5 Nahrungsergänzungsmittel im Fokus – Was ist für die Praxis relevant?

Philipp Winghart - Freitag, 23.9.2022
Mehrere Nahrungsergänzungsmittel auf einer Handfläche. Neue Nahrungsergänzungsmittel im AMBOSS-Blog.

Fast die Hälfte aller Deutschen nimmt Nahrungsergänzungsmittel ein. Gleichzeitig drängen neue, teils gefährliche Präparate auf den Markt. Was Behandelnde für die Praxis wissen sollten.

Das Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln boomt. Etwa drei Milliarden Euro setzten deutsche Apotheken1 allein im letzten Jahr mit Vitaminen, Mineralstoffen und Co. um, und auch im Netz brummt das Geschäft: Zahlreiche Influencer:innen preisen in den sozialen Medien ihre Produkte an – teils mit fragwürdigen Methoden. In einer Stichprobe von 565 Instagram-Stories waren 90% der gesundheitsbezogenen Angaben rechtlich nicht zulässig2. Wir haben fünf im Netz beliebte Nahrungsergänzungsmittel unter die Lupe genommen.

Auf einen Blick

  1. Algen: Zu viel Iod und Schwermetalle
  2. Selen: Knoblauchduft und Diabetes mellitus
  3. „Vitamin B17“: Amygdalin/Laetrile und eine bittere Wahrheit
  4. „Fatburner“: Hyperthermie durch Artilleriesprengstoff 
  5. Superfoods: Interaktion mit Vitamin-K-Antagonisten
  6. Fazit: Ärztliche Aufklärung statt digitaler Desinformation

1. Algen: Zu viel Iod und Schwermetalle

Algenpräparate sind als Nahrungsergänzungsmittel häufig unter den Namen „Seetang“ oder „Kelp“ zu kaufen und sollen je nach Vertreiber das Immunsystem stärken, bei ADHS helfen oder allergische Reaktionen mildern. Klinisch ist vor allem relevant, dass Meeresalgen potenziell gesundheitsgefährdende Mengen Iod anreichern. Einige Präparate enthalten pro Gramm mehr als die 20-fache Menge der empfohlenen Tageshöchstdosis. Warnhinweise auf Verpackungen fehlen aber zuweilen, sodass Menschen mit Schilddrüsenerkrankungen teils nicht wissen, welcher Gefahr sie sich aussetzen. Es kann daher sinnvoll sein, Erkrankte proaktiv nach der Einnahme zu fragen. Auch Schwermetalle wie Blei, Aluminium, Arsen und Cadmium sowie hepatotoxische bakterielle Toxine finden sich oft in Algenpräparaten3

Fundierte Informationen zu Einteilung, Diagnostik und Therapie der thyreotoxischen Krise finden sich im AMBOSS-Kapitel Hyperthyreose.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

2. Selen: Knoblauchduft und Diabetes mellitus

Als Bestandteil des Enzyms Glutathionperoxidase schützt Selen unsere Zellen vor freien Radikalen. Das macht es attraktiv für die Anti-Aging-Industrie; außerdem soll das Spurenelement je nach Herstellerangaben auch kardioprotektiv wirken. Ärzt:innen sollten daher über mögliche Überdosierungen aufklären. Bereits ab etwa 0,6 mg pro Tag kann es zu kumulativen Intoxikationen kommen, die sich klinisch anhand von gastrointestinalen Beschwerden, Müdigkeit, Nagelverlust und einem charakteristischen Knoblauchatem manifestieren. Zudem steht Selen als Nahrungsergänzungsmittel im Verdacht, das Risiko zu erhöhen, einen Diabetes mellitus Typ 2 zu entwickeln. Ob und wie Selen das Altern beeinflusst, wird aktuell noch kontrovers diskutiert4, in der Primärprävention oder Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen spielt es jedenfalls keine Rolle5

3. „Vitamin B17“: Amygdalin/Laetrile und eine bittere Wahrheit

Influencer:innen, aber auch viele Komplementärmediziner:innen preisen das sogenannte Vitamin B17 als Mittel gegen Ohrenschmerzen oder als „natürliches Chemotherapeutikum“ an. Anders als der Name vermuten lässt, handelt es sich dabei nicht um ein Vitamin, sondern um das Glykosid Amygdalin, das auch Laetrile heißt. Der Stoff, der aus bitteren Aprikosenkernen stammt, gibt während des Verdauungsvorgangs hochgiftige Blausäure ab. Hinsichtlich des postulierten Nutzens in der Krebstherapie zeigt die Studienlage6 keinen klinischen Hinweis auf einen Benefit. Das Risiko einer Intoxikation hingegen ist beträchtlich. Erwachsene, die dennoch nicht auf Amygdalin verzichten wollen, sollten maximal zwei bittere Aprikosenkerne pro Tag7 essen. Bei Kindern können bereits kleine Mengen Amygdalin zu schweren Blausäurevergiftungen führen. 

4. „Fatburner“: Hyperthermie durch Artilleriesprengstoff 

Sogenannte „Fatburner“ sind vor allem in der Fitness- und Bodybuilder-Szene beliebt. Sie sollen den Stoffwechsel anregen und so helfen, Fett zu verbrennen. Gerade Produkte aus außereuropäischen Onlineshops enthalten allerdings oft den lebensgefährlichen und daher in Deutschland verbotenen Sprengstoff Dinitrophenol. Er reduziert den Protonengradienten zwischen mitochondrialer Matrix und Intermembranraum, sodass – ähnlich wie bei der Wärmegewinnung durch braune Fettzellen bei Säuglingen – Energie in Form von Wärme frei wird. Immer wieder führen Dinitrophenolvergiftungen zu Todesfällen durch Hyperthermie oder Herzrhythmusstörungen. Auch kumulative Intoxikationen sind möglich und können letal enden8

Pflanzliche „Fatburner“ aus dem Netz sind ebenfalls oft problematisch: Sie enthalten unter anderem den verbotenen α2-Adrenozeptor-Antagonisten Yohimbin9 aus der Rinde des Yohimbe-Baumes. Auch das Sympathomimetikum Synephrin10, das aus Bitterorangen gewonnen wird, ist oft in pflanzlichen „Fatburnern“ enthalten. Beide Stoffe können unter anderem zu Tachykardie und Hypertonie führen; insbesondere wenn sie zusätzlich mit Koffein versetzt sind, was häufig der Fall ist. Faustregel: Von Präparaten mit der Aufschrift „Burner“ kann in der Regel guten Gewissens abgeraten werden.

5. Superfoods: Interaktion mit Vitamin-K-Antagonisten

Der Marketingbegriff „Superfoods“ fasst einige Lebensmittel zusammen, die aufgrund ihres Gehalts an Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen besonders gesund sein sollen. Dazu gehören beispielsweise Chia-Samen, Quinoa und Goji-Beeren. Obwohl „Superfoods“ verglichen mit heimischen Früchten und Gemüsesorten oft keinen Mehrwert bieten, hält fast die Hälfte der Bevölkerung sie für besonders gesundheitsförderlich11. Auch in Form von Nahrungsergänzungsmitteln sind sie beliebt. 

Für die ärztliche Aufklärung ist es wichtig zu wissen, dass Goji-Beeren und Chia-Samen mit Vitamin-K-Antagonisten interagieren, wahrscheinlich über eine Blockade von CYP2C9. Bereits im Jahr 2013 veröffentlichte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) vier Fallberichte, in denen der INR nach dem Konsum von Goji-Beeren rasch und deutlich anstieg, teilweise innerhalb eines Monats von 2,5 auf 4,112. Auch hier kann es sinnvoll sein, proaktiv aufzuklären.

Fazit: Ärztliche Aufklärung statt digitaler Desinformation

Nahrungsergänzungsmittel sind Lebensmittel, keine Medikamente. Sie können Krankheiten weder lindern noch heilen. Gerade in den sozialen Medien vermitteln Influencer:innen aber – oft durch irreführende Angaben – ein gegenteiliges Bild. Da nur etwa ein Drittel der Menschen, die Nahrungsergänzungsmittel konsumieren, ihren Behandelnden auch davon berichten13, bleibt eine ärztliche Einordnung häufig aus. Umso wichtiger ist es, gezielt danach zu fragen, beispielsweise bei der Arzneimittelanamnese. Auch Fragebögen im Wartezimmer können helfen. Das Spektrum der Neben- und Wechselwirkungen ist klinisch zu relevant, um die Aufklärung darüber Influencer:innen oder der Kosmetikindustrie zu überlassen.

Phytotherapie im AMBOSS-Podcast

Nicht nur Nahrungsergänzungsmittel, auch pflanzliche Arzneimittel sind bei vielen Patient:innen beliebt. Im AMBOSS-Podcast nehmen wir beliebte pflanzliche Arzneimittel unter die Lupe und prüfen: Wie ist die Studienlage? Und für welche Indikationen liegt eine Zulassung der EMA vor?

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Quellen

  1. IQVIA, Nahrungsergänzungsmittel aus der Apotheke 2021, https://www.iqvia.com/de-de/locations/germany/library/infographics/nahrungserganzungsmittel-aus-der-apotheke-2021
  1. Jahresbericht 2021 – Überwachung Lebensmittel - Bedarfsgegenstände - Kosmetika - Trinkwasser, Futtermittel, Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, 07/2022, S. 15.
  1. Pressemitteilung Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, “Sushi-Blätter häufig mit Schadstoffen belastet, auch Jodgehalt oft zu hoch”, 28.05.2020, https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/01_lebensmittel/2020/2020_05_28_PI_Sushi-Blaetter.html
  1. Cai Z, Zhang J, Li H. Selenium, aging and aging-related diseases. Aging Clin Exp Res. 2019;31(8):1035-1047. doi:10.1007/s40520-018-1086-7
  1. Navarro-Alarcon M, Cabrera-Vique C. Selenium in food and the human body: a review. Sci Total Environ. 2008;400(1-3):115-141. doi:10.1016/j.scitotenv.2008.06.024
  1. Milazzo S, Horneber M. Laetrile treatment for cancer. Cochrane Database Syst Rev. 2015;2015(4):CD005476. Published 2015 Apr 28. doi:10.1002/14651858.CD005476.pub4
  1. Bundesinstitut für Risikobewertung, aktualisierte Stellungnahme Nr. 009/2015 des BfR, https://www.bfr.bund.de/de/a-z_index/aprikosenkerne-9425.html
  1. “Nahrungsergänzungsmittel, die Dinitrophenol (DNP) enthalten, können zu schweren Vergiftungen bis hin zu Todesfällen führen ”, Aktualisierte Mitteilung Nr. 046/2015, vom 26.11.2015
  1. S. Klenow, K.P. Latté, U. Wegewitz, Bundesinstitut für Risikobewertung, “Risikobewertung von Pflanzen und pflanzlichen Zubereitungen”, 01/2012
  1. Bundesinstitut für Risikobewertung, “Gesundheitliche Bewertung von synephrin- und koffeinhaltigen Sportlerprodukten und Schlankheitsmitteln ”, Stellungnahme Nr. 004/2013, 16.11.2012
  1. Bundesinstitut für Risikobewertung, “Chia, Goji & Co. - Superfoods gehören für etwa die Hälfte der Bevölkerung zu einer gesunden Ernährung”, 39/2020, 18.11.2020
  1. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bulletin zur Arzneimittelsicherheit (2013; 1: 15-17), S. 13 ff
  1. Gardiner P, Sadikova E, Filippelli AC, White LF, Jack BW. Medical reconciliation of dietary supplements: don't ask, don't tell. Patient Educ Couns. 2015;98(4):512-517. doi:10.1016/j.pec.2014.12.010