Evidenzbasierte Medizin – Wie lese ich eine klinische Studie richtig?
Evidenzbasierte Medizin erfordert neben klinischer Expertise auch die Fähigkeit, aktuelle Studienergebnisse kritisch beurteilen zu können. Ein Leitfaden.
Warum lassen wir Pneumonie-Erkrankte nicht mehr zur Ader und testen bei gastroduodenalen Ulzera auf Helicobacter pylori? Weil die Evidenz dagegen beziehungsweise dafür spricht. Eine weltweite systematische Forschung erneuert das medizinische Wissen stetig. Was im eigenen Studium noch galt, stellt sich manchmal bereits wenige Jahre später als falsch oder veraltet heraus.
Wie evidenzbasierte Medizin in der Praxis aussehen kann, erklären im Interview Felix Hambitzer, Fatih Yalcin und Dario von Wedel von Berlin Exchange Medicine, dem ersten Student Journal aller Gesundheits- und Lebenswissenschaften im deutschsprachigen Raum.
Auf einen Blick
- Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis
- Klinische Studien effizient lesen
- Wie erkenne ich die Qualität einer medizinischen Studie?
- Strukturelle Probleme in der medizinischen Forschung
- Was müsste sich in der medizinischen Lehre und Weiterbildung verbessern?
Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis
AMBOSS-Blog: Anfang der 90er-Jahre gründete sich in Kanada eine akademische Bewegung, die sich unter dem Namen “Evidence-Based Medicine” weltweit verbreitet hat. Was hat es damit auf sich?
Berlin Exchange Medicine: Die evidenzbasierte Medizin bietet einen Rahmen, um individuell die besten therapeutischen Entscheidungen zu treffen. Dafür vereint sie die klinische Expertise der Ärzt:innen mit der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz aus der systematischen Forschung. Klinische Entscheidungen werden nicht mehr „aus dem Bauch heraus“ getroffen oder „weil wir es immer schon so gemacht haben“, sondern weil Studien sie untermauern und ein positiver Effekt als gesichert gilt.
AMBOSS: Wie kann das konkret aussehen?
Berlin Exchange Medicine: Sagen wir, eine Dermatologin behandelt eine Patientin, die an einer seltenen Hautkrankheit leidet. Sie liest in einer Fachzeitschrift vom neuartigen Verfahren „X“ und fragt sich, ob ihre Patientin davon profitieren könnte. In der entsprechenden Fachliteratur recherchiert sie, ob und wie das Verfahren „X“ bei der Therapie dieser seltenen Hautkrankheit abschneidet. Anschließend bewertet sie die Studien kritisch hinsichtlich ihrer Validität und Evidenz und berät die Patientin entsprechend. Je nach Recherche-Ergebnis evaluiert die Ärztin ihre bisherige Vorhergehensweise und passt sie gegebenenfalls an.
Klinische Studien effizient lesen
AMBOSS: Das heißt, seitens der Behandelnden ist neben klinischer Erfahrung auch regelmäßige wissenschaftliche Recherche gefragt. Im hektischen Berufsalltag ist das manchmal kaum möglich – und wenn sich dann doch eine Lücke bietet, muss es schnell gehen. Wie sollte man sich einem Paper nähern, um es zügig und strukturiert durchzuarbeiten?
Berlin Exchange Medicine: Bei der unübersichtlichen Menge an Publikationen ist es nicht möglich, alles bis ins letzte Detail zu verinnerlichen. Deswegen ist effizientes Lesen wichtig. Das kann so aussehen:
- Zunächst sollte man sich das Ziel der Recherche vor Augen führen. Welche Intention habe ich? Was ist meine Frage? Es kann helfen, sich diese beiden Punkte aufzuschreiben.
- Wo recherchiere ich? Nützliche Plattformen sind beispielsweise PubMed® oder die Suchmaschine „Google Scholar“.
- Im nächsten Schritt gilt es, Titel und Abstract einzuordnen: Hilft der Artikel bei der Beantwortung meiner Frage? Wenn nicht, dann weiter zum nächsten Paper!
- Erscheint der Artikel relevant, sollte man seinen Aufbau, die Länge und die Methodik überfliegen und dabei auch einen Blick auf die (Zwischen-)Überschriften werfen.
- Nicht nur die Methoden und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen, sondern auch die Qualität des Artikels als Ganzes sollte kritisch bewertet werden.
- Zuletzt gilt es, die Ergebnisse über alle identifizierten Studien hinweg zu bewerten und gewonnene Einsichten je nach Evidenzlage klinisch anzuwenden – oder nicht.
Diese Leitfragen können insbesondere Menschen helfen, die bisher erst wenige Paper gelesen haben. Sie erleichtern den Einstieg und machen es einfacher, den Überblick zu behalten. Detailfragen erfordern manchmal auch eine tiefergehende Lektüre.
Wie man die Variablen einer Studie einordnet und wie Lage- und Streumaße charakterisiert werden – kompakt im AMBOSS-Kapitel Angewandte Statistik.
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Wie erkenne ich die Qualität einer medizinischen Studie?
AMBOSS: Studien kritisch zu bewerten ist in der evidenzbasierten Medizin entscheidend. Wie schätze ich die Qualität einer Publikation am besten ein?
Berlin Exchange Medicine: In jedem Abschnitt – vom Titel bis zur Schlussfolgerung – finden sich Hinweise auf die Qualität einer Studie:
- Titel: Deckt sich der Titel mit der Methodik sowie den Ergebnissen und Schlussfolgerungen des Artikels?
- Abstract: Hilft das Abstract, den Inhalt des Artikels einzuschätzen? Enthält es alle relevanten Informationen des Artikels und kann für sich alleine stehen?
- Einleitung: Ist die Hypothese beziehungsweise die Forschungsfrage klar formuliert?
- Methoden: Ließe sich der Versuch mithilfe der Beschreibungen reproduzieren? Sind die Methoden verständlich beschrieben und adäquat gewählt?
- Ergebnisse: Sind die Ergebnisse klar, verständlich und neutral präsentiert?
- Diskussion und Schlussfolgerungen: Wird die Hypothese/Forschungsfrage beantwortet? Lassen die erhobenen Daten sowie die verwendete Methodik die Schlussfolgerungen zu?
Bei übertriebener oder uneindeutiger Sprache sollte man misstrauisch werden – und im Zweifelsfall selbst nachrechnen. Insbesondere beim p-Wert basteln manche Autor:innen so lange herum, bis schließlich irgendetwas signifikant ist. Das kommt so häufig vor, dass es dafür sogar einen eigenen Namen gibt: p-Hacking.
AMBOSS: Welche Rolle spielt das Renommee des Journals bei der Einschätzung und wie bewertet man die Qualität eines Journals?
Berlin Exchange Medicine: Der Impact Factor (IF) ist sicherlich ein Indiz. Er gibt an, wie oft die Artikel eines Journals pro Jahr durchschnittlich in anderen wissenschaftlichen Publikationen zitiert werden. Aber nicht unkritisch werden: Über die Qualität der Veröffentlichungen sagt er nichts aus. Auch ein Blick in die Publikationshistorie und die Submission Guidelines einer Zeitschrift kann helfen. Hat das Journal bereits hochwertige Paper veröffentlicht und fördert es durch eigene Guidelines gute wissenschaftliche Praxis? Gibt es transparente Qualitätssicherungsmaßnahmen? Diese Fragen können bei der Einschätzung helfen.
AMBOSS: Und woran sind schlechte Journals zu erkennen?
Berlin Exchange Medicine: Vorsicht ist geboten, wenn Zeitschriften zwar Publikationsgebühren verlangen, aber ohne redaktionelle Prüfung oder Peer Review veröffentlichen. Es gibt eine ganze Industrie von sogenannten Raubjournalen (Predatory Journals), die abkassieren und zum Teil richtigen Unsinn veröffentlichen. Hier kann beispielsweise ein Blick in die PubMed®-Journal-List helfen.
Strukturelle Probleme in der medizinischen Forschung
AMBOSS: Evidenzbasierte Medizin hängt maßgeblich von der Qualität der zugrunde liegenden Forschung ab. Da Forschungsgelder aber meist anhand der Quantität der Veröffentlichungen verteilt werden, stehen Forschende unter erheblichem Publikationsdruck. Wo bestehen aktuell die größten strukturellen Probleme in der medizinischen Forschung?
Berlin Exchange Medicine: Die COVID-19-Pandemie hat das konventionelle Publikationssystem an seine Grenzen gebracht. Eine große Anzahl teils hochkomplexer Studien traf auf viel zu wenige Peer-Reviewer:innen. Der von vielen Journals aktuell praktizierte Review-Prozess ist ohnehin langsam und bindet enorme Ressourcen. Wie die Forschungsgelder ausgeschüttet werden, verschärft das Problem aber noch zusätzlich: Die Verteilung hängt neben der Publikationsfrequenz vor allem vom Impact Factor der Journals ab, in denen veröffentlicht wird. So gut wie alle Forschenden wollen daher in den renommiertesten Zeitschriften publizieren. Klappt es dort nicht, reichen sie ihre Arbeiten nach absteigendem Impact Factor bei immer weiteren Journals ein. Das heißt, ein und dieselbe Studie durchläuft den Review-Prozess mehrere Male. Das ist redundante und völlig wirkungslose Arbeit.
AMBOSS: Und deswegen gibt es zu wenig Peer-Reviewer:innen?
Berlin Exchange Medicine: Das ist sicher ein wichtiger Punkt. Hinzu kommt, dass der derzeit häufig praktizierte Peer-Review-Prozess intransparent ist. Was haben die Reviewenden angemerkt und wie haben die Autor:innen daraufhin das Paper angepasst? Es wäre wichtig, das nachvollziehen zu können. Dass es unter den Autor:innen regelrechte Superstars gibt, aber niemand die Reviewer:innen kennt, kommt nicht von ungefähr. Ihre Arbeit ist praktisch unsichtbar. Diese Intransparenz verringert die Motivation, einen Artikel zu überprüfen, zumal diese Tätigkeit meistens unbezahlt ist.
AMBOSS: Was sollte sich an diesem Prozess ändern?
Berlin Exchange Medicine: Wir sind der Meinung, dass ein gutes Review für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ähnlich relevant ist wie die eigentliche Forschungsarbeit. Wer einen robusten, replizierbaren und praxisrelevanten Mehrwert erzielen möchte, darf sich nicht nur auf das Schreiben konzentrieren. Das greift zu kurz. Eine Publikation ist Teamwork und sowohl Editing als auch Review spielen darin eine außerordentlich wichtige Rolle. Würden wir diese „Zwei-Klassen-Betrachtung“ aufgeben, könnten wir bestehende Probleme adressieren, die Qualität der Reviews verbessern und den Publikationsdruck mindern. Das käme auch der evidenzbasierten Medizin und dadurch letztlich den Patient:innen zugute.
AMBOSS: Viele Forschende fordern die Präregistrierung auszuweiten – noch vor Beginn der eigentlichen Studienarbeit sollen beispielsweise Hypothese, Methoden und Auswertung transparent in einem Register festgehalten werden. Wie könnte das aussehen?
Berlin Exchange Medicine: Eine Präregistrierung würde die medizinische Forschung deutlich verbessern, insbesondere wenn sie zweistufig ablaufen würde: In einem ersten Schritt bekämen Forschende durch einen frühzeitigen Peer-Review-Prozess kritisches Feedback zu ihrer Studienplanung. Gleichzeitig würden die jeweiligen Journals ihnen bereits vor der Datenerhebung eine Veröffentlichung zusagen. Nachdem die Studie dann geschrieben ist, könnte in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob alles entsprechend der Präregistrierung umgesetzt wurde. Sinnvolle und begründete Änderungen wären dabei natürlich möglich.
AMBOSS: Inwiefern würde sich die medizinische Forschung dadurch verbessern?
Berlin Exchange Medicine: Der sogenannte Publikationsbias würde sich deutlich reduzieren. Im Moment werden vor allem signifikante Ergebnisse publiziert. Das liegt unter anderem daran, dass Fachzeitschriften mit hohem Impact Factor sie häufiger annehmen. Nicht-signifikante Ergebnisse fallen so oft unter den Tisch oder werden gar nicht erst eingereicht. Dabei spielen sie für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn eine große Rolle. Die Aussage „Achtung, Sackgasse! Hier brauchst du nicht weiterforschen. Ich hab’s ausprobiert und es führt zu nichts.“ ist wichtig und spart weiteren Forschungsgruppen Zeit und Ressourcen. Auch eine passende Hypothese erst nach der Datenerhebung aufzustellen (das sogenannte HARKing, also Hypothesizing After Results are Known) oder das bereits erwähnte p-Hacking wären kaum noch möglich.
Was müsste sich in der medizinischen Lehre und Weiterbildung verbessern?
AMBOSS: Die evidenzbasierte Medizin verlangt von Ärzt:innen, mit Forschungsergebnissen kompetent umgehen zu können. Im Studium spielen Biometrie und Epidemiologie allerdings nur eine kleine Rolle. Auch im Rahmen einer Promotion werden nicht alle Studierenden damit vertraut. Was müsste sich in der medizinischen Lehre und Weiterbildung verbessern?
Berlin Exchange Medicine: In Studium und Weiterbildung sollte unbedingt vermittelt werden, wie man strukturiert an wissenschaftliche Artikel herangeht: Was finde ich wo? Worauf muss ich bei den unterschiedlichen Studientypen achten? Wie bewerte ich Daten und hinterfrage Schlussfolgerungen kritisch? Wenn wir es mit der evidenzbasierten Medizin ernst meinen, sind das Schlüsselkompetenzen ärztlichen Handelns. Außerdem sollte die Lehre Mediziner:innen frühzeitig für die Probleme des traditionellen Review- und Publikationssystems sensibilisieren; und zwar nicht in trockenem Frontalunterricht, sondern anhand konkreter Beispiele, idealerweise den Publikationen anderer Studierender. Das würde Grundsätze greifbar machen und die wissenschaftliche Praxis erheblich verbessern. Wir sollten alles dafür tun, Studierende und Assistenzärzt:innen früh in ihren Wissenschafts- und Klinikkarrieren methodisch zu fördern und zu kritisch denkenden Akteur:innen auszubilden. Damit würden wir mittelbar auch die Patientenversorgung verbessern.
Berlin Exchange Medicine ist das erste Journal für studentische Forschung aus den Gesundheits- und Lebenswissenschaften im deutschsprachigen Raum. Studierende können darin bereits im Studium niederschwellig und hochwertig erste Publikationserfahrungen sammeln. Außerdem bildet Berlin Exchange Medicine in eigenen Kursen Studierende und Ärzt:innen am Beginn ihrer Wissenschaftskarriere im Peer Review aus. Das Journal versteht sich dabei als eine Plattform, um Meinungen auszutauschen und Wissenschaft interprofessionell und transdisziplinär zu leben. |
Promotion im Arztberuf: Zwischen Klinik und Wissenschaft
Wer neben der Arbeit in der Klinik promovieren will, hat oft mit Zeitmangel zu kämpfen. Wie die Promotion dennoch gelingen kann, berichtet Ärztin und Promotionscoachin Dr. Désirée Schaumburg im AMBOSS-Podcast: