Aufgeklärt oder abgesichert

Gastautorin: Jill Kaltenborn - Freitag, 25.3.2022
Aufgeklärt oder abgesichert? Die Hand einer Ärztin deutet in steriler Atmosphäre, wo auf einem Aufklärungsbogen unterschrieben werden soll. Die Hand eines Patienten hält einen Stift und ist im Begriff zu unterschreiben.

Dr. Jill Kaltenborn, Gewinnerin des Asystole Essay Preises 2022, beleuchtet ein Dilemma des ärztlichen Alltags: Klären wir auf oder sichern wir uns nur ab?

Der Asystole Essay Preis zeichnet  jährlich Texte aus, die  für Medizin und Gesundheit von zentraler Bedeutung sind.

Wichtige Informationen rund um die OP-Aufklärung finden sich in den AMBOSS-Kapiteln Prämedikation und Aufklärung in der Anästhesiologie und  Perioperatives Management.

 

Alles begann – wie so häufig – mit wenigen Tropfen Blut beim Wasserlassen. Sie sollten für Herrn N. den Beginn eines langen, beängstigenden Weges darstellen. Ein banaler Infekt, hatte sein Hausarzt gemeint. Man sollte nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Schließlich sei er ja gerade erst fünfzig geworden und hatte nicht mehr geraucht, seit er sich beim ersten Versuch vor die Füße seines großen Bruders hatte übergeben müssen.

Ein Infekt also. Daran hielt er sich fest.

Zunächst schienen sich die Worte seines Arztes zu bewahrheiten. Zumindest hörte die Blutung eine kurze Zeit lang zur Erleichterung aller Beteiligten auf – nur um anschließend umso stärker wiederzukommen. Das verschaffte ihm einen Termin bei einem Urologen.

Als dieser in einer peinlichen Prozedur mit einer Kamera in seine Blase schaute – Herr N. konnte sich nicht erinnern, dass ein Mann ihn je in seinem Intimbereich berührt hatte – sah die Welt schon anders aus. Es wüchse etwas in seiner Blase, was dort nicht hingehöre. Man sollte es entfernen, damit der Pathologe es untersuchen könne.

Gesagt, getan, so zumindest die Theorie. Drei Wochen der Ungewissheit vergingen, bis er einen Termin im örtlichen Krankenhaus bekam. Wieder zu Hause war das Warten auf den Befund das Schlimmste – neben dem Versuch, auf dem Weg zur Toilette keinen Urin zu verlieren. Am Mittwoch war die Sache schon etwas besser. Am Donnerstag traute er sich erstmals, in die Toilettenschüssel zu schauen und musste feststellen, dass das Rot nur unwesentlich aufgeklart war. Als er am Sonntagabend das erste Mal glasklaren Urin vorfand, freute er sich fast ein bisschen. Und als man ihm am Montag mitteilte, dass er zur Besprechung der Ergebnisse besser ins Krankenhaus kommen solle, wusste er, dass sein bisher gekanntes Leben vorbei war.

Bis zu diesem Tag hatte er sich den sprichwörtlichen Tunnel nicht vorstellen können, in den man beim Erhalt schlechter Nachrichten geraten kann. Als er aber das Sprechzimmer des Oberarztes betrat, hätte er im Anschluss weder sagen können, ob sich noch weitere Personen im Raum befunden hatten, noch, welche Haarfarbe dieser Arzt hatte, über dessen Lippen das Wort „Krebs“ gehuscht war.

Der Oberarzt kam direkt zum Punkt. Herr N. versuchte, ihm zu folgen, doch je mehr er sich konzentrierte, desto weniger konnte er die Worte fassen. Die Blase müsse raus. So viel bekam er noch mit. Die Vorstellung hörte sich in seinen Ohren so ungeheuerlich und skurril an, dass er sicher war, man spräche über einen anderen Patienten. „Und wie soll ich dann pinkeln?“, hörte er eine fast amüsiert klingende Stimme fragen, die ihn entfernt an seine eigene erinnerte. Daraufhin zeichnete eine Hand in wenigen Kugelschreiberstrichen etwas auf das Papier vor ihm, das wohl einen Harntrakt darstellen sollte. Ihm fiel auf, dass der Arzt es vermied, den Penis zu malen, worauf er absurderweise wartete.

Als er endlich das Sprechzimmer verließ, rauchte ihm der Kopf.

Das konnte doch nicht sein! Er stand mitten im Leben, war noch nicht einmal berentet. Er spielte leidenschaftlich Badminton und schlief noch immer gerne mit seiner Frau. In der letzten halben Stunde hatte er Begriffe gehört, die einen um den Verstand bringen konnten: invasiv, Chemotherapie, Impotenz, Blase aus Darm, Beutel auf dem Bauch.

Er stieg ins Auto, fuhr ziellos durch die Straßen und kam dennoch nicht ans Ende des Tunnels. Erst als er die entgangenen Anrufe seiner Frau auf dem Handydisplay sah, wusste er, dass es an der Zeit war, sich der Realität zu stellen. Man hatte ihm gesagt, dass er nicht zu lange mit seiner Entscheidung warten solle – ein Operationstermin sei bereits für ihn reserviert. Er könne sich auch eine zweite Meinung einholen. Ansonsten sei in zwei Wochen ein Vorgespräch geplant, das alle weiteren Fragen klären solle.

Und so kam es, dass Herr N. an jenem verregneten Donnerstag auf mich traf. Ich arbeitete noch nicht lange in der Abteilung, vier Monate vielleicht. Zuvor war ich einige Jahre in der Chirurgie beschäftigt gewesen, sodass ich in den Augen meiner Kollegen nicht mehr als blutiger Anfänger galt und man mir die Operationsvorbereitungen zutraute. 

Was würden Sie denn tun?

„Was würden Sie denn tun?“ Der Mann auf der anderen Seite des Tisches wirkte neben seiner korpulenten Frau schmächtig. Er nestelte an den vor ihm ausgebreiteten Aufklärungsunterlagen und brachte es nicht über sich, mich direkt anzusehen. Zu unangenehm war ihm das Thema. Eine Frage quälte ihn besonders: Sollte er sich, als junger Patient, für die komplikationsreichere Neoblase oder für das Ileumconduit entscheiden? Mir drängte sich eine ganz andere Frage auf: Worauf können sich Patienten verlassen, wenn nicht auf unsere ärztliche Meinung?

„Du sollst ihnen nicht sagen, was sie tun sollen“, klang mir die Stimme meines Oberarztes im Gedächtnis. „Du sollst ihnen lediglich die Fakten darlegen. Entscheiden müssen sie schon selbst. Informed consent und so.“ Aber natürlich kannte auch er die Studie, laut der sich Patienten nach einem Aufklärungsgespräch nur an einen Bruchteil der Informationen erinnern können. Es ist schwer vorstellbar, eine lebensverändernde Entscheidung anhand von kaum zu durchschauenden Fakten treffen zu müssen, die jemand Fremdes einem darlegt. Das lässt sich aber nicht ändern. Nicht wirklich. 

Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und sah den Mann an, der in seinem Stuhl versunken war. Die Frau drückte seine Hand so fest, dass sich seine Fingerspitzen weiß verfärbten. Ja, was würde ich tun? Die Frage war nicht einfach zu beantworten. Nicht nur, weil ich als Frau in der Urologie arbeitete, noch nie im Stehen gepinkelt hatte und meine Erektionsfähigkeit durch diesen Eingriff nicht verlieren würde. Nein, die Crux saß woanders: Ich hatte den Eingriff, über den ich gerade aufklärte, außer auf YouTube noch nie gesehen; weder mit Conduit noch mit Neoblase, weder gelungen noch komplikativ. Der Grund dafür lag nicht etwa an mangelndem chirurgischen Interesse meinerseits – im Gegenteil. Die Zystektomie ist schlicht der größte urologische Eingriff und bedarf insbesondere in einem Tumorzentrum eines kompetenten und erfahrenen Operationsteams. Das konnte ich verstehen. Wie ich aber jemandem die Frage beantworten sollte, wie er den Rest seines Lebens wasserlassen sollte, oder wie wahrscheinlich es war, dass er wieder mit seiner besorgten Ehefrau schlafen könnte, verstand ich nicht.

Zum Glück hatte ich einige Minuten Zeit gehabt, den Fall anhand der Akte vorzubereiten. In der Regel gab es Unterlagen aus der Tumorsprechstunde. Die Indikation stand also. So weit, so gut. Dann fand ich eine kurze Randnotiz des Oberarztes in der Akte: „Erste Information über Harnableitung erfolgt. Patient wünscht Bedenkzeit.“ Eine sehr nützliche Notiz: Rein juristisch gesehen wurde Herr N. also bereits ausführlich aufgeklärt und hatte genügend Zeit, sich auf dieser Grundlage eine Meinung zu bilden. Aber da ich wusste, wie eine Tumorsprechstunde abläuft, war mir klar, dass Patienten nach dem Wort „Krebs“ kaum noch ein Ohr für weitere Therapieoptionen haben. 

Ich griff zum Hörer und wählte die Nummer meines Oberarztes, der sich etwa im gleichen Alter wie Herr N. befand: „Was würdest du machen?“ „Puh, also erstmal würde ich mich nicht operieren lassen.“ Er lachte. „Nein. Also pass auf. Wo ist der Tumor?“ Ich sagte es ihm. „Ah ja. Also, da ist es schon etwas schwieriger, den Harnröhrenabsetzungsrand sauber hinzubekommen, aber nicht unmöglich. Neoblase geht schon.“ „Und Nerverhalt?“, fragte ich. Laut der Literatur konnte die Erektionsfähigkeit dadurch erhalten werden. Wieder lachte er. „Klar, das kannst du ihm anbieten, aber unsere Zahlen sind da eher nicht so gut. Dann musst du ihn trotzdem über Impotenz aufklären.“ Das Lachen verebbte und er fügte hinzu: „So ein Scheiß. Ich weiß auch nicht, wieso ich lache.“ Dann wollte er noch wissen:  „Ist er dick? Wenn ja, können wir den Nerverhalt gleich vergessen.“ Ich war genauso schlau wie zuvor. Daher fragte ich erneut: „Also, was würdest du empfehlen?“ Nach einigem Überlegen sagte er: „Ich hätte keine Lust auf so eine lange Reha nach einer Neoblase – aber auch nicht auf einen Beutel für immer. Ach, keine Ahnung. Was würde ich machen? Keinen Blasenkrebs kriegen. Erzähl ihm alles, letztlich muss er entscheiden. Aber schreib bloß alles genau auf. Gute Zeichnungen sind auch immer gerne gesehen. Weißt du ja.“ Er legte auf. Ja, das wusste ich.

Wir klären nicht auf, wir sichern uns ab.

Und genau das fasst es zusammen: Wir klären nicht auf, wir sichern uns ab. Daher musste ich den Aufklärungsbogen zunächst juristisch einwandfrei präparieren. Ich nahm das Papier und umkreiste die ohnehin fett gedruckten Komplikationen, als hätte ich sie alle aufgezählt. Das würde ich jedoch nicht machen, denn so wäre keine vernünftige Unterhaltung möglich. Der Anwalt sah es aber gerne. Dann schrieb ich in den Freitext noch einmal alle Komplikationen, die ich umkreist hatte – wie ich es gelernt hatte. Offenbar konnte ich sie nur genannt haben, wenn ich sie aufgeschrieben hatte. Ich notierte: „Ausführliches Gespräch über Therapiealternativen und Art der Harnableitung. Patient entscheidet sich für ...“ Hier ließ ich eine Zeile frei. Später müsste ich nur noch seine Entscheidung eintragen und meine Zeichnung dahingehend abändern. Ich sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde bis zum nächsten Patienten. Nun aber schnell. 

Und so saß Herr N. mir gegenüber und stellte diese Frage, obwohl ich ihm alle Fakten dargelegt hatte. „Wie oft machen Sie denn den Eingriff?“, rette mich seine Frau unwissentlich aus der Bredouille. Auch das hatte ich erfragt: etwa 30-mal im Jahr. „Und wie oft ist schon etwas schiefgegangen?“ Wieder eine Frage, auf die ich die Antwort nicht kannte. Ich hatte auch keinen Erfahrungswert. Aber wie redete man sich raus? Wie sagte man: “Ich bin nicht doof und Sie sind mir nicht egal, aber ich kann diese Sachen unmöglich über alle Eingriffe wissen! Schon gar nicht, wenn ich neu bin. Aber deswegen bin ich kein schlechter Arzt. Nur eben nicht der Richtige für dieses Gespräch.” 

Ein Schauspieler?

„Operieren Sie mich denn?“ Angst schwang in seiner Stimme mit. Natürlich – ich sah aus wie 22. „Nein, das machen unsere Oberärzte.“ „Aber sind Sie dabei?“ „Eher nicht. Wir haben ein eingespieltes Team für diesen Eingriff.“ „Sollte ich dann nicht mit jemandem sprechen, der mich operieren wird?“ Sehr guter Punkt. Statt ihm zuzustimmen, straffte ich die Schultern und sagte: „Wir sind hier eigentlich nur für die Formalitäten zuständig. Sie haben ja schon mit dem Oberarzt gesprochen, das hat er hier so notiert.“ Was also war ich, wenn nicht ein Schauspieler, der versuchte, in die Rolle eines erfahrenen Arztes zu schlüpfen, um dem Patienten eine unsagbar schwere Situation nicht noch schwerer zu machen?

Dann tat ich, was von mir erwartet wurde, nicht das, was der Patient brauchte: Ich sicherte uns ab. Ich malte, ich kreiste ein, ich unterstrich, ich schrieb. Und ich sagte mir, dass der Erfolg seines Eingriffs nicht von meinen Worten abhing. Die Oberärzte würden wissen, was das Beste war. Und was wäre seine Alternative? Er könnte in ein anderes Krankenhaus gehen. Aber auch da würde diese „niedere bürokratische Arbeit“ wahrscheinlich von einem Assistenten durchgeführt werden. Aber vielleicht hätte er Glück und derjenige hätte den Eingriff nicht nur auf Youtube gesehen.

Ein Impuls für die Zukunft

In einem Artikel des Ärzteblattes heißt es, dass der aufklärende Arzt in der Lage sein sollte, den Eingriff selbst durchzuführen. Darf ich also nicht mehr aufklären, bis ich operieren kann? Ich verstehe, dass diese Vorgabe im hektischen Krankenhausalltag nicht umsetzbar ist. Aber wieso existiert sie dann? Vielleicht kann sie als Ansporn dienen, den Fokus vermehrt auf die Ausbildung zu legen – die ohnehin viel zu kurz kommt – und nicht nur auf Zeiten und Zahlen zu achten. Denn wäre es nicht schön, wenn junge, motivierte Assistenten kein Schauspieltalent bräuchten, um Erkrankten die nötige Sicherheit zu geben und ohne mulmiges Gefühl und schwammige Ausflüchte aufklären könnten? Und ich meine: aufklären. Nicht absichern.

Im AMBOSS-Kapitel Ärztliche Rechtskunde sind weitere Informationen zu Aufklärungspflicht, Datenschutz und Schweigepflicht zusammengefasst.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

 

 

Rechtliche Rahmenbedingungen zum Delegieren ärztlicher Tätigkeiten und  dem Delegieren an die Pflege werden im AMBOSS-Blog besprochen.

Wie eine Medizin funktionieren kann, die den Patientennutzen in den Mittelpunkt stellt, behandelt das AMBOSS-Blog-Interview Value-based Healthcare.