„Die Droge Arzt“: Mit Balint-Gruppen die eigene Wirkung reflektieren

Britta Verlinden - Freitag, 12.8.2022
Eine Gruppe aus sieben unterschiedlich alten Personen sitzt in einem Stuhlkreis und hört einem Redner zu. Balint-Gruppen im AMBOSS-Blog.

Wie patientenbezogene Selbstreflexion vor Burnout schützt, was das mit narrativer Medizin zu tun hat und warum immer mehr Kliniken die Kosten übernehmen, erklärt der Vorsitzende der Deutschen Balint-Gesellschaft, PD Dr. med. Dr. phil. Guido Flatten.

Auf einen Blick

  1. Wie läuft ein Balint-Gruppentreffen ab?
  2. Balint-Gruppenarbeit und narrative Medizin
  3. Geschützter Rahmen für Selbsterfahrungen
  4. Positive Effekte regelmäßiger Balint-Gruppenarbeit
  5. Balint-Gruppen in Deutschland – Angebot und Ausbildung
  6. Regelmäßige Balint-Gruppenteilnahme – Aufwand und Kosten
  7. Ist Balint-Gruppenarbeit etwas für mich?

AMBOSS: Fast alle Ärzt:innen haben schon von Balint-Gruppen gehört, selbst wenn sie noch nie daran teilgenommen haben. Sie gehen auf den Psychiater Michael Balint zurück, der 1896 in Budapest zur Welt kam. Wie kam er dazu, die Balint-Gruppenarbeit zu entwickeln?

PD Dr. med. Dr. phil. Guido Flatten: Michael Balint hat sich in Budapest und Berlin zum Psychiater und Psychoanalytiker ausbilden lassen. Zuvor hat er als Sohn eines Hausarztes schon früh die hausärztliche Medizin seiner Zeit miterleben können. Daraus ist sein zentrales Anliegen erwachsen: Wie lassen sich die Erkenntnisse aus der psychoanalytischen Forschung und das psychodynamische Wissen über unsere seelische Entwicklung und ihre Komplikationen auch für die somatische Medizin nutzbar machen? Was ist eigentlich wirksam, wenn wir Patient:innen behandeln? Ist das die Operation, die wir durchführen? Sind es die Medikamente, die wir gezielt oder manchmal auch aus Ratlosigkeit verschreiben? Oder gibt es auch so etwas wie die „Droge Arzt“? Sind wir durch unsere Person und durch die Interaktion, die wir gestalten, wirksam? Das war die zentrale Frage, die Balint früh bewegt hat. Die Entwicklung der später nach ihm benannten Gruppenarbeit zur Reflexion und Untersuchung der Arzt-Patient-Beziehung war seine Antwort: eine Methode, mit der wir uns dieser Frage mit jeder Patientengeschichte neu annähern können.

Grundprinzipien sowie mögliche Schwierigkeiten und Fehlerquellen der Kommunikation in der Arzt-Patient-Beziehung finden sich im dazugehörigen AMBOSS-Kapitel.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

Wie läuft ein Balint-Gruppentreffen ab?

AMBOSS: Wie sieht diese Methode heute praktisch aus?

Flatten: Die Balint-Arbeit ist weltweit verbreitet. Es gibt eine Internationale Balint-Gesellschaft mit 24 nationalen Mitgliedsgesellschaften, und der formale Ablauf der Gruppenarbeit ist überall gleich. Die Gruppe trifft sich in einem definierten Setting, das sind normalerweise acht bis zwölf teilnehmende Ärzt:innen und eine ausgebildete ärztliche Gruppenleitung. Eine Sitzung dauert 90 Minuten. Balint selbst hat wohl meist mit der Frage begonnen: „Who has a case?“, also „Wer hat einen Fall?“. In den Gruppen, die ich leite, darf daraufhin auch gerne zunächst mal Schweigen einsetzen. Denn jetzt geht es darum, innerlich Kontakt zu sich aufzunehmen und sich zu fragen: Welche Begegnung schleppe ich mit mir herum? Warum begleitet mich dieser Mensch, obwohl er vielleicht schon seit Monaten nicht mehr in der Praxis war? Manchmal sind Patient:innen schon vor Jahren verstorben, aber ein:e Kolleg:in sagt: „Ich muss immer wieder an diesen Fall zurückdenken.“ Die nachfolgende Fallvorstellung dauert dann meist nur fünf bis sieben Minuten.

AMBOSS: Was muss ich dafür vorbereiten?

Flatten: Nichts! Der Bericht über die Patient:innen und die gemeinsame Geschichte soll spontan aus der Erinnerung heraus erfolgen. Es geht nicht darum, die Karteikarte aus der Praxis mitzubringen. Wenn wir frei sprechen, erzählen wir eine Geschichte. Dabei verlieren wir häufig ein bisschen die Kontrolle darüber, was wir sagen und wie wir es sagen. Das ist das Schöne und Hilfreiche für die Balint-Gruppenarbeit: In der Art und Weise, wie ein Fall vorgestellt wird, setzt sich ein Teil der Falldynamik bereits in Szene – für die vorstellende Person selbst zunächst noch unbewusst. Ich erlaube im Anschluss an den Spontanbericht meist noch ein paar sachliche Rückfragen aus der Gruppe; aber wenn die Fragen zu sehr in eine emotionale Richtung gehen, breche ich das ab, weil das der Fokus der nachfolgenden Gruppenarbeit ist. Wer den Fall vorgestellt hat, bekommt dann die Erlaubnis, mit dem Stuhl etwas zurückzurücken, um dem Gruppenprozess zuzuhören. Die anderen Gruppenmitglieder tauschen nun ihre Beobachtungen, Fantasien, Gefühle und Wahrnehmungen miteinander aus.

AMBOSS: Was bringt mir das als Fallvorsteller:in?

Flatten: Stellen wir uns vor, in der Mitte der Gruppe gäbe es eine Skulptur. Wenn wir zu zwölft im Kreis sitzen, schaut ja jede:r aus einem anderen Blickwinkel darauf. Wir alle können mit unseren Worten nur den Ausschnitt sichtbar machen, der aus unserer Perspektive erkennbar ist. Nach vielen Rückmeldungen einzelner Gruppenmitglieder ergibt sich aber ein neuer, multiperspektivischer Blick. Und das ist es, was die Gruppe den Fallvorstellenden bieten kann: erweiterte Einsichten und neue Perspektiven zur Dynamik der vorgestellten Arzt-Patient-Beziehung. Und als Referent:in haben Sie zum Schluss die Freiheit, für sich zu entscheiden: Was kann und will ich von dem neuen Wissen mitnehmen? Diese Gruppenarbeit ist wie ein bunter Strauß, in den die Gruppenmitglieder durch ihre Beiträge immer wieder eine neue Blume stecken – und Sie dürfen als Fallvorsteller:in entscheiden, welche der Blumen für Sie passend und hilfreich sind. Deshalb haben Sie auch immer das Schlusswort.

Balint-Gruppenarbeit und narrative Medizin

AMBOSS: Sie sagten, beim freien Bericht über ein Fallbeispiel wird eine Geschichte erzählt. Ist das schon narrative Medizin?

Flatten: Es wäre verführerisch, jetzt „Ja“ zu sagen. Aber das stimmt nicht. Denn Medizin findet mit den Patient:innen statt, und in der Gruppe sitzen ja nur Kolleg:innen, die sich mit ihren Narrativen austauschen. Ein Narrativ können wir vielleicht als sinnstiftende Erzählung oder Geschichte definieren. Indem wir eine ausgewählte Fallgeschichte vorstellen, bemühen wir uns subjektiv bereits um eine sinnhafte Kontextualisierung dieser Begegnung. In der narrativen Medizin gehen wir jedoch davon aus, dass eine Behandlung hilfreich ist, wenn es Ärzt:innen und Patient:innen gelingt, ein gemeinsames Narrativ über die Beschwerdeentwicklung und die Möglichkeiten zur Gesundung zu entwickeln. Ich hätte also sofort zugestimmt, wenn Sie gefragt hätten, ob die Arbeit in Balint-Gruppen einen wichtigen Beitrag zur narrativen Medizin leisten kann.

AMBOSS: Warum?

Flatten: Wir bekommen mit jedem Fallbericht exemplarisch eine Vorstellung davon, dass und wie Patient:innen ihre Geschichte erzählen. In der somatischen Medizin gehen wir an die Beschwerden unserer Patient:innen in der Regel analytisch heran. Wir versuchen, wenn es geht, Kausalketten herzustellen: Mit welchen klinischen oder laborchemischen Parametern lassen sich welche Beschwerden erklären? Aber nur ein kleiner Teil der so vorgetragenen Beschwerdeklagen in Praxis und Klinik lässt sich allein über diesen analytischen Weg verstehen. In der psychosomatischen Medizin sagen wir: Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ist ein wichtiger Teil der Beschwerdeentwicklung von Patient:innen durch ihre Lebensgeschichte verstehbar – und dann auch erklärbar. Das bedeutet aber, dass wir lernen müssen zuzuhören und dass Patient:innen diese Geschichte auch erzählen dürfen. Die Idee von Michael Balint war: Wie können wir die Methoden der narrativen Medizin – auch wenn der Begriff damals so noch nicht existierte – mehr und mehr in die somatische Medizin hineinbringen? Dass wir diese Herangehensweise als Psychosomatiker:innen und Psychotherapeut:innen verinnerlicht haben, hat mit unserer Ausbildung und der langjährigen Entwicklung in der Arbeit mit Patient:innen zu tun. Aber wie können wir diese Form von Medizin auch für Allgemeinärzt:innen und Internist:innen, für Urolog:innen und Gynäkolog:innen, für Orthopäd:innen und Dermatolog:innen verstehbar und erlebbar machen – um nur einige Fachgebiete beispielhaft zu benennen? Die Balint-Gruppenarbeit ist ein wichtiges Werkzeug dafür.

AMBOSS: In unserem Podcast haben wir mit dem Gründungsteam des Asystole Essay Preises gesprochen. Auch die Internationale Balint-Gesellschaft vergibt einen Essay-Preis. Inwiefern kann das Schreiben beim Balint-Prozess eine Rolle spielen?

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Flatten: Unser Essay-Preis möchte Studierende schon während ihrer Ausbildung auf diese Form der Medizin und die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung aufmerksam machen. Da ist Schreiben eine Form der Reflexion, die wir mit dem internationalen Balint-Preis weltweit anzustoßen versuchen. Für die Balint-Gruppenarbeit selbst gilt allerdings: Damit die volle Aufmerksamkeit für die Interaktion der Gruppe da ist, dürfen während der Sitzung keine Aufzeichnungen gemacht werden.

Das Gewinner-Essay des Asystole Essay Preises 2022 „Aufgeklärt oder abgesichert“ von Dr. Jill Kaltenborn und weitere ausgewählte Asystole Essays sind hier auf unserem Blog zu lesen.

Geschützter Rahmen für Selbsterfahrungen

AMBOSS: Unterliegen die sensiblen Inhalte dem Datenschutz?

Flatten: Ja, das ist eine ganz wichtige Grundregel: Nichts, was in den Gruppen besprochen wird, darf nach außen getragen werden. Das ist eine zentrale Voraussetzung für das notwendige Sicherheitsempfinden der Kolleg:innen in einer solchen Gruppenarbeit. Balint-Gruppenarbeit kann auch als „patientenbezogene Selbsterfahrung“ bezeichnet werden. Es ist nicht möglich, über Patient:innen zu sprechen, ohne sich dabei selbst in die Geschichte mit einzubringen. Es sollen ja Arzt-Patient-Begegnungen vorgestellt werden. Das heißt, der Arzt oder die Ärztin ist immer ein Teil der Begegnung. Und die Aufgabe der Balint-Gruppe ist, diesen durchaus auch frech zu reflektieren. Selbstverständlich bringen wir alle aus unserer persönlichen Familien- und Entwicklungsgeschichte unsere Besonderheiten mit, manchmal auch „Behinderungen“ auf einer Beziehungsebene, die dabei sichtbar werden können. Eine solche Selbsterfahrung muss geschützt stattfinden. Wenn Kolleg:innen mitbekämen, dass in einem solchen Kreis keine Verschwiegenheit herrscht, würden sie vermutlich nie wieder einen Fall mit der Gruppe teilen.

AMBOSS: Die Vorstellenden machen sich ja auch verletzlich, vielleicht fließen sogar mal Tränen?

Flatten: Ja, durchaus. Selbsterfahrung können wir alle nur in einer angemessenen Dosis aushalten. Wenn wir in den ersten Sitzungen mit Anteilen von uns konfrontiert werden, die wir noch nicht kennen oder die wir nicht so gerne sehen möchten, dann kann das sehr aversiv sein. Deshalb ist eine der wichtigsten Aufgaben der Gruppenleitung, den Referenten oder die Referentin zu schützen und darauf zu achten, dass das ihnen zur Verfügung gestellte Feedback in der richtigen Dosierung und mit den richtigen Worten erfolgt.

Positive Effekte regelmäßiger Balint-Gruppenarbeit

AMBOSS: Stimmt die Dosis des Feedbacks, kann die Balint-Gruppenarbeit positive Effekte zeigen: So kam eine randomisiert-kontrollierte Studie aus China1 kürzlich zu dem Schluss, dass die regelmäßige Teilnahme an Balint-Gruppen „eine wirksame und praktikable Methode zur Prävention von Burnout bei Assistenzärzt:innen“ sein kann. Welche Belege für die Wirksamkeit der Balint-Methode gibt es für den deutschsprachigen Raum?

Flatten: Den Aspekt der Burnoutprävention haben wir in Deutschland nicht spezifisch untersucht, aber ich kenne die Kolleg:innen, die das in China mit angeregt haben. Hierzulande haben wir vor etwa zehn Jahren mehr als 350 Balint-Gruppen mit über 1650 Teilnehmenden untersucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass einer der zentralen Wirkfaktoren der Balint-Gruppenarbeit – neben dem besseren Verständnis der Übertragungsdynamiken in der Arzt-Patient-Beziehung – als emotionales und kognitives Lernen bezeichnet werden kann; da gibt es durchaus einen Link zur Burnout-Prävention.

AMBOSS: Inwiefern?

Flatten: In allen Fachbüchern zum Thema Burnout finden wir, dass es vor allem nicht verarbeitete Gefühle und nicht verdaute Erfahrungen sind, die Menschen dazu bringen, noch mehr zu arbeiten, um so sich und anderen zu zeigen, dass sie funktionieren und genügend Kontrolle haben. Ich bin überzeugt, dass es keine andere Reflexionsmethode in der Medizin gibt, die so sehr die emotionale Ebene des ärztlichen Berufes in den Fokus nimmt und hilft, Zusammenhänge und Entwicklungen verstehbar zu machen. Sie werden kaum eine Gruppe finden, in der Referent:innen nicht am Ende der Sitzung sagen: „Ich fühle mich jetzt bezüglich dieser Patientengeschichte entlastet.“ Diese Rückmeldung zum eigenen Erleben und möglichen Veränderungen ist wichtig. So gehört es in einer kontinuierlichen Balint-Gruppe auch zur Regel, zu Beginn der nächsten Sitzung (beispielsweise nach einem Monat) zu fragen, wie es mit der vorgestellten Arzt-Patient-Begegnung weitergegangen ist. Häufige Rückmeldungen sind dann: „Das hat sich viel positiver entwickelt, als ich mir das je hätte vorstellen können.“ Oder: „Es hat sich angefühlt, als wäre die Patientin bei unserer Gruppensitzung dabei gewesen und hätte mitgehört, was wir uns erarbeitet haben.“ Dem ist natürlich nicht so. Hierin spiegelt sich aber der Zugewinn neuer Perspektiven. Und wenn wir uns dadurch verändern und entwickeln, verläuft auch unser nächster Kontakt zu den Patient:innen anders. Bei Fallgeschichten, die schon länger zurückliegen und wo es gar keinen aktuellen Kontakt mehr gibt, kommt häufig die Rückmeldung, dass sich im eigenen Fühlen zum vorgestellten Fall eine deutliche Veränderung eingestellt hat.

AMBOSS: Gibt es denn wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, welchen Effekt die Balint-Gruppenarbeit auf Patient:innen hat?

Flatten: Es gibt in der Literatur eine ganze Reihe von publizierten Fallgeschichten und den Veränderungsprozessen durch die Balint-Gruppenarbeit, die aber natürlich keine statistische Relevanz haben. Aber es gibt eine schöne Untersuchung eines Kölner Kollegen aus dem Jahr 1999. Im Rahmen der Studie2 hat er Kolleg:innen, die regelmäßig an Balint-Gruppen teilgenommen haben, in ihrer Praxis und ihrem Interaktionsverhalten mit Patient:innen beobachtet. Eines der zentralen Ergebnisse war: Wer schon länger Balint-Gruppenarbeit macht, spricht weniger – und hört mehr zu. Patient:innen bekommen mehr Zeit, ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Beschwerden zu erzählen.

Balint-Gruppen in Deutschland – Angebot und Ausbildung

AMBOSS: Wie wird Ihr Angebot ärztlicherseits denn angenommen?

Flatten: Wir befinden uns in einer stetigen positiven Entwicklung. Zum einen ist Deutschland – und darauf sind wir sehr stolz – weltweit das einzige Land, in dem die Balint-Gruppenarbeit für die Ausbildung in bestimmten medizinischen Fächern verpflichtend ist. Zudem haben wir als Deutsche Balint-Gesellschaft in den letzten 45 Jahren etwa 700 Gruppenleiter:innen ausgebildet. Davon sind zwischen 400 und 500 heute noch aktiv. Und wir sind recht rege in unserer Ausbildungstätigkeit, sodass jedes Jahr neue Gruppenleiter:innen dazu kommen. Ein wichtiges Ziel für die Zukunft darf aber auch hier benannt werden: Die Kenntnisse und Skills der Psychosomatischen Grundversorgung und der mit ihr verbundenen Balint-Gruppenarbeit sollten aus unserer Sicht allen Ärzt:innen, unabhängig von ihrer späteren fachlichen Differenzierung, zur Verfügung gestellt werden.

AMBOSS: Wie lange dauert die Ausbildung zur Balint-Gruppenleitung?

Flatten: Die Ausbildung selbst dauert in Deutschland gar nicht so lange. Aber die Eingangskriterien sind bei uns höher als irgendwo sonst auf der Welt. Wer Gruppen leiten möchte, muss eine psychotherapeutische Ausbildung abgeschlossen haben, also entweder Facharzt bzw. Fachärztin für Psychosomatik oder Psychiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie sein oder zumindest die Zusatzbezeichnung Psychotherapeut:in erworben und bereits mit Gruppen gearbeitet haben. Danach müssen zukünftige Balint-Gruppenleiter:innen mindestens drei Jahre in diesem Bereich gearbeitet und mindestens weitere 70 Doppelstunden Erfahrung als Balint-Gruppenmitglied gesammelt haben. Wenn Sie diese Voraussetzungen erfüllen, sind es nur noch sechs Wochenendkurse über insgesamt 30 Doppelstunden Leitungsseminare – das ist wirklich nicht viel. Als Maßnahme der Qualitätssicherung empfehlen wir, den eigenen Leitungsstil in Supervisionsgruppen immer wieder selbst zu reflektieren.

Regelmäßige Balint-Gruppenteilnahme – Aufwand und Kosten

AMBOSS: Sie haben vorhin den Begriff „kontinuierliche Balint-Gruppe“ benutzt. Ist das eine Gruppe, die sich – unabhängig von Fort- und Weiterbildung – regelmäßig trifft?

Flatten: Ja, eine kontinuierliche Gruppe trifft sich im Normalfall einmal im Monat abends für eine oder zwei Doppelstunden. Ich leite in Aachen zwei solcher Gruppen, die seit über 20 Jahren existieren. Immer zum Jahresanfang und zur Jahresmitte können Teilnehmende bei mir ein- oder aussteigen. Dieses halboffene Gruppensetting gibt der Balint-Gruppe zumindest für den Zeitraum eines halben Jahres eine Konstanz, die sehr hilfreich ist, um einen vertrauensvollen Umgang der Gruppenmitglieder untereinander aufbauen zu können. 

AMBOSS: Mit welchen Kosten muss ich rechnen, wenn ich mich nun einer Balint-Gruppe anschließe? Muss ich die Teilnahme überhaupt selbst finanzieren?

Flatten: Die Preise sind je nach Anbieter unterschiedlich. Ich würde sagen, durchschnittlich dürften aktuell im Jahr 2022 die meisten Angebote für einen Abend mit zwei Balint-Gruppensitzungen zwischen 70 und 90 Euro liegen. Früher haben die Teilnehmenden für ihre Weiterbildung grundsätzlich selbst bezahlen müssen. Aber seit es weniger Ärzt:innen als Bedarf gibt, übernehmen die Arbeitgeber immer häufiger die Kosten. 

AMBOSS: Das heißt umgekehrt also auch, dass man Kliniken, die die Kosten bisher nicht übernehmen, auch darauf ansprechen könnte.

Flatten: Unbedingt! Viele Arbeitgeber sind bereit, sich solche Zusatzkosten zu leisten – Hauptsache, der Arzt oder die Ärztin bleibt ihnen erhalten.

Ist Balint-Gruppenarbeit etwas für mich?

AMBOSS: Gibt es Balint auch online?

Flatten: In Deutschland haben Online-Balint-Gruppen bis zum Beginn der Pandemie keine Rolle gespielt. Das war in Ländern mit großen räumlichen Distanzen – z.B. Australien oder der USA – und geringeren Angeboten an Balint-Gruppen schon seit einigen Jahren anders. Aber auch wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren viel dazu gelernt. Im letzten Jahr haben wir zudem Präsenz- und Online-Gruppen in einer Studie verglichen. Dabei hatten wir erwartet, dass es ein riesiges Gefälle in der Bewertung geben würde. Doch tatsächlich wurden auch Online-Balint-Gruppen überraschend gut bewertet. Es fällt aber auf: Je älter die befragten Kolleg:innen waren und je mehr Berufs- und Balint-Gruppenerfahrung sie hatten, desto positiver bewerteten sie die Prozesse und Erfahrungen in Präsenzgruppen. Umgekehrt fand sich: Je jünger und weniger erfahren die Teilnehmenden waren, desto positiver bewerteten sie das Online-Angebot. Aufgrund der positiven Erfahrungen und auch aufgrund der sich rasch verändernden Lernwelten haben wir jetzt beschlossen, dass Online-Balint-Gruppen auch in Zukunft – also auch nach der Pandemie – weiter anerkannt werden sollen. Es gibt inzwischen bundesweit eine Reihe von Balint-Gruppen, die sich in Präsenz, beispielsweise auf einer Tagung, gefunden und dann entschieden haben, die gemeinsame Gruppenarbeit online weiterzuführen. Ist die Balint-Gruppenarbeit allerdings Teil der Weiterbildung, also geht es darum, einen Facharzttitel oder die Zusatzbezeichnung der Psychosomatischen Grundversorgung zu erreichen, dann müssen mindestens 50% der Stunden in Präsenz-Balint-Gruppen absolviert werden.

AMBOSS: Was würden Sie Ärzt:innen raten, die sich nicht sicher sind, ob die Balint-Gruppenarbeit ihnen zusagen würde?

Flatten: Das ist wie beim Essen: Um sagen zu können, ob es einem schmeckt, muss man probieren! Es ist sicherlich herausfordernd, dass sich gerade junge Kolleg:innen in Weiterbildung oft gleichzeitig in einer Phase befinden, in der sie eine Familie gründen oder vielleicht noch ein Haus bauen wollen. Da ist es extrem schwierig, die zusätzliche Zeit und die Ressourcen frei zu machen, um in die Balint-Gruppenarbeit hineinzuschnuppern. Aber wenn das irgendwie möglich ist, dann kann die Teilnahme an Balint-Gruppen für die Gestaltung der zukünftigen ärztlichen Tätigkeit sehr wertvoll werden: eine Bereicherung für die Qualität der ärztlichen Arbeit und eine emotionale Entlastung bezüglich der vielen Erlebnisse, die wir aus unserer ärztlichen Tätigkeit häufig mit uns herumtragen – und die, gut verarbeitet und verstanden, wieder in unsere Arbeit mit unseren Patient:innen einfließen können.

 

PD Dr. med. Dr. phil. Guido Flatten ist mit über 20 Jahren Erfahrung als Balint-Gruppenleiter erster Vorsitzender der Deutschen Balint-Gesellschaft (DBG) und Vice President der International Balint Federation (IBF). Außerdem ist er seit 2004 niedergelassener Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und Leiter des Euregio-Institutes für Psychosomatik und Psychotraumatologie in Aachen.

 

Zum Weiterlesen

Flatten G, Möller H, Aden J, Tschuschke V. Balintgruppen-Fragebogen. Psychotherapeut. 2017;62(5):450-461. doi:10.1007/s00278-017-0182-z.   

Flatten G, Möller H, Aden J, Tschuschke V. Die Arzt-Patient-Beziehung gestalten. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 2017;63(3):267-279. doi:10.13109/zptm.2017.63.3.267. 

Tschuschke V, Flatten G. Wie wirken Balintgruppen?*. Balint Journal. 2017;18(04):105-109. doi:10.1055/s-0043-121743. 

Flatten G, Möller H, Tschuschke V. Wie wirksam sind Balintgruppen-Leiter? Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 2019;65(1):4-13. doi:10.13109/zptm.2019.65.1.4. 

Quellen

1. Huang L, Harsh J, Cui H, et al. A Randomized Controlled Trial of Balint Groups to Prevent Burnout Among Residents in China. Front Psychiatry. 2020;10:957. Published 2020 Feb 11. doi:10.3389/fpsyt.2019.00957.

2. Hanna, K., & Köhle, K. (1999). Ein multiaxiales Kategoriensystem (Mak) zur Evaluation einer Balint-Gruppe: Kommunikationsanalytische Studie ärztlichen Gesprächsverhaltens (Klinische Psycholinguistik). (G. Overbeck, Ed.). VAS-Verlag für Akademische Schriften.