'Armut macht krank'

Philippa von Schönfeld - Sonntag, 15.8.2021
AMBOSS Medizin Blog Armut macht krank

Menschen in ärmeren Stadtteilen erkranken öfter und haben einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem. Das Poliklinik Syndikat bietet eine alternative ambulante Versorgung – wie das funktioniert, hat uns Tobias Filmar, Psychologe in der Poliklinik Veddel in Hamburg, erklärt.

AMBOSS: Poliklinik Syndikat klingt erst einmal kryptisch. Was verbirgt sich dahinter?

Tobias Filmar: Das ist der bundesweite Zusammenschluss von Versorgungseinheiten, die als gemeinsames Konzept die interdisziplinäre Versorgung an einem Ort verfolgen. Dazu gehören politische Interventionsabsichten, was das Verständnis von Gesundheit und Prävention angeht. Das Syndikat gibt es seit ungefähr zwei Jahren, aktuell gehören fünf Gruppen dazu. Wir organisieren uns gemeinsam, haben als Basis ein Syndikats-Papier und nutzen das Wahljahr 2021, um Lobbyarbeit zu betreiben.

AMBOSS: Was macht das Thema Gesundheit politisch so relevant? 

Tobias Filmar: Da gibt es verschiedene Ebenen: Unser Gesundheitssystem ist schon lange nicht mehr solidarisch. Es versteht Gesundheit als Ware und unterliegt damit kapitalistischen Zwängen. Das merken wir in unserer Arztpraxis: Wir sind dazu gezwungen, effizient zu wirtschaften. Das hat aus unserer Sicht nichts mit guter Versorgung zu tun. Das Ganze findet wiederum in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen statt, in dem soziale Ungleichheiten dazu führen, dass die Chancen auf Gesundheit ungleich verteilt sind. Menschen, die in Armut leben, haben eine seit Jahrzehnten zahlenmäßig belegte und wahrnehmbare stärkere Krankheitsbelastung als andere Bevölkerungsgruppen. Und zugleich haben sie einen erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem. Aus unserer Sicht ist Gesundheit insofern politisch, da sie in allen politischen Feldern mitbedacht werden muss: sozialer Wohnungsbau, Arbeitsmarktpolitik, Fragen von Mobilität, Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen. Das ist die gesellschaftliche Struktur, in der auch Prävention ansetzen sollte.  

AMBOSS: Prävention ist eine der Säulen, auf denen das Konzept eurer Poliklinik Veddel in Hamburg fußt. Wie entstand die Klinik als älteste der fünf Mitgliedsgruppen?

Tobias Filmar: Die Gruppe, die die Poliklinik Veddel aufgebaut hat, gibt es seit etwa neun Jahren. Es wurden viele Jahre Theoriearbeit geleistet und Bildungsreisen zu ähnlichen Projekten unternommen. Mit der Einigung auf einen Stadtteil wurde es dann konkreter und anschließend ging es um den Antrag einer Sonderzulassung für den Kassensitz, die nach einem Widerspruchsverfahren auch bewilligt wurde. 2017 hat die Poliklinik Veddel schließlich mit einer Hausarztpraxis und Sozialberatung ihre Türen geöffnet. Und seitdem sind wir nach und nach gewachsen. 

AMBOSS: Wie ist die interdisziplinäre Versorgung auf der Veddel heute aufgebaut?

Tobias Filmar: Wir sind mittlerweile sechs Fachbereiche: Wir bieten hausärztliche Versorgung, Sozial- und Gesundheitsberatung, psychologische Beratung, ein Hebammenangebot, eine Community Health Nurse und Gemeinwesenarbeit – die verstehen wir als Gesundheitsarbeit.

AMBOSS: Was ist eine “Community Health Nurse”?

Tobias Filmar: Die Idee ist, die Pflege als Versorgungseinheit zu stärken und eine Pflegesprechstunde als Teil des ambulanten Angebots zu integrieren – bei uns vor Ort wie auch in aufsuchender Arbeit. So soll zusätzlich zur Gemeinwesenarbeit eine Verbindung entstehen zwischen den Stadtteilbewohner:innen und dem Gesundheitszentrum. Es ist ein großes Forschungsprojekt, das auf drei Jahre angesetzt ist, um auch konzeptuell konkreter zu werden: Wo liegen Vorteile, und wo Schwierigkeiten?

AMBOSS: Da passt der Begriff der stadtteilorientierten Medizin dann besonders gut.

Tobias Filmar: Ja, es geht darum, stadtteilnah zu versorgen und das nicht nur mit den klassischen Gesundheitsberufen, sondern eben auch mit Blick auf die Lebensverhältnisse, Themen wie arbeitsrechtliche Fragen, Wohnen und Asyl aufzugreifen und dazu auch gemeinsam spezifische Angebote zu entwickeln.

AMBOSS: Gemeinsam entwickeln, sich gegenseitig unterstützen und voneinander lernen – wie funktioniert das im Alltag konkret? 

Tobias Filmar: In den ersten Jahren geht es einfach darum, Bedürfnisse kennenzulernen: Was sind überhaupt die Anliegen der Menschen? Wir kommen ja mit unseren eigenen Lebenswelten und Realitäten an und müssen erstmal abgleichen, was für Themen dort aktuell sind. So können wir die Menschen vor Ort auch als Expert:innen anerkennen – wir bleiben Expert:innen unserer Profession und begegnen Expert:innen ihrer eigenen Lebenswelt samt Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten… Ein konkretes Beispiel beim Thema Wohnen ist der Schimmel. Unser eigener Impuls wäre vielleicht die Konfrontation mit dem städtischen Wohnungsbau, aber da muss ein Austausch stattfinden – denn es gibt auch die Sorge, die Chance auf eine andere Wohnung zu verlieren.

AMBOSS: Richten sich die Polikliniken an alle Menschen, die im Stadtteil wohnen, oder ist das Angebot an Bedingungen geknüpft? 

Tobias Filmar: Es gibt keine Bedingungen. Wir versuchen keine Ausschlüsse zu generieren, sprachlich alles möglich zu machen und versorgen auch viele nicht-versicherte Menschen. An dieser Stelle kann man direkt anmerken: Die Möglichkeit, nicht-versicherte Menschen zu versorgen, hat jeder Arzt und jede Ärztin, die eine Praxis hat. Das ist auch einer unserer Kritikpunkte: Es sind wirtschaftliche Unternehmer:innen und sie dürfen frei entscheiden, was sie für ihre Leistungen wie und wem in Rechnung stellen. Und wenn sie sagen: “Ich behandle jeden zehnten Patienten und jede zehnte Patientin, ohne Geld dafür zu nehmen”, dann geht das unabhängig von der Poliklinik.

AMBOSS: Ihr wollt den ambulanten Sektor reformieren. Wie seht ihr die aktuelle hausärztliche Versorgung?

Tobias Filmar: Es besteht aktuell eine hausärztliche Vorherrschaft, alles wird darüber verschrieben und abgerechnet. Diese gelähmte und überholte Struktur könnte das Projekt einer Community Health Nurse auflockern. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Versorgungsplanung: In Hamburg und an vielen anderen Orten gilt die ganze Stadt als ein Versorgungsamtssektor und wenn dann auf 10.000 Einwohner:innen 100 Hausärzt:innen kommen, gilt Hamburg als versorgt. Dass aber diese Hausärzt:innen alle in ein, zwei Stadtvierteln angesiedelt sind, das interessiert dabei nicht. Und dann entstehen Strukturen wie zum Zeitpunkt, als die Poliklinik in Veddel öffnete, wo fast 5.000 Menschen leben: Da gab es nur eine hausärztliche Praxis, mehr nicht. Keine Apotheke, keinen Drogeriemarkt, keine Fachärzt:innen. 

AMBOSS: Die Versorgung aller Menschen in einem Stadtteil ist sicherlich nicht leicht. Welche Hürden gibt es im tagtäglichen Ablauf?

Tobias Filmar: Es hängt letztendlich viel an den finanziellen Mitteln, um neuzeitliche Ressourcen zu schaffen. Gerade die interdisziplinäre Arbeit ist bei den Kassen nicht abbildbar. Aktuell leisten wir vieles ausschließlich aus ideologischer Motivation. Dazu sind natürlich nicht viele Versorger:innen zu bewegen und das kann auch nicht das Ziel sein. Das Ziel sollte eher sein, dass es dafür eine feste Vergütung gibt. Und dann stellt sich aber auch die Frage, wie wir ausgebildet werden. Wir nehmen immer noch wahr, dass viele den Wunsch haben, auf diese Art gemeinsam zu arbeiten, aber in einer anderen Arbeitswelt sozialisiert sind. So haben wir täglich damit zu tun, eine gemeinsame Sprache zu finden und Hierarchien zu überwinden. Diese Kultur, ebenso wie juristische und sozialrechtliche Rahmenbedingungen, die sich über Jahrzehnte etabliert haben, sind eigene Hürden. Auch die Menschen, die zu uns kommen, haben es anders gelernt – also, was Partizipation angeht. Dann fällt es schwer, eigene Anliegen vorzutragen. Auf beiden Seiten muss ein Umlernen stattfinden.

AMBOSS: Stichwort Partizipation: Wie kann man sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit vorstellen? 

Tobias Filmar: Zum einen gibt es die Möglichkeit, uns interdisziplinär mit der versorgten Person zusammen in einer Fallkonferenz zu besprechen. Das heißt, dass wir von der Seite der Versorgenden aus Strukturen vorhalten, mit denen wir das problemlos anbieten können. Damit greifen wir im ambulanten Sektor zurück auf das Prinzip der alten Polikliniken, dass diverse Gesundheitsberufe zusammensitzen und gemeinsam regelmäßig sprechen und dazu eben die Menschen einladen, um die es geht. Wir wollen noch viel mehr dahin kommen, dass die von uns versorgten Menschen das auch selber einfordern und sagen: “Ich möchte das gerne, dass alle, die hier so um mich herumwuseln, mal zusammenkommen und ich mit ihnen und sie mit mir darüber sprechen, was der Fahrplan ist und was ich mir wünsche und vorstelle.” 

AMBOSS: Wie kann so eine Konstellation aussehen?

Tobias Filmar: Zum Beispiel eine Sozialberatung mit psychologischer Beratung und Hebamme. Wenn etwa eine Schwangere oder eine junge Mutter im Wochenbett Depressionen befürchtet oder die Miete nicht zahlen konnte und alle Fachbereiche irgendwie involviert sind.

AMBOSS: Die Poliklinik Veddel beruht auf den Säulen Prävention, multiprofessionelle Zusammenarbeit, Evaluation und Forschung. Woran wird geforscht?

Tobias Filmar: Seit etwa vier Monaten haben wir zum ersten Mal eine bezahlte Stelle für die Forschung. Das ist die Säule, deren Aufbau am längsten gebraucht hat. Unser Ziel ist es, Gesundheitsdaten viel kleinräumiger zu erheben, näher am Sozialraum. Wir brauchen Daten, mit denen sich die Lebenssituation gut abbilden und die Bedarfslage erheben lassen. Daraus können wir für uns Rückschlüsse ziehen, was die Versorgung und Gemeinwesenarbeit angeht, und auch auf politischer Ebene Forderungen stellen. Wir planen eine Basisdatenerhebung im Stadtteil für das nächste Jahr.

AMBOSS: Möchtest du unseren Leser:innen noch etwas mitgeben?

Tobias Filmar: Die Arbeit in einem interdisziplinären Team macht viel mehr Spaß! Ich habe so viele Kompetenzen kontinuierlich direkt neben mir – das fühlt sich einfach stimmig und sicher an. Es ist außerdem sehr schön, wenn Klient:innen von sich aus bemerken, wie gut es ist, multiprofessionell versorgt zu sein. Ich wünschte, das würden mehr Menschen einfordern! Der Hauptappell geht sicher an die Versorgenden: Habt den Mut, diesen Weg auszuprobieren und vielleicht selbst eine Poliklinik zu gründen.  

 

Tobias Filmar ist Psychologe, Psychoonkologe und Tischler in selbstständiger Tätigkeit. Er war lange Zeit in einem Projekt für junge Erwachsene in prekärer Lebenslage tätig. In der Poliklinik Veddel arbeitet er als systemischer Berater und koordiniert die multiprofessionelle Zusammenarbeit.

 

Weiterführende Informationen zu Konzept und Angeboten sind auf der Homepage des  Poliklinik Syndikats  und der Poliklinik Veddel zu finden.

Verschiedene Formen und Maßnahmen der Prävention sind im entsprechenden AMBOSS-Kapitel zu finden.

AMBOSS unterstützt das Poliklinik Syndikat mit freiem Zugriff auf das ärztliche Nachschlagewerk. Wer auch  unterstützen  möchte oder Interesse hat  aktiv zu werden, findet die Kontaktdaten in den Links.

Weitere Aspekte zum Thema humanitäre Hilfe, beleuchten wir im Experteninterview mit Dr. med. Jan Wynands, Leiter der AG Global Surgery.

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