR-Übergabe-Konzept. Wofür das Akronym steht und wie eine geordnete Übergabe Leben retten kann, erklären Dr. Benjamin Junge und Dr. Jana Vesper vom Campus für Intensiv- und Notfallmedizin (CIN e.V.) im AMBOSS-Podcast.

Auf einen Blick

  1. Die Bedeutung der Übergabe
  2. Rahmenbedingungen für eine gelungene Übergabe
  3. Das ISBAR-Konzept
    1. Identification
    2. Situation
    3. Background
    4. Assessment
    5. Recommendation/Read-back
  4. Übergabe in der Notfallsituation – Fazit 
  5. Direkt zur Podcastfolge

Die Bedeutung der Übergabe

Kommunikationsprobleme gefährden die Patientensicherheit: Etwa elf Prozent eigentlich vermeidbarer Komplikationen mit Langzeitfolgen gehen auf Versäumnisse bei der Weitergabe von Informationen zurück1. „Oft gibt es für die Übergabe nur eine Chance – gerade wenn der Rettungsdienst auf die Notaufnahme trifft, muss alles an wichtigen Informationen ausgetauscht werden“, hebt Jana Vesper hervor. Damit keine Missverständnisse auftreten und keine relevanten Daten verloren gehen, sollte dieser Moment gut strukturiert sein. Das gilt insbesondere für Hochstresssituationen: „Bei der Übergabe kritisch kranker Patienten gehen wesentlich mehr Informationen verloren als bei der Übergabe stabiler Patienten“, so die Notfallmedizinerin.

Vesper hält den Übergabeprozess hierzulande für „durchwachsen“. Bereits im Jahr 2007 habe die WHO empfohlen, das ISBAR-Konzept als Merkhilfe für Übergaben zu verwenden. An der Umsetzung hapere es aber auch über 15 Jahre später noch, so Vesper: „Innerklinisch mahlen die Mühlen manchmal etwas langsamer.“ Notarzt Benjamin Junge sieht hinsichtlich strukturierter Übergaben auch in der medizinischen Ausbildung Nachholbedarf: „Ausbildung kostet Geld und Kapazitäten und das fehlt uns – dadurch wird niemand in dem Maße geschult, in dem wir uns das wünschen.“ Der Übergabeprozess bekomme nicht die Aufmerksamkeit, die er verdiene, findet auch Jana Vesper.

Rahmenbedingungen für eine gelungene Übergabe

In Notaufnahmen geht es oft hektisch zu. Für die Übergabesituation empfiehlt Benjamin Junge daher, zunächst eine ruhige Atmosphäre zu schaffen, beispielsweise das Radio auszuschalten. „Das Setting ist entscheidend“, so der Notarzt. Für Jana Vesper stellt die Übergabe zudem einen Prozess dar, den man nicht einfach über sich ergehen lassen, sondern aktiv gestalten sollte. 

Das kann beispielsweise so aussehen: Noch bevor der Rettungswagen vorfährt, bespricht das Notaufnahmeteam den erwarteten Ablauf und die Zuständigkeiten. Positionen im Raum werden verteilt, sodass alle Beteiligten genügend Platz zum Arbeiten haben. Sobald der Rettungswagen eintrifft, vergewissern sich beide Teams, ob alle Beteiligten anwesend sind. „Eine Übergabe findet immer im gesamten Team statt. Wenn man jemanden in die Notaufnahme oder auf die Intensivstation bringt und die zugehörige Pflegekraft benötigt noch zwei bis vier Minuten, bis sie im Raum ist, dann wird so lange gewartet“, sagt Junge. 

Die anschließende Übergabe sollte möglichst nach dem Hands-off-Prinzip erfolgen. „Man hört einfach nur mit voller Aufmerksamkeit zu“, so Vesper. Auch wenn es manchmal schwer zu ertragen sei – während der Übergabe gelte: kein Agieren, kein Verkabeln, kein Umlagern. Dadurch erhöhe sich nicht nur die eigene Aufnahmefähigkeit, auch das Gegenüber könne fokussierter und konzentrierter Informationen übermitteln. Das Prinzip gelte nur, wenn die Betroffenen stabil genug seien, eine geordnete Übergabe zu überleben. Ansonsten seien durch das Hands-off-Prinzip keine Verzögerungen zu erwarten. Im Gegenteil laufe der Übergabeprozess meist „schneller und geschmeidiger“ ab.

Das ISBAR-Konzept

In Luft- und Raumfahrt sind Übergabekonzepte längst etabliert. Auch im medizinischen Sektor können solche Standards nachgewiesenermaßen die Patientensicherheit verbessern2 und die Anzahl unerwarteter Todesfälle signifikant senken3. Neben der WHO empfiehlt daher auch die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) das ISBAR-Konzept für Übergaben. Es unterteilt relevante Informationen in fünf Untergruppen: Identification, Situation, Background, Assessment, Recommendation. Vesper und Junge ergänzen diese Punkte im AMBOSS-Podcast noch um ein Read-back.

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Identification

Zunächst stellen sich die übergebende und die aufnehmende Person gegenseitig mit Namen und Position vor, dann wird die betroffene Person mit Namen und Alter vorgestellt. Hier kann auch eine erste Verdachtsdiagnose genannt werden.

Situation

Der Punkt „Situation“ deckt die Notfallanamnese ab: Notfallsituation, Leitsymptom nach OPQRST-Schema, Begleitsymptome oder beispielsweise der Unfallmechanismus sind hier zu nennen. 

Background

„Background“ widmet sich der Patientenanamnese: Neben Allergien sind unter diesem Punkt die Vormedikation, etwaige Vorerkrankungen sowie die Wohn- und Pflegesituation zu erwähnen. Auch Informationen zu Bevollmächtigten und Patientenverfügungen fallen unter „Background“.

Assessment

Unter „Assessment“ wird zunächst eine Verdachtsdiagnose geäußert. Anhand des xABCDE-Schemas folgen daraufhin etwaige lebensbedrohliche Störungen der Vitalfunktionen. Relevante Befunde, beispielsweise das Notfall-EKG, finden unter „Assessment“ ebenso Erwähnung wie die bereits erfolgte Therapie.

Recommendation/Read-back

Zum Ende der Übergabe kann die übergebende Person Handlungsempfehlungen aussprechen und wichtige Informationen über Angehörige übermitteln, beispielsweise Kontaktdaten. Vesper und Junge haben sich zudem angewöhnt, das eigene Team zu fragen: „Habe ich etwas vergessen?“ Gerade in Hochstresssituationen fielen so häufig Informationen auf, die zuvor noch nicht angesprochen worden seien.

Unter dem Punkt R führen Vesper und Junge außerdem ein Read-back durch: Dabei wiederholt die aufnehmende Person nach erfolgter Übergabe nochmals alle relevanten Fakten – ebenfalls nach dem ISBAR-Konzept. Diese letzte Sicherheitsschleife decke nicht selten noch weitere Informationsverluste auf. Der Blutzucker beispielsweise finde nicht selten erst im Read-back Beachtung.

Übergabe in der Notfallsituation – Fazit 

Beide Podcast-Gäste schätzen die Relevanz des ISBAR-Konzepts als außerordentlich hoch ein. „Das ist mein Handwerkszeug wie das Stethoskop. Ich mache keine Übergabe, ohne dieses Konzept zu nutzen“, resümiert Benjamin Junge. Seine Kollegin Jana Vesper betont erneut die Bedeutung der Übergabe für die Patientensicherheit: „Es ist wichtig, dass keine Missverständnisse auftreten und nichts vergessen wird.“ Gerade weil man dafür nur eine Chance habe, seien mentale Modelle wie das ISBAR-Konzept so wichtig.

Die Podcastfolge „Die Übergabe: Im Notfall nichts vergessen“

Im AMBOSS-Podcast sprechen wir über die Rolle der Übergabe für die Patientensicherheit und wie das ISBAR-Konzept dabei helfen kann, Informationsverluste und daraus resultierende Komplikationen zu vermeiden.

Kostenfrei hören auf:

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Dr. Benjamin Junge ist Facharzt für Anästhesiologie, Notfallmediziner und Notarzt. Dr. Jana Vesper ist Fachärztin für Innere Medizin, ebenfalls Notfallmedizinerin und arbeitet als Oberärztin in einer Hamburger Notaufnahme. Beide dozieren am Campus für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. 

 

Quellen

  1. Zinn C, 14,000 preventable deaths in Australian hospitals, 1995, BMJ 310(6993):1487. https://doi.org/10.1136/bmj.310.6993.1487.
  2. K. Nagpal et al., “Information Transfer and Communication in Surgery,” Annals of Surgery, vol. 252, no. 2, pp. 225–239, Aug. 2010, doi: 10.1097/SLA.0b013e3181e495c2.
  3. K. de Meester, M. Verspuy, K. Monsieurs et al., “SBAR improves nurse-physician communication and reduces unexpected death: A pre and post intervention study,” Resuscitation, vol. 84, no. 9, pp. 1192–1196, Sep. 2013, doi: 10.1016.