RSV-Infektionen überrollen Kinderkliniken

Maria Strandt - Freitag, 22.10.2021
Ein Kleinkind inhaliert mit einer Inhalationsmaske und wird dabei von einer Frau gehalten.

Viele Kinderkliniken sind derzeit voll belegt. Schon seit dem Spätsommer häufen sich die RSV-Fälle. Doch woher kommt die vorgezogene Welle? 

Es beginnt als einfacher Schnupfen. Nach ein paar Tagen können Husten, Fieber, Dyspnoe oder gar eine respiratorische Insuffizienz hinzukommen: Die Infektion mit dem Respiratory-Syncytial-Virus (RSV) ist insbesondere bei Säuglingen gefürchtet. Frühgeborene und Kinder mit hämodynamisch relevanten Herzerkrankungen haben ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf. Die Erkrankung tritt saisonal auf: Auf der Nordhalbkugel verzeichnen wir die meisten Fälle zwischen November und April mit einem Peak im Januar oder Februar. Doch es scheint, als habe die Corona-Pandemie auch hier einiges durcheinander gebracht.

Social Distancing, Masken, geschlossene Kitas: Dank der Schutzmaßnahmen gegen SARS-CoV-2 gingen auch andere Infektionskrankheiten deutlich zurück. Die Zahl der RSV-Fälle reduzierte sich stark. So wurde in der Saison 2020/2021 laut einer Untersuchung an drei großen deutschen Kinderkliniken kein einziges Kind mit einer RSV-Infektion stationär behandelt. Zum Vergleich: In den Vorjahren waren durchschnittlich 133 Fälle pro Saison hospitalisiert. Das entspricht 780 Krankenhaus- und 92 Beatmungstagen.

Leider war die Freude darüber nur von kurzer Dauer. In diesem Jahr sind laut RKI in Deutschland schwere akute Atemwegsinfektionen bei Kindern zwischen null und vier Jahren bereits seit Anfang September – und damit ungewöhnlich früh  – auf dem Vormarsch. In zwei von drei Fällen liegt eine RSV-Infektion vor. Die Fallzahlen sind dabei deutlich höher als sonst. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) wies schon im Juli auf untypische, außersaisonale Einzelfälle hin. Aufgrund der nun rasant steigenden Zahlen hat sie in Kooperation mit weiteren pädiatrischen Fachgesellschaften vor Kurzem einen Survey zur Erhebung der RSV-assoziierten Krankheitslast ins Leben gerufen. Ziel sei es, gegenüber der Öffentlichkeit und nicht zuletzt auch der Politik belastbare Daten liefern zu können, um damit auch längerfristig auf die saisonale Belastung der Kinderkliniken hinzuweisen.  

Doch warum begann die RSV-Welle bereits im Sommer? Bei saisonalen Atemwegsinfektionen sind eigentlich klimatische Faktoren wie UV-Strahlung und Luftfeuchtigkeit für die Verbreitung entscheidend. Im Fall des RSV scheint jedoch insbesondere die Immunität der Bevölkerung eine Rolle zu spielen. Diese ist kurzlebig: Bereits ein Jahr nach der Infektion lassen sich keine RSV-Antikörper mehr nachweisen – normalerweise gibt es daher auch bei Erwachsenen regelmäßige, mild verlaufende Re-Infektionen. Diese Boosterung des Immunschutzes fand im vergangenen Winter nicht statt. Das betraf auch Schwangere, die ihren Babys so keine RSV-Antikörper als Nestschutz mitgeben konnten. Zudem hatten Kinder aus gleich zwei Geburtsjahrgängen (2020 und 2021) keinen Kontakt mit dem Erreger und konnten daher noch keinen Immunschutz aufbauen. Nach Aufhebung vieler Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie kommt es in dieser Gruppe jetzt zu einem Nachholeffekt mit einer schnellen Ausbreitung der Infektionswelle. Das Problem dabei: Gerade die Erstinfektion ist für ihren schweren Verlauf bekannt.

Ärztinnen und Ärzte sollten Eltern von Kleinkindern und Säuglingen daher über Präventionsmöglichkeiten aufklären: Maßnahmen wie Händewaschen, Meiden von Menschenansammlungen und Abstand zu Erkälteten sind bereits aus der Corona-Pandemie bekannt. Da das RS-Virus auf Oberflächen mehrere Stunden überleben kann, ist zudem wichtig, Spielzeug und andere Gegenstände, mit denen das Kind in Berührung kommt, regelmäßig zu reinigen. Stillen senkt das Risiko für einen schweren Verlauf, Tabakrauchexposition erhöht es. 

Risikogruppen wie Frühgeborene benötigen einen besonderen Schutz: Die passive Immunisierung mit dem monoklonalen Antikörper Pavilizumab sollte in diesem Jahr bereits Anfang Oktober – statt wie sonst im November – beginnen. Dafür sprachen sich sechs Fachgesellschaften in einer gemeinsamen Stellungnahme aus. Womöglich muss die medikamentöse Prophylaxe in dieser Saison zudem über die üblichen fünf Monate hinaus erfolgen.

 Mehr zur akuten Bronchiolitis im Säuglingsalter inklusive der Therapieempfehlungen und der Indikation für eine Prophylaxe sind im AMBOSS-Kapitel zu finden.

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Der Blick ins Ausland zeigt: Die verfrühte Welle kommt nicht überraschend. Nach dem Ausfall der winterlichen Saison in Westaustralien schnellten die RSV-Fallzahlen Ende 2020 – im australischen Sommer – in die Höhe und lagen weit über den Winter-Durchschnittswerten. Israel lockerte die Infektionsschutzmaßnahmen bereits im Februar. In der Folge wurden etwa am Universitätsklinikum in Ashdod im Juni und Juli mehr Kinder mit RSV-Infektion pro Woche behandelt als in typischen Herbst- und Winterwochen. Auch dort gab es in der vorangegangenen Saison keinen einzigen stationären Fall. 

In Deutschland trifft die RSV-Welle auf Kinderkliniken, die seit Jahren an Unterfinanzierung leiden. Die personalintensive und interventionsarme Pädiatrie ist im DRG-System im Nachteil. Während des Lockdowns gingen die Fallzahlen in der Kinderheilkunde stärker als in anderen Fachrichtungen zurück, wodurch noch weniger Einnahmen generiert wurden. Pädiatrische Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) setzen sich seit Langem für eine bedarfsgerechte Finanzierung ein. Das bisherige Versäumnis der Politik, entsprechend zu handeln, macht sich jetzt bemerkbar: Laut Medienberichten sind viele Kinderkliniken bereits an ihrer Kapazitätsgrenze. Umso wichtiger ist daher, dass möglichst viele Ärzt:innen sich am DGPI-Survey beteiligen.

Gegen viele weitere Infektionskrankheiten können wir uns durch Impfungen schützen. Eine Übersicht über die aktuellen STIKO-Empfehlungen bietet der AMBOSS-Impfkalender.

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Quellen

  1. Lange M, Happle C, Hamel J, et al. Non-appearance of the RSV season 2020/21 during the covid-19 pandemic. Deutsches Aerzteblatt Online. 2021. doi:10.3238/arztebl.m2021.0300
  2. Yeoh DK, Foley DA, Minney-Smith CA, et al. Impact of Coronavirus Disease 2019 Public Health Measures on Detections of Influenza and Respiratory Syncytial Virus in Children During the 2020 Australian Winter. Clin Infect Dis. 2021;72(12):2199-2202. doi:10.1093/cid/ciaa1475
  3. Buda S, Dürrwald R, Biere B, et al. und die AGI-Studiengruppe: ARE-Wochenbericht KW 40/2021; Arbeitsgemeinschaft Influenza – Robert KochInstitut. doi: 10.25646/9127
  4. Welliver RC, Kaul TN, Putnam TI, Sun M, Riddlesberger K, Ogra PL. The antibody response to primary and secondary infection with respiratory syncytial virus: kinetics of class-specific responses. J Pediatr. 1980;96(5):808-813. doi:10.1016/s0022-3476(80)80547-6
  5. Liese J, Herting E, Stock P et al. für die DGPI/GNPI/GPP/DGPK/GfV/DVV. Empfehlung einer vorgezogenen RSV-Prophylaxe aufgrund einer Zunahme an Aufnahmen mit Nachweis von respiratorischem Synzytial Virus (RSV). September 2021. https://dgpi.de/vorgezogene-rsv-prophylaxe-2021/. Accessed October 21, 2021. 
  6. Foley DA, Yeoh DK, Minney-Smith CA, et al. The Interseasonal Resurgence of Respiratory Syncytial Virus in Australian Children Following the Reduction of Coronavirus Disease 2019-Related Public Health Measures [published online ahead of print, 2021 Feb 17]. Clin Infect Dis. 2021;ciaa1906. doi:10.1093/cid/ciaa1906
  7. Weinberger Opek M, Yeshayahu Y, Glatman-Freedman A, Kaufman Z, Sorek N, Brosh-Nissimov T. Delayed respiratory syncytial virus epidemic in children after relaxation of COVID-19 physical distancing measures, Ashdod, Israel, 2021. Euro Surveill. 2021;26(29):2100706. doi:10.2807/1560-7917.ES.2021.26.29.2100706