3 Tipps zum Umgang mit gewalttätigen Patient:innen

Maria Strandt - Freitag, 16.9.2022
Eine Gesundheitsfachkraft lehnt sich erschöpft gegen ein Fenster. Umgang mit gewalttätigen Patient:innen im AMBOSS-Blog.

Beschimpft, belästigt, geschlagen: Übergriffe gehören für viele medizinische Fachkräfte zum Alltag. Wie können sich Betroffene schützen?

Ob Notaufnahme, Normalstation oder Niederlassung: Viele Menschen in Gesundheitsberufen haben bereits Gewalt durch Patient:innen oder deren Angehörige erlebt. Die COVID-19-Pandemie hat die Lage zusätzlich verschlechtert: Einerseits sind insbesondere impfende Ärzt:innen immer wieder Angriffen ausgesetzt, andererseits haben bestehende Missstände im Gesundheitssystem und dadurch auch das Konfliktpotenzial weiter zugenommen. Wie können Fachkräfte mit gewalttätigen Patient:innen umgehen?

Auf einen Blick

  1. Wie häufig werden Patient:innen gewalttätig?
  2. Welche Folgen hat Gewalt?
  3. Warum verhalten sich Patient:innen aggressiv?
  4. Tipp 1: Die Gesetzeslage zum Umgang mit gewalttätigen Patient:innen kennen 
  5. Tipp 2: Der richtige Umgang mit Aggression
  6. Tipp 3: Nachsorge nach aggressivem Verhalten
  7. Gewalt gegen Gesundheitspersonal: Was muss sich ändern?

Wie häufig werden Patient:innen gewalttätig?

Die GINA-Studie1 (Gewalt In der NotAufnahme), an der 354 Mitarbeitende aus 51 hessischen Notaufnahmen teilgenommen haben, lieferte Hinweise auf das Ausmaß des Problems. Fast alle Befragten gaben an, in den vorangegangenen zwölf Monaten Gewalt erfahren zu haben: Drei Viertel der Teilnehmenden waren mindestens einmal körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen, nahezu alle berichteten von verbalen Angriffen. Gut die Hälfte hatte zudem sexualisierte Gewalt erfahren, was Frauen signifikant häufiger betraf als Männer. Aggressives Verhalten seitens der Patient:innen und Angehörigen scheint zudem eher die Regel als eine Ausnahme zu sein: Über 60 % der Befragten gaben an, täglich oder wöchentlich verbale Übergriffe zu erleben – bei sexualisierter Gewalt waren es 20 %.

Dass gerade Mitarbeitende in Notaufnahmen von häufigen Übergriffen berichten, überrascht nicht: Die überlasteten Rettungsstellen, in denen Patient:innen mit hohem Leidensdruck und langen Wartezeiten zu kämpfen haben, sind ein Brennpunkt für gewalttätige Auseinandersetzungen. Um für das gesamte Gesundheitssystem – vom Rettungsdienst bis hin zur hausärztlichen Praxis – besser einschätzen zu können, wie häufig Fachkräfte mit Gewalt konfrontiert sind, bräuchte es dringend ein zentrales Meldesystem. Die meisten Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen erfassen diese Fälle allerdings bisher nicht systematisch; auch polizeiliche Statistiken führen Angriffe auf Gesundheitspersonal nicht gesondert auf. 

Welche Folgen hat Gewalt?

Die Übergriffe gehen an den Betroffenen nicht spurlos vorüber: Ein kürzlich im JAMA2 veröffentlichtes Paper befasst sich insbesondere mit sexistischen und rassistischen Kommentaren gegenüber Ärzt:innen und stellt fest: Wer mehrmals in der Woche entsprechende Bemerkungen erdulden muss, leidet deutlich häufiger unter Symptomen von Burnout, emotionaler Erschöpfung und Depersonalisation.

Auch in der GINA-Studie berichteten viele Teilnehmende von Gereiztheit, gedrückter Stimmung und Abstumpfung als langfristige Folgen von Gewalterfahrungen. Viele verlieren demnach die Freude an ihrem Beruf, ein Viertel wünscht sich sogar einen Berufswechsel. Es gilt daher dringend, gegenzusteuern – in erster Linie, um die Gesundheit medizinischer Fachkräfte zu erhalten; langfristig aber auch, damit sie nicht in andere Arbeitsbereiche abwandern und sich dadurch die angespannte Personalsituation weiter verschlechtert.

Warum verhalten sich Patient:innen aggressiv?

Zu den Gründen für aggressives Verhalten bei Patient:innen und Angehörigen gehören organisatorische und kommunikative Herausforderungen wie lange Wartezeiten, Unzufriedenheit mit der Versorgung und Verständigungsprobleme, aber auch der Einfluss von Alkohol oder Drogen und Verwirrtheit1. Letzteres zeigt bereits, dass Aggressivität auch Symptom einer Krankheit sein kann, wobei zahlreiche psychiatrische, aber auch neurologische und internistische Differenzialdiagnosen infrage kommen. Die Unterscheidung zwischen krankheitsbedingtem und nicht-krankheitsbedingtem Verhalten bestimmt das weitere Vorgehen: Gilt es ausschließlich, die Situation zu entschärfen oder bedarf die Aggressivität möglicherweise einer medizinischen Behandlung?

Tipp 1: Die Gesetzeslage zum Umgang mit gewalttätigen Patient:innen kennen 

Sollte – womöglich gegen den Willen der Erkrankten – eine Behandlung erforderlich sein, so geschieht dies bei somatischen Erkrankungen auf Grundlage des rechtfertigenden Notstands (§34 StGB). Demnach handelt nicht rechtswidrig, wer durch das mildeste zur Verfügung stehende Mittel eine unmittelbare Gefahr von sich oder anderen abwendet. Bei psychischen Krankheitsbildern können Behandelnde die Unterbringung nach den jeweiligen Landesgesetzen einleiten.

Ist das aggressive Verhalten jedoch nicht krankheitsbedingt, so gelten die allgemeinen Strafgesetze. Es ist daher durchaus zulässig, die Polizei hinzuzuziehen. Einige Gesetze sind darüber hinaus für den medizinischen Bereich relevant: So begeht nach §323c StGB eine Straftat, wer Hilfeleistungen behindert. Auch §115 StGB soll Rettungskräfte im Einsatz sowie medizinisches Personal in Notaufnahme und Notdienst schützen, indem er härtere Strafen bei Angriffen auf diese Personengruppe vorsieht. Niedergelassene und ihre Angestellten sowie Ärzt:innen im normalen Stationsbetrieb fallen allerdings bislang nicht unter diesen Paragrafen. 

Tipp 2: Der richtige Umgang mit Aggression

Doch auch das beste juristische Mittel greift erst, wenn ein Übergriff bereits stattgefunden hat – besser wäre, diesen von vornherein zu verhindern. Gute Kommunikationsfähigkeiten helfen, Gewaltauslösern wie Unzufriedenheit mit der Behandlung und Verständigungsproblemen zu begegnen: Behandelnde sollten Befunde, Therapien, aber auch organisatorisches Vorgehen in allgemeinverständlicher Sprache erklären – wenn nötig, auch mehrfach. Schilder im Wartezimmer können zudem darauf hinweisen, dass Behandelnde die Patient:innen nicht in der Reihenfolge ihres Eintreffens, sondern je nach Dringlichkeit der Erkrankung aufrufen. Im Umgang mit gewalttätigen Patient:innen und Angehörigen tragen Verständnis und Empathie zur Deeskalation bei.  

Wie kann deeskalatives Auftreten praktisch aussehen? Was müssen Ärzt:innen beachten, wenn sie besondere Sicherungsmaßnahmen einsetzen und welche pharmakologischen Optionen haben sie? Antworten bietet die AMBOSS-SOP “Vorgehen bei fremdaggressivem Verhalten”.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

 

Eskaliert die Situation dennoch, hat der Eigenschutz oberste Priorität. Je nach Situation sollten Behandelnde möglichst Kolleg:innen hinzuziehen oder sich in einen anderen Raum zurückziehen. Lässt sich eine akute Bedrohung nicht anders abwenden, kann es sinnvoll sein, einer Forderung nachzugeben und beispielsweise eine Krankschreibung oder ein Rezept auszustellen.3 Wenn die Situation aufgelöst ist und die Betroffenen sich wieder in Sicherheit befinden, sollten sie Vorgesetzte oder Polizei verständigen und gegebenenfalls Anzeige erstatten. Wer das richtige Verhalten im Umgang mit gewalttätigen Patient:innen trainieren möchte, findet bei Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen Seminare zur Gewaltprävention, die Hinweise zur Deeskalation mit Elementen der Selbstverteidigung ergänzen. 

Tipp 3: Nachsorge nach aggressivem Verhalten 

Um langfristige psychische Belastungen, aber auch erneute Übergriffe zu vermeiden, ist die Nachsorge nach einem Angriff für alle Beteiligten wichtig. Eine Checkliste kann helfen, keine unmittelbar erforderlichen Maßnahmen wie die Dokumentation oder den Gang zum D-Arzt zu vergessen. Kamen Sicherungsmaßnahmen zum Einsatz, sollten Fachkräfte die Situation mit den Patient:innen nachbesprechen. Ziel kann es hierbei sein, eine Behandlungsvereinbarung zu treffen, um in der weiteren Therapie auf Zwangsmaßnahmen verzichten zu können. 

Auch das Team profitiert von einer strukturierten Nachbesprechung. Dabei geht es darum, das Ereignis auszuwerten und daraus zu lernen. Außerdem sollten Betroffene und ihr Umfeld auf mögliche psychische Folgen achten. Treten diese auf, kann eine weiterführende Nachbesprechung beispielsweise mit Vorgesetzten, aber auch im Rahmen einer Balint-Gruppe sinnvoll sein. Seitens der Arbeitgeber mangelt es allerdings an institutioneller Nachsorge nach aggressivem Verhalten von Patient:innen und Angehörigen: Nur bei einem Drittel der GINA-Studie-Teilnehmenden fand eine Fallbesprechung statt; Supervision erhielten lediglich 16 %. 

Das heißt aber nicht, dass Betroffene sich keine Hilfe suchen sollten: Psychologische Beratung kann helfen, die Vorfälle zu verarbeiten. Gewaltereignisse im Dienst gelten als Arbeitsunfälle, weshalb die Unfallversicherungsträger Ansprechpartner sind. Sie übernehmen zunächst fünf probatorische psychotherapeutische Sitzungen. Benötigen Betroffene weiterführende Unterstützung, wird dies individuell mit den Trägern abgestimmt.4

Gewalt gegen Gesundheitspersonal: Was muss sich ändern?

Der Umgang mit gewalttätigen Patient:innen beschäftigte auch den 126. Deutschen Ärztetag im Mai 2022. In einem Beschluss forderte er die Bundesregierung und Landesregierungen auf, ein Meldesystem für Angriffe auf medizinisches Personal einzurichten. Delikte sollten darüber hinaus konsequenter geahndet und strukturiert aufgearbeitet werden. Betroffene bräuchten flächendeckend Zugang zu niedrigschwelligen psychologischen Hilfsangeboten.5 

Für eine wirksame Prävention müssten sich jedoch auch die Rahmenbedingungen verbessern: Selbst wenn Fachkräfte noch so empathisch kommunizieren – gegen lange Wartezeiten und ein überlastetes Gesundheitssystem können Einzelne wenig ausrichten. Zudem benötigt gute Verständigung Zeit und Geduld; beides fehlt angesichts von Personalmangel und einem hohen Patientenaufkommen. Diese Zustände zu ändern und so zur Gewaltprävention beizutragen, ist auch eine politische Aufgabe.

 

Gewalt findet nicht nur im persönlichen Kontakt, sondern auch im Internet statt. Nicht zuletzt im Rahmen der Corona-Pandemie sind Ärzt:innen immer wieder Hass und Hetze in Form von digitaler Gewalt ausgesetzt. Wie sie sich schützen können und wo sie Hilfe finden, zeigt unser Interview mit HateAid-Juristin Josephine Ballon: Digitale Gewalt: ”Für Niedergelassene ist es schwerer, sich zu schützen”

 

Quellen

1. Christiansen M, Güzel-Freudenstein G. Hochschule Fulda, Deutschland: Ergebnisbericht GINA, Gewalt in der Notaufnahme; 2022:1-107.

2. Dyrbye LN, West CP, Sinsky CA, et al. Physicians' Experiences With Mistreatment and Discrimination by Patients, Families, and Visitors and Association With Burnout. JAMA Netw Open. 2022;5(5):e2213080. Published 2022 May 2. doi:10.1001/jamanetworkopen.2022.13080

3. Severin T. Wenn Patienten zuschlagen. G+G. https://www.gg-digital.de/2021/01/wenn-patienten-zuschlagen/index.html. Published January 15, 2021. Accessed September 7, 2022.

4. Hilfe nach Extremerlebnissen. bgw. https://www.bgw-online.de/bgw-online-de/service/unfall-berufskrankheit/unfaelle-psychische-beeintraechtigungen/hilfe-nach-extremerlebnissen-14672. Accessed September 7, 2022.

5. Pühler W, Zolg AR, Schilling K, et al. Zentrale Meldesysteme für Angriffe gegen Einsatzkräfte und medizinisches Personal einführen. In: 126. Deutscher Ärztetag, Beschlussprotokoll. Berlin, Deutschland: Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern); 2022:93-93.