Adipositas im Kindesalter (1): Folgen der Corona-Pandemie

Maria Strandt - Freitag, 11.2.2022

Homeschooling und Quarantäne: Corona hat die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen massiv verändert. Ist das Ursache der zunehmenden Adipositas?

16. März 2020: Als eine der ersten Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie schließen bundesweit die Schulen. Spielplätze werden abgesperrt, Vereinssport darf nicht mehr stattfinden. Eine Sorge angesichts dieser und weiterer Maßnahmen: Werden Kinder und Jugendliche nun dicker? 

Erste Daten scheinen die Befürchtung zu bestätigen. Der durchschnittliche BMI nimmt bei Kindern und Jugendlichen zwar schon seit Jahren kontinuierlich zu, wie etwa eine Leipziger Erhebung zeigt. Im Frühjahr 2020 machte die BMI-Standardabweichung jedoch innerhalb weniger Monate einen größeren Sprung als in den vorangegangenen 15 Jahren zusammen. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei Kindern und Jugendlichen, die bereits zuvor von Übergewicht oder Adipositas betroffen waren. Einer Umfrage zufolge legten 20 Kinder, die an einem Gewichtsmanagementprogramm teilnahmen, im ersten Lockdown durchschnittlich fast zwei Kilogramm zu. Ähnliche Entwicklungen finden sich auch in anderen Ländern: So stieg die Adipositas-Prävalenz bei Schulkindern in Großbritannien innerhalb eines Schuljahres um 4,5 Prozentpunkte an – auch das der höchste je gemessene Anstieg. 

Pandemie: Eine adipogene Umwelt

Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist kein neues Problem. Doch die Lebensbedingungen in der Pandemie fördern stärker als je zuvor Verhaltensweisen, die Adipositas begünstigen. Schul- und Kitaschließungen im Lockdown spielten dabei eine wichtige Rolle. Auch wenn die Einrichtungen heute grundsätzlich wieder offen stehen: Vielerorts fällt die Betreuung durch Krankheit und Quarantäne immer noch aus. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Corona-Maßnahmen und Gewichtszunahme gehört keineswegs der Vergangenheit an.

Ist Homeschooling wie Sommerferien?

Kinder und Jugendliche in den USA nehmen während der Sommerferien stärker an Gewicht zu. Das brachte Forschende auf die “Strukturierter Tag-Hypothese”. Sie besagt, dass Schultage durch geregelte Essenszeiten, mehr Bewegung, weniger Bildschirmzeit und feste Schlafenszeiten die Gewichtsentwicklung positiv beeinflussen. In den Sommerferien fallen diese Faktoren weg: Kinder leben in den Tag hinein, verbringen mehr Zeit vor Bildschirmen, gehen später ins Bett. Da es auch angesichts von Homeschooling und Wechselunterricht schwierig sein kann, eine feste Tagesstruktur aufrechtzuerhalten, gleichen diese Phasen in Hinblick auf Ernährung und Bildschirmzeit den Sommerferien. Statt der großen Ferienfreiheit kommt jedoch der Corona-Blues hinzu.

Wie mehr Bildschirmzeit zu Übergewicht führt

Was machen Kinder und Jugendliche, wenn sie weder die Schule besuchen noch Hobbies nachgehen oder Freund:innen treffen können? Sie verbringen mehr Zeit vor Bildschirmen, wie unter anderem Studien aus Deutschland und Spanien feststellen. Bildschirmzeit wirkt sich durch mehrere Faktoren ungünstig auf das Körpergewicht aus: Zum einen führt sie zu Schlafmangel, der wiederum Übergewicht fördert. Tatsächlich zeigte sich in der spanischen Studie, dass 80% der Kinder später zu Bett gehen, bei 16% bestand sogar der Verdacht auf eine Schlafstörung. Zum anderen verzehren viele Kinder und Jugendliche vor dem Bildschirm hochkalorische Snacks und achten bei all der Ablenkung nicht auf ihr Sättigungsgefühl. Speziell an Kinder gerichtete Werbespots machen dabei besonders viel Lust auf Essen: So sieht ein Kind zwischen drei und 13 Jahren im Fernsehen und Internet durchschnittlich mehr als 15 Lebensmittelwerbungen für ungesunde Produkte am Tag, Tendenz steigend. 

Snacks und emotional eating: Ernährung in Zeiten der Pandemie

Insgesamt hat sich das Essverhalten durch die neuen Lebensbedingungen verändert. Allerdings zeigten sich widersprüchliche Tendenzen: Einerseits kochen und essen viele Familien häufiger gemeinsam – Gewohnheiten also, denen ein positiver Einfluss auf Ernährung und Gewicht von Kindern zugeschrieben wird. Während Eltern zwar auf geregelte Mahlzeiten achten, gibt es für Snacks andererseits deutlich weniger feste Zeiten und Obergrenzen. Dabei dienen Lebensmittel und insbesondere Snacks häufig nicht nur der Ernährung: Eltern, die durch die Pandemie stark gestresst sind, nutzen beispielsweise häufiger Snacks, um das Verhalten oder die Emotionen ihrer Kinder zu regulieren. Auch die Minderjährigen selbst neigen einer französischen Studie nach zu emotional overeating – also übermäßigem Essen aus emotionalen Gründen – und essen auch aus Langeweile mehr als gewöhnlich.

Wenn die Psyche den Körper belastet: Stress, Trauma, Übergewicht

Spätestens an dieser Stelle wird der enge Zusammenhang zwischen Adipositas und psychosozialen Belastungen deutlich. Die Pandemie und ihre Bewältigung haben die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt – mit enormen Auswirkungen auf ihre mentale Gesundheit. Doch auch die körperliche Gesundheit ist betroffen, denn chronischer Stress steht im Verdacht, beispielsweise über einen erhöhten Cortisolspiegel sowohl den Appetit zu steigern als auch die Fettakkumulation zu fördern.

Darüber hinaus meldeten die Jugendämter 2020 mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung als je zuvor. Abgesehen von psychischen Folgen gehen Kindheitstraumata wie Misshandlungen auch mit einer erhöhten Adipositas-Rate einher. Forschende vermuten, dass dahinter epigenetische Veränderungen stecken. Diese setzen wiederum neurobiologische, endokrinologische und immunologische Mechanismen in Gang, die einerseits die Energieaufnahme erhöhen, andererseits den Energieverbrauch senken. So zeigen sich bei vielen Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt und Misshandlung erfahren haben, chronisch erhöhte Entzündungsmarker, was zu Fatigue und reduzierter körperlicher Aktivität führen kann.

Adipositas begleitet Kinder ins Erwachsenenalter

Die aktuelle Entwicklung wirft einen langen Schatten: Die Betroffenen werden die zusätzlichen Kilos noch weit nach der Pandemie mit sich herumtragen, denn wer als Kind adipös ist, ist es häufig im Alter von 50 Jahren noch. Zudem treten Folgeerkrankungen wie Fettstoffwechselstörungen, Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2 und die nicht-alkoholische Fettleber umso eher auf, je früher die Adipositas beginnt. Und da Adipositas durch genetische Disposition und Lebensstilfaktoren auch familiär weitergegeben wird, werden womöglich noch die Kinder der heutigen Kinder betroffen sein.

Was können Ärzt:innen tun, um Betroffenen zu helfen? Darum geht es  in Teil 2 unserer Reihe zur kindlichen Adipositas, der sich rund um Diagnostik, Therapie und Prävention dreht.

Alle Infos zur Ernährung im Kindes- und Jugendalter bietet das AMBOSS-Kapitel.

Welche Folgen die Pandemie für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat und wie ein Recovery-Plan aussehen kann, berichtet Prof. Jörg Fegert  im AMBOSS-Podcast.

Der pathophysiologische Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserlebnissen, chronisch erhöhten Entzündungsmarkern und Diabetes wird im AMBOSS-Podcast “Diapression” besprochen.

 

Quellen

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