Der Umgang mit dem Tod
Was lernen Mediziner:innen über den Tod und was nützt ihnen dieses Wissen angesichts der Pandemie? Dr. Svenja Ludwig reflektiert über Ängste unter Ärzt:innen.
Dr. Svenja Ludwig belegte mit ihrem Text den zweiten Platz des Asystole Essay Preises 2022. Der Preis zeichnet Texte aus, die für Medizin und Gesundheit eine zentrale Bedeutung haben. Fachliche Informationen zu COVID-19 bietet das AMBOSS-Kapitel. Auch die S3-Leitlinie zur Palliativmedizin findet sich in AMBOSS. |
In meiner Kindheit hatte ich eine Mutprobe zu bestehen. Wer zur Clique der Siebenjährigen gehören wollte, musste sich im Leichenhaus einen Toten ansehen. Mit angehaltenem Atem betrat ich an meinem siebten Geburtstag andächtig die Aussegnungshalle des Friedhofs. Da lag sie, meine erste Leiche: einst ein Mensch, ein Großvater, jetzt leblos im Sonntagsanzug mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen. Der Tod war für mich damals nicht furchterregend, sondern selbstverständlich. Er holte die Menschen ab und legte sie zuerst in die blumengeschmückte Halle und danach in ihr Grab. Wir waren allesamt unerschrockene Kinder; ich bestand meine Mutprobe. Danach spielten wir unbekümmert weiter.
„Der menschliche Leichnam ist zivilrechtlich eine Sache“
Jahrelang vergaß ich den Tod. Er tauchte erst wieder auf, als ich als zwanzigjährige Medizinstudentin mit einer kleinen Gruppe nervöser Gleichaltriger im Berliner Institut für Anatomie an einer Wanne aus Stahl stand. Mich hatte eine Unruhe erfasst, die vermutlich jeder Mensch in einem kalten, gekachelten und fensterlosen Raum erlebt. Man kennt diese Räume aus Filmen, die man sich des guten Schlafes wegen eigentlich nicht anschauen sollte. Es war kalt, aber anders als im Winter war die Kälte nicht klar, sondern stickig. Langsam trat ich an die Leiche heran. „Der menschliche Leichnam ist zivilrechtlich eine Sache“, sagte der Institutsangestellte. Die „Sache“ lag vor uns. Auf dem Bauch. Ihre Haare legten sich in fettigen Strähnen um ihren Hinterkopf, ihre Haut hatte eine seltsame Farbe, die ich noch nie zuvor gesehen hatte – irgendetwas zwischen grau, gelb und grün. Ich weiß noch, dass ich an Tiefseefische dachte, die noch niemals mit Licht in Berührung gekommen waren.
Die Anatomie einer liegenden Leiche ist nicht identisch mit der eines lebenden Menschen. Die Brustorgane geraten in eine Stellung wie nach extremer Ausatmung, die Arterien sind leer, dafür sind die Venen prall gefüllt. Durch den fehlenden Blutdruck pressen sich die Organe ineinander. Unsere Aufgabe war es, dieses merkwürdige Gebilde – diese „Sache“ – zu begreifen, indem wir sie zerstörten. Das bedeutete konkret, dass ich den gelbgrünen Arm von seinen Gefäßen befreite, bis der Knochen frei lag. „Sie müssen die bindegewebige Faszie wegpräparieren, um ein schönes Ergebnis zu erhalten.“
„Sehen Sie hin! Sie müssen das sehen können!”
Warum erzähle ich das? Weil ich glaube, dass dies der Auftakt für mein neues Verständnis vom Tod war. Und dass damals der Grundstein gelegt wurde, wie ich heute über die Medizin denke. Ich war noch blutjung, sollte nun aber den Ernst der Lage und dieses Berufes begreifen.
Jetzt ist der Tod wieder da. In allen Nachrichtensendungen. Jeden Tag. Ganz nah. Über den Tod und mein Verhältnis zu ihm Auskunft zu geben, scheint mir die schwierigste Sache der Welt. Schließlich habe ich ihn bisher nie erlebt, werde ihn aber sicher erleben. Wie kann ich darüber schreiben, als sei er etwas, das meinem Körper irgendwann zustößt und bis dahin nur andere betrifft? Als sei er etwas Äußerliches, exogen, ein Erreger. Und wie soll ich Menschen den nahenden Tod erklären, wenn ich selbst nichts über ihn weiß? Das sind Fragen, die ich mir heute stelle.
War es damals wirklich nötig, uns junge Leute an den Seziertisch zu treiben? Machte uns das zu guten Ärzt:innen? Ich glaube es nicht, denn es forderte seinen Preis. Schon bald hastete einer von uns von Übelkeit geschüttelt zum Ausgang, später brachen Freunde das Studium ganz ab. Einige verkrafteten diese Brutalität nicht.
„Sie müssen den Toten schon umdrehen, sonst können wir nicht mit der Arbeit beginnen.“ Der Angestellte ergriff einen der steifen Arme und ein Bein – so wie sie im Schlachthof die Schweinehälften anpacken – und drehte die Leiche mit einem kräftigen Ruck. Der Tote rumpelte auf den Rücken. Ich bemühte mich, gerade zu stehen, und versuchte derweil, langsam zu atmen. „Sehen Sie hin! Sie müssen das sehen können!“
Zuerst sah ich auf die Füße, dann zuckte mein Blick die Oberschenkel hinauf. Die Leiche war nackt. Ich war von meiner Standhaftigkeit überzeugt und glaubte mich abgeklärt und souverän, bis ich die Nase sah. Der Tod hinterlässt genau wie das Leben seine Spuren in einem Gesicht. Die letzte Miene sagt viel über einen Menschen. Aber das hier? Mein Gott, diese Nase. Sie war platt und zur Seite gedrückt, sah in dem gelbgrauen Gesicht grotesk aus. Was war mit diesem Mann geschehen? „Er lag zwei Jahre in Formaldehyd“, sagte der Helfer.
Zwei Jahre. Ich schaute mich um und sah in erstarrte Gesichter. Niemand sagte ein Wort, zwei hielten sich an den Händen. Eine junge Frau weinte. Vor zwei Jahren hatte ich meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Als ich auf meine neue Freiheit anstieß, wurde dieser Unglückliche in eine Wanne voll Alkohol gelegt. Seitdem war er hier. Als meine Sommerferien begannen, lag er schon auf seinem Gesicht in der stinkenden Lösung. Die Abschiedsfete, mein Umzug. Ich durfte mir nicht so viele Gedanken machen.
Ein Mensch kann viel aushalten, wenn er es muss.
Im Laufe der Jahre gewöhnte ich mich an vieles, Bilder und Gerüche. Ein Mensch kann viel aushalten, wenn er es muss. Aber der Preis ist hoch: Man verliert durch diese andauernde Desensibilisierung das Gefühl für die anderen, die diesen Weg nicht gehen. Wir benutzen in der Medizin manchmal eine unnötig harte Sprache, wenn es um den Tod geht; verlieren die Reaktionen der Menschen aus dem Blick, für die unsere Worte überzogen oder brutal wirken.
Dieses respektlose, ständig unterbrechende und in sich selbst vernarrte Verhalten der Ärzteschaft prägte sich in den Jahren, als wir viel zu früh mit furchtbaren Bildern und Geschichten malträtiert wurden. Abhärtung nennt man das. Ich glaube, es war Kalkül. Damals mussten wir Mechanismen entwickeln, um dieses Schreckliche abzuwehren und nicht daran zu zerbrechen. Ich kann nicht genau rekonstruieren, welches Erlebnis zu welchem Verhalten führte. Jeder hat seine eigenen Assoziationen, die in bestimmten Sprachen, Codes und Stereotypen abgespeichert werden. Jeder spielt – innerhalb der vorgegebenen Regeln – sein eigenes Spiel. Jeder findet seinen symbolischen Ausdruck, seine zynische Geste, seinen Witz am falschen Platz.
Die Nachrichten sind nicht gut. Gar nicht gut.
Und so ging es dann auch wieder einige Jahre ganz gut. Der Tod betraf die anderen. Für mich gab es eigene Gesetze; ich war ja nicht krank, mir würde nichts passieren. Ich war auf der Seite der Sicheren, die auf jede medizinische Frage eine Antwort und für jede Schwierigkeit eine gute Pille kennen.
Und nun? Hätte es nicht für immer so weitergehen können? Hätte ich nicht einfach weiterhin mein Bestes leisten können, um anderen zu helfen – mit gehörigem Abstand natürlich – und so mein Gewissen beruhigen können? Ich hätte ordentliche Arbeit abgeliefert und mich dabei aus der ganzen Sterbeangelegenheit herausgehalten, bis mich irgendwann ein schneller erlösender Schlag getroffen hätte. So mein magisches Denken.
Nach all den Jahren lerne ich den Schrecken jetzt aber erneut kennen. Die Nachrichten sind nicht gut. Gar nicht gut. Leichenhallen ohne Kerzen, keine gefalteten Hände. Weder Mutprobe noch Spiel. Und auch kein „Es sind nur die anderen, ich habe die volle Kontrolle“. All meine mühsam erarbeiteten Verdrängungsmechanismen und alle Mutproben der Welt nutzen mir nichts mehr. Ich habe Angst vor dem Tod wie jeder andere Mensch auch. Nachts kommen die Gespenster und wollen mich holen. Düstere Phantasien belästigen mich und ich wälze mich schweißgebadet im Bett.
Das alleine wäre ja schon anstrengend genug, aber es kommt schlimmer. Das Image des Alles-Wissens und Keine-Angst-Habens, das ich all die Jahre so sorgsam gepflegt habe, und das ja auch lange funktioniert hat, kommt mir jetzt wie auf einer Geisterfahrt entgegen. Ich will zwar nicht, muss aber weiter funktionieren, wie man es von mir gewohnt ist und wie ich es auch bisher durchaus wollte. Und da die Zeiten rücksichtslos sind, erfahre ich diese Rücksichtslosigkeit am eigenen Leib.
Ich werde gefragt: „Was machen wir denn jetzt?“ Man bittet mich, den Erstickungsprozess genau zu erläutern. Was passiert da in der Lunge? Tut das weh? Wie lange dauert es, bis man tot ist? Warum findet denn niemand ein Medikament? Was tun gegen die Angst? Jeder will aus der Finsternis geholt werden, möchte weiterleben und keine unnötigen Qualen leiden. Glaubst du, dass ich davonkomme? Es sind nicht nur Bitten. Vieles wird auch grollend und fordernd vorgetragen. Jeden Tag, pausenlos.
Wir haben die Kontrolle verloren.
Wir Ärzt:innen sind nun anders als sonst mit den Patient:innen verflochten. Wir sollen sie davon überzeugen, dass die Symptome heilbar und die Impfungen wirksam sind. Dabei sind wir uns selbst in vielen Fragen doch unsicher. Wir haben keine Erfahrungswerte, kennen die Verlaufsprognose nicht und haben selbst Angst, wenn die Erkrankung unaufhaltsam fortschreitet und alle Maßnahmen nichts mehr nützen. Wir müssen den Beteuerungen und Angaben der Kranken und Gesunden Glauben schenken, ohne zu wissen, was hier genau vor sich geht. Zugleich müssen wir sehr genau differenzieren, ob hier möglicherweise ein noch unbekanntes Phänomen lauert. Wir haben die Kontrolle verloren.
Viele Ärzt:innen nutzen ihre gewohnten Werkzeuge. Sie gehen nach Schemata vor, die aus den Strukturen des gewohnten Denkens stammen. Sie setzen Annahmen über Menschen und die Art ihrer Krankheiten als medizinische Einheiten voraus. Sie bemühen sich, mit ihren Techniken und Medikamenten die Symptome zu mildern. Wenn sie mit den Erkrankten sprechen, versuchen sie, deren Welt zu verstehen. Das Verstehen ist dabei die wesentliche Voraussetzung zum Gelingen der Intervention. Es muss vor der Interpretation der Erkrankung der Kranke selbst verstanden werden. Um dies zu erreichen, ist ein besonderes Verhältnis zwischen Arzt und Patient nötig. Dieses ist üblicherweise davon geprägt, dass Ärzt:innen ihren Wissensvorsprung anwenden.
Ich will mein tolles Image nicht länger.
Diesmal weiß ich aber nicht mehr als meine Mitmenschen. Ich bin keinen Fußbreit voraus. Ich bin nicht mehr anders als alle anderen. Das Studieren und Einüben nützt mir nicht mehr, ich bin jetzt eine potenzielle Patientin. Das war zwar schon immer so, aber jetzt wird es mir erst richtig bewusst. Ich bin täglich dem Virus ausgesetzt. Ich kann niemanden beruhigen und niemandem versichern, dass alles wieder gut und heil wird. Weil ich es selbst nicht weiß und weil ich selbst Angst habe. Ich will mein tolles Image nicht länger, ich würde es gerne mal abgeben für eine Zeit. Sieht denn keiner, dass ich auch Trost und Verständnis brauche? Es ist eine brutale und unwirkliche Zeit, in der wir da leben.
Und auch ich sehe jeden Tag die Zahlen in einer scheinbar endlosen und unveränderlichen Wiederholung. Ich weiß nicht, was vor sich geht und ob es jemals vorbei ist. Ich kenne keine geeignete Früherkennungsmaßnahme, ich habe kein Rezept. Ich kann nicht sagen, wer es schaffen wird und wer nicht. Mir ist nichts außer ein bisschen Notfallhandwerk geblieben. Die Fähigkeit zur Beschreibung von Tatsachen als höchste Kunst der Medizin: in Frage gestellt oder verschwunden. Die gleiche Furcht, die Überforderung, die Erschöpfung. Ich kann auch keine Zahlen mehr sehen. Es nervt mich, wenn ein Tag dem anderen gleicht. Alles wäre so langweilig, trügen wir nicht permanent eine aufrüttelnde Todesangst mit uns herum.
Eine Chance für die Zukunft?
Es gibt mich nur als ein Ich unter vielen. Ich kann mich nicht länger verleugnen, um andere zu beruhigen. Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Ich kann mich nicht mehr über all den Schrecken damit hinwegtrösten, dass mir das alles niemals passieren würde. Die alten Hierarchien macht diese Pandemie ebenfalls zunichte. Es gibt kein Allwissen mehr, das man befragen könnte. Jetzt lautet die Ansage: Wer etwas weiß, gibt sein Wissen weiter. Ohne Attitüde. Die Welt, in der Ärzt:innen mühelos neben therapeutischen auch disziplinarische Maßnahmen aussprechen konnten, ist untergegangen. Dieses ganze Gehabe und Wahrscheinlichkeitsdenken, die Sprache, die keiner versteht, die Uniform, alles das können wir endlich hinter uns lassen, wenn wir es nur geschickt anstellen. Die Erfahrung, die wir gerade weltweit machen, eint uns. Darin liegt die Chance. Wahrscheinlich.
In unserer neuen Rubrik AMBOSS-Essay werden wir ausgewählte Leserbriefe und Erfahrungsberichte veröffentlichen. Wer Eindrücke und Erlebnisse aus Klinik und Praxis mit uns teilen möchte, kann sie per E-Mail an news-redaktion@amboss.com schicken.