Häusliche Gewalt ist nicht privat

Philippa von Schönfeld - Dienstag, 15.12.2020
Person hält die ausgestreckte Hand zur Abwehr.

Wer zu Hause Gewalt erlebt, hat es im Lockdown und über die Feiertage noch schwerer, sich Hilfe zu suchen – umso wichtiger ist das Handeln im Verdachtsfall.

Eine junge Frau stellt sich zum Check-up vor. Sie hatte vorherige Termine mehrmals kurzfristig abgesagt und betritt nun unsicher das Behandlungszimmer. Als sie zum Blutdruckmessen den Ärmel hochschiebt, werden mehrere, verschieden gefärbte Hämatome sichtbar. Sie meidet den Blickkontakt und gibt auf Nachfrage an, kürzlich gestürzt zu sein. 

Häusliche Gewalt ist mit der COVID-19-Pandemie in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Im Lockdown, so die Befürchtung, häufen sich die Übergriffe, während Hilfen schwieriger zu erreichen sind. Deshalb tragen Ärzt:innen eine besondere Verantwortung, Alarmsignale zu erkennen – und darauf zu reagieren.

Zunächst ein paar Fakten: Häusliche Gewalt kommt in allen Altersgruppen und Schichten der Gesellschaft vor. Laut Istanbul-Konvention zählen dazu alle Formen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt innerhalb einer Familie, eines Haushalts oder einer Partnerschaft, auch wenn Erlebende und Täter:in nicht unter einem Dach wohnen. Die Definition beinhaltet damit sowohl generationenübergreifende Gewalt – etwa gegen Kinder oder Senior:innen – als auch auch Partnerschaftsgewalt.

Das Bundeskriminalamt erfasste für das Jahr 2019 über 141.000 Opfer von Partnerschaftsgewalt. Berlin, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern verzeichneten im Frühjahr einen deutlichen Anstieg der gemeldeten Fälle. In anderen Bundesländern hingegen blieb die Zahl im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gleich oder nahm gar ab – für Expert:innen ein Hinweis darauf, dass sich Menschen, die Gewalt erleben, im Lockdown seltener an die Behörden wenden.

81 Prozent der Betroffenen sind Frauen, 19 Prozent sind Männer. Statistisch erlebt in Deutschland alle 45 Minuten eine Frau eine versuchte oder vollendete gefährliche Körperverletzung in der Partnerschaft, und nahezu alle drei Tage wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet. Auch Kinder erleben täglich häusliche Gewalt. Laut Kriminalstatistik wurden im Jahr 2019 über 4.000 Fälle von Kindesmisshandlung zur Anzeige gebracht, knapp 16.000 Minderjährige erlebten sexualisierte Gewalt.

Die Symptome häuslicher Gewalt sind so variabel wie die Delikte selbst. Um die Zustände in der eigenen Familie zu verbergen, wechseln Betroffene häufig die Praxis (sog. ”Ärztehopping”) oder sagen Termine kurzfristig ab. Auch die Begleitung durch ein scheinbar überfürsorgliches Familienmitglied kann der Verschleierung einer Täterschaft dienen. In der Anamnese fallen vage oder widersprüchliche Aussagen auf; eigene Erklärungen, bspw. ein vermeintlicher Unfall, passen nicht zum körperlichen Befund. Die Hämatome der jungen Frau in der Praxis etwa passen eher zu Griffspuren, und die verschiedenen Heilungsphasen deuten auf wiederholte Konfrontationen hin. 

Ob Verletzungen durch einen Unfall oder eine Gewalttat entstanden sind, lässt sich nicht immer leicht abgrenzen. Helfen können dabei neben der Anamnese die Lokalisation und Morphologie der Läsionen. Während eine blutende Nase, ein aufgeschürftes Kinn oder eine Narbe an der Stirn durchaus zu einem Sturz im Alltag passen, finden sich schlagtypische Verletzungen eher an Augen, Mund oder Ohren sowie oberhalb der Hutkrempenlinie – Regionen, die bei einem Sturz schlicht nicht den Boden berühren. Auch geformte Verletzungen z.B. an Rücken und Gesäß sind verdächtig. Ebenso können Abwehrverletzungen z.B. an den Ellenkanten und symmetrische Verletzungsmuster Hinweise auf bewusst zugefügte Gewalt geben.

Wenn ein Unfall oder eine Grunderkrankung als Ursache für die Läsionen nicht plausibel erscheinen, sollte Misshandlung differentialdiagnostisch in Betracht gezogen werden. Die folgenden Handlungsschritte für einen solchen Verdachtsfall orientieren sich an den Empfehlungen des Berliner Vereins S.I.G.N.A.L. e.V.:

S. Signal setzen: Gewalterfahrungen aktiv ansprechen

Viele sprechen aus Angst oder Scham nicht von sich aus über die Gewalt, die sie erleben. Ein Verdacht sollte nur unter vier Augen angesprochen werden. Der S.I.G.N.A.L.-Leitfaden empfiehlt, zunächst Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, z.B. mit den Worten: “Wir wissen, dass in vielen Paarbeziehungen Gewalt ausgeübt wird. Darüber zu sprechen ist nicht leicht. Wir haben uns angewöhnt, mögliche Gewalterfahrungen offen anzusprechen und Unterstützung anzubieten.”

I. Interview mit konkreten Fragen

Nimmt die Patientin oder der Patient das Gesprächsangebot an, sollte offen und konkret nach Gewalterfahrungen gefragt werden, z.B.: “Kann es sein, dass Sie geschlagen wurden?” Vielleicht verneint die Person oder nimmt den Täter oder die Täterin in Schutz. Da häusliche Gewalt meist von nahestehenden, geliebten Menschen ausgeht, kann es hilfreich sein, die Taten in den Vordergrund zu rücken und zu betonen, dass es für Gewalt (außer Notwehr) keine Rechtfertigung gibt. Grundsätzlich gilt es, alle Antworten zu respektieren, aber auch zu betonen, dass die Gesprächsbereitschaft weiter besteht.

G. Gründliche Untersuchung auf alte und neue Verletzungen

Bei fundiertem Verdacht sind die körperliche Untersuchung und ggf. weiterführende Diagnostik essentiell. Der S.I.G.N.A.L. e.V. bietet auf seiner Homepage eine Übersicht aktuell gültiger Leitfäden und Empfehlungen der Bundesländer zum Thema “Häusliche Gewalt” an. Diese sowie die Kinderschutzleitlinie geben Struktur.

N. Notieren und Dokumentieren aller Befunde

Wichtig ist eine genaue und verständliche Dokumentation. Die Verletzungen sollten fotografisch so festgehalten werden, dass Ausmaße und Person zweifelsfrei erkennbar sind. Stimmen Patient:innen einer Foto-Dokumentation nicht zu, erfordert dies eine noch genauere Beschreibung der einzelnen Läsionen. Dabei helfen Tools wie der Dokumentationsbogen, den der S.I.G.N.A.L. e.V. gemeinsam mit der Charité erstellt hat.

A. Abklären einer aktuellen Gefährdung und des Schutzbedürfnisses

Jede Intervention sollte darauf abzielen, Schutz und (mehr) Sicherheit zu bieten. Das Risiko einer Eskalation ist am größten, wenn die Gewalt öffentlich gemacht wird oder Betroffene  planen, sich zu trennen. Deshalb gilt es abzuklären: Wie ist die Situation der Kinder zu Hause? Gibt es Unterstützung im Umfeld? Ist eine Rückkehr nach Hause möglich und gewünscht? Jede Entscheidung liegt bei der Patientin oder dem Patienten und sollte vom Arzt bzw. der Ärztin respektiert werden. Einzig, wenn es um schwerste Taten gegen Leib, Leben und Freiheit geht und Wiederholungsgefahr besteht, sollten Mediziner:innen den Schutz von Patient:innen gegen die Schweigepflicht abwägen und im Rahmen eines “Rechtfertigenden Notstands” (§ 34 StGB) handeln.

L. Leitfaden mit Notrufnummern und Unterstützungsangeboten anbieten

Wenn Betroffene bereit sind, Hilfe anzunehmen, können Beratungsstellen und ggf. die Polizei Schutz bieten und weiterhelfen. Erste Anlaufstellen sind das bundesweit erreichbare Hilfetelefon für Frauen bzw. für Männer sowie die medizinische Kinderschutzhotline. An diese Telefonnummern können sich auch Ärzt:innen wenden, die sich vor einer Intervention rückversichern möchten oder Hilfseinrichtungen vor Ort suchen.

Der Umgang mit häuslicher Gewalt im ärztlichen Alltag ist nicht leicht. Jede Situation bedarf einer individuellen Abwägung und eines sensiblen Umgangs. Wer mit schwierigen Situationen und Schicksalen zu tun hat, braucht dabei auch selbst Unterstützung. Wichtige Hilfen können das soziale Umfeld, der Austausch mit Kolleg:innen oder Balintgruppen bieten. Fest steht: Häusliche Gewalt ist keine Privatsache.

 

Weitere Infos zu relevanten AMBOSS-Kapiteln finden sich hier: Verletzungen und Gewalteinwirkung und Kindesmisshandlung. Außerdem bündelt der Abschnitt Aktuelle Beratungsanlässen zu COVID-19 praktische Empfehlungen und Querverlinkungen.

 

Quellen

  1. Leitfaden Häusliche Gewalt
  2. Kinderschutzleitlinie
  3. Partnerschaftsgewalt - Kriminalistische Auswertung - Berichtsjahr 2019
  4. Zahlen kindlicher Gewaltopfer - Polizeiliche Kriminalstatistik 2019
  5. Merkblatt zur ärztlichen Schweigepflicht in Fällen von häuslicher Gewalt
  6. StGB §34 Rechtfertigender Notstand
  7. StGB § 138 Nichtanzeige geplanter Straftaten
  8. Medizinische Kinderschutzhotline
  9. Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen”
  10. Hilfetelefon “Gewalt an Männern”, S.I.G.N.A.L. e.V.