Schwindel: „Kein Schicksal, sondern ein behandelbares Symptom“
Lift, Schiff, Karussell – die oft komplexen Schwindelsymptome bringen fast jede Fachdisziplin gelegentlich ins Wanken. Wie sich inmitten der Differenzialdiagnosen fester Stand finden lässt, erklärt Prof. Andreas Zwergal, Leiter des Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrums, im AMBOSS-Podcast.
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Auf einen Blick
- Gleichgewicht und Schwindel
- Ursachen für Schwindel
- ACHT: Anamnestische Red Flags für gefährliche Schwindelursachen
- HINTS: Klinische Red Flags für gefährliche Schwindelursachen
- Bildgebung bei Schwindel
- Versorgungskontext und Schwindeldauer
- Psychogener Schwindel
- Multimodaler Altersschwindel
- Spezialisierte Zentren zur Schwindelabklärung
- Direkt zur Podcastfolge
Gleichgewicht und Schwindel
Unser Gleichgewicht beruht auf drei Säulen: dem Gleichgewichtsorgan, der Sehwahrnehmung und der Propriozeption. Schwindel als Störung des räumlichen Empfindens geht häufig mit einem unsicheren Gleichgewicht und einer Fallneigung einher. “Mit einer Lebenszeitprävalenz von 30 % ist Schwindel eines der häufigsten Symptome in der Medizin überhaupt”, so Andreas Zwergal im AMBOSS-Podcast, “es gibt keine Disziplin, die nichts mit Schwindel zu tun hat. Deswegen ist es extrem wichtig, dass wir uns mit der Einordnung von Schwindel beschäftigen und uns gut mit den wesentlichen Schwindelursachen auskennen.”
Ursachen für Schwindel
Laut Neurologe Zwergal sollten Behandelnde zunächst zwischen vestibulären und nicht-vestibulären Störungen unterscheiden. Liegt die Schwindelursache im Bereich des Gleichgewichtsorgans, des vestibulären Anteils des VIII. Hirnnervs oder der zentralen Verarbeitung im Hirnstamm beziehungsweise im Kleinhirn, so spricht man von vestibulären Störungen. Zu den nicht-vestibulären Störungen zählen unter anderem internistische Ursachen wie Blutdruck- oder Blutzuckerschwankungen sowie Herzrhythmus- und Elektrolytstörungen. Auch psychosomatische Schwindelformen gewinnen zunehmend an Bedeutung.
Eine übersichtliche Einteilung möglicher Schwindelursachen sowie zahlreiche Beispielvideos zu Nystagmus und Co. bietet das AMBOSS-Kapitel Schwindel. |
ACHT: Anamnestische Red Flags für gefährliche Schwindelursachen
“Die Wahrscheinlichkeit für Schlaganfälle beim Leitsymptom Schwindel liegt zwischen vier und zehn Prozent”, so der Leiter des Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrums. Bei Schwindelpatient:innen gilt es daher, rasch etwaige zentral-vestibuläre und damit gefährliche Ursachen zu erkennen. Den ersten und wichtigsten Schritt stellt dabei die Anamnese dar. Zwergal empfiehlt, die Red Flags anhand des Akronyms ACHT abzufragen:
Ein Alter (Age) über 60 Jahre stellt ebenso einen Risikofaktor für eine zentrale Läsion dar wie folgende klinische Zeichen (Clinical Signs): Paresen, Gefühls- und Koordinationsstörungen, Doppelbilder sowie begleitende Kopfschmerzen. Auch die Vorgeschichte (History) kann Hinweise auf eine zentral-vestibuläre Ursache geben, beispielsweise wenn der Schwindel zum ersten Mal auftritt. Fehlt zudem ein Auslöser (Trigger), erhärtet sich der Verdacht. Das gilt insbesondere, wenn der Schwindel perakut auftritt, “wie ein Blitz, ohne dass irgendwelche Körperdrehungen oder andere Provokationsfaktoren vorausgingen”, so Zwergal.
HINTS: Klinische Red Flags für gefährliche Schwindelursachen
In der klinischen Untersuchung rät Zwergal, zunächst auf die Augen zu achten: “Bei einem Spontannystagmus ist relativ schnell klar, dass eine vestibuläre Ursache dahinter liegt.” Um dann zwischen den peripher-vestibulären und zentral-vestibulären Ursachen zu unterscheiden, empfiehlt der Neurologe das HINTS-Protokoll: Fällt der Kopfimpulstest (Head Impulse) normal aus, spricht das für eine zentrale Läsion und damit für akute Gefahr. Auch ein Nystagmus, der seine Schlagrichtung abhängig von der Blickrichtung der betroffenen Person ändert, stellt eine Red Flag dar. Im Gegensatz dazu ändert ein peripher-vestibulärer Nystagmus laut Zwergal seine Richtung nie, “egal in welche Blickrichtung der Patient schaut”. Zeigt sich im Test of Skew zudem spontan oder nach Abdecktest eine vertikale Schielstellung, so sind alle Kriterien des HINTS-Protokolls erfüllt und eine zentral-vestibuläre Störung ist wahrscheinlich.
Das HINTS-Protokoll und Beispielvideos zu Kopfimpulstest, Blickrichtungsnystagmus und Test of Skew finden sich in der AMBOSS-SOP Schwindel. |
Bildgebung bei Schwindel
Ist eine Bildgebung notwendig oder nicht? Diese Frage stellt sich häufig in der Notaufnahme. Zwergal macht die Entscheidung darüber von den Red Flags abhängig: Wenn ein Patient aufgrund anamnestischer Befunde oder eines pathologischen HINTS-Tests zentrale Verdachtsmomente hat, sollte auf jeden Fall eine Bildgebung erfolgen.
Die Frage nach der passenden Untersuchungsmethode ist laut Zwergal ebenfalls oft mit Unsicherheiten verbunden: “Es wird leider ein bisschen zu viel Bildgebung gemacht und im Zweifel auch mal die falsche”. Eine native Computertomografie (CT) könne zwar Blutungen ausschließen, biete darüber hinaus aber kaum diagnostischen Mehrwert. Eine CT-Angiografie deckt hingegen mögliche Gefäßverschlüsse auf. Wer eine Perfusions-CT ergänzt, kann zudem zerebrale Minderdurchblutungen erkennen. So lässt sich abschätzen, ob eine Lyse sinnvoll ist und welche Hirnregionen sie gegebenenfalls retten könnte.
Auch zum Stellenwert der Magnetresonanztomografie (MRT) äußert sich Zwergal: “Ein unauffälliges MRT in der Akutphase schließt eine zentrale Ursache nicht sicher aus und darf auf keinen Fall als absoluter Goldstandard gewertet werden”. Etwa die Hälfte der kleineren Schlaganfälle mit dem Leitsymptom Schwindel ließen sich innerhalb der ersten 48 Stunden nicht magnetresonanztomografisch nachweisen.
Versorgungskontext und Schwindeldauer
“Die Qualität von Schwindel wird in der differenzialdiagnostischen Einordnung stark überschätzt”, so der Neurologe Zwergal. In der Akutsituation bei Drehschwindel auf eine Innenohrstörung zu schließen und bei Schwankschwindel von einer zentralen Ursache auszugehen, sei überholt. Vielmehr könnten der Versorgungskontext und die Schwindeldauer bei der Bewertung helfen:
“In der Praxis ist das Spektrum von Schwindel ganz anders als in der Notaufnahme”, erklärt Zwergal. Im niedergelassenen Bereich überwiegen eher orthostatische Schwindelursachen und multifaktorielle Schwindelsyndrome, während man in der Rettungsstelle eher auf Menschen mit Schlaganfällen oder Neuropathia vestibularis treffe. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) komme hingegen sowohl in der Klinik als auch im niedergelassenen Sektor regelmäßig vor.
Auch die Schwindeldauer gibt Aufschluss über mögliche Krankheitsursachen. Der BPLS oder seltenere Erkrankungen wie die Vestibularisparoxysmie führen meist zu sehr kurzen Schwindelattacken, die nur wenige Sekunden bis Minuten anhalten. Dauern die Attacken länger – mehrere Minuten bis Stunden – ist möglicherweise ein Morbus Menière oder die vestibuläre Migräne ursächlich. Bei Schwindel, der mehrere Stunden bis Tage anhält, kommen die Neuropathia vestibularis oder vestibuläre Schlaganfälle in Betracht. Permanent anhaltender Schwindel spricht für psychosomatische Ursachen oder chronische sensorische Defizite wie die bilaterale Vestibulopathie. Aber auch neurodegenerative Erkrankungen sind eine Möglichkeit: “Wir unterschätzen häufig, dass Schwindel ein Frühsymptom von Demenzen sein kann”, erklärt Zwergal.
Psychogener Schwindel
Psychogener Schwindel geht oft mit einem anhaltenden und subjektiv extrem belastenden Schwindelgefühl einher. Objektive Zeichen einer Gleichgewichtsstörung fehlen jedoch: “Der Patient torkelt nicht, stürzt nicht und wird von anderen nicht auf seinen Schwindel angesprochen”, so Zwergal. Bessert sich die Symptomatik zudem bei Ablenkungen, Sport oder unter moderatem Alkoholeinfluss, erhärtet sich die Verdachtsdiagnose. Klinisch sollte dann eine ausführliche somatische Ausschlussdiagnostik erfolgen. “Das ist für die Patienten sehr wichtig, damit sie sich in ihrer Beschwerdesymptomatik verstanden und geachtet fühlen”, hebt der Neurologe hervor.
In der Therapie des psychogenen Schwindels spielt die Psychoedukation eine entscheidende Rolle. Sätze wie “Die Hardware ist in Ordnung, die Software hat ein Problem” helfen laut Zwergal, sich diesem komplexen Thema im Gespräch zu nähern. Bewegung und Physiotherapie seien zudem wichtige Therapiebausteine: “Es ist wichtig, dass der Patient das Selbstbewusstsein, sich auf die eigene Kontrolle verlassen zu können, durch Bewegung zurückgewinnt”. Gleichzeitig betont er, dass etwa die Hälfte der Betroffenen unter psychiatrischen Komorbiditäten leiden. Gegebenenfalls seien daher auch Psychopharmaka beziehungsweise Psychotherapie angezeigt. “Wenn der Patient richtig diagnostiziert wird und auch die richtigen Therapiemaßnahmen erhält, dann bessert sich funktioneller Schwindel in bis zu drei Viertel der Fälle”, so Zwergal.
Multimodaler Altersschwindel
Multimodaler Altersschwindel entsteht aus der Summe verschiedener degenerativ bedingter vestibulärer und nicht-vestibulärer Ursachen und stellt damit eine Ausschlussdiagnose dar. Dabei gehen sensorische Defizite wie Sehstörungen und Polyneuropathien ebenso in die Gleichung ein, wie vaskuläre Enzephalopathien oder die Vielzahl verschriebener Medikamente. Obwohl die Prävalenz im Alter zunehme, habe Schwindel dennoch immer einen Krankheitswert. “Eine ganz wichtige Message: Schwindel ist auch im Alter nicht normal, sondern braucht weitere Abklärung”, fügt Zwergal an.
Spezialisierte Zentren zur Schwindelabklärung
“Wir haben einen gewissen Versorgungsmangel”, moniert Zwergal. Um komplexe Schwindelfälle flächendeckend und sicher abklären zu können, brauche es vermehrt interdisziplinäre Schnittstellen. Das hängt vor allem am Geld: “Die Behandlung von Schwindelpatienten ist personalaufwendig, die Budgetierung ist mager”. Während in der Schweiz oder den Niederlanden integrierte Schwindelversorgungszentren laut Zwergal “fast selbstverständlich” seien, hinke Deutschland in diesem Bereich hinterher.
Deswegen blickten Betroffene bei der Erstvorstellung im Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum regelhaft auf lange Krankengeschichten zurück: “Im Schnitt mindestens zwei Jahre Schwindel, fünf Fachärzte, viele Bildgebungen und Konsequenzen für Berufstätigkeit und Lebensführung”, erläutert Zwergal. Durch die enge Verzahnung verschiedener Fachdisziplinen dauere es im Spezialsetting meist nicht länger als einen Tag, um die Symptomatik abzuklären und Betroffene mit klarer Diagnose und therapeutischem Konzept zu entlassen. So könnte eine integrierte Versorgung unnötig lange Leidenswege verhindern und trotz höherer Vorhaltekosten langfristig Geld einsparen. “Schwindel ist kein Schicksal, sondern ein behandelbares Symptom”, resümiert Zwergal.
Die Podcastfolge "Schwindel – zwischen Schlaganfall und Psychosomatik"
Im AMBOSS-Podcast sprechen wir darüber, wie sich Schwindel als Leitsymptom schnell und sicher einordnen lässt.