Wie sicher sind Besuchsverbote?

Maria Strandt - Freitag, 17.12.2021
Zwei Fachkräfte in Schutzkleidung halten ein Tablet, damit ein Patient mit einer nahestehenden Person ein Videotelefonat führen kann.

Schwer krank und allein in der Klinik: Während der Pandemie verhindern Besuchsverbote häufig die Begleitung durch Zugehörige. Welche Folgen hat das?

Bilder von Intensivstationen gehen wieder um die Welt. Kranke sind umringt von Gesundheitsfachkräften in Schutzkleidung, nicht jedoch von ihren Liebsten – erneut haben viele Kliniken Besuche stark eingeschränkt oder komplett verboten. Wie wirkt sich das auf schwerkranke und sterbende Menschen, ihre Zugehörigen und das Gesundheitspersonal aus?

Im Krankenhaus kommen sowohl vulnerable Menschen als auch systemrelevantes Personal zusammen. Die Besuchsverbote sollen verhindern, dass Außenstehende das Personal oder nicht-infizierte Patient:innen mit SARS-CoV-2 anstecken oder durch Kontakt mit infizierten Patient:innen selbst daran erkranken. Ob und wie sehr diese Maßnahme jedoch tatsächlich zum Infektionsschutz beiträgt, lässt sich nur schwer messen. Erste Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Besuche womöglich nur ein geringes Risiko für Transmissionen bergen: So verzeichneten Forschende keinen Anstieg an nosokomialen Atemwegserkrankungen, nachdem ihre Klinik die Besuchsregelungen gelockert hatte. Allgemein scheinen COVID-19-Übertragungen im Krankenhaus selten zu sein, auch weil Schutzausrüstung die meisten Ansteckungen verhindern kann. 

Gleichzeitig sind Besuchsverbote mit Outcome-relevanten Nachteilen verbunden: Nachdem eine japanische Klinik Besuche verboten hatte, erhöhte sich die Delirinzidenz bei Notfallpatient:innen von 1,8% auf 6,2% – unabhängig vom Infektionsstatus. Auch das ohnehin hohe Risiko für ein Delir bei COVID-19-Intensivpatient:innen stieg einer großen multizentrischen Studie zufolge um fast 30%, wenn sie keine Familienbesuche bekommen konnten.

Insgesamt sind die Einschränkungen für Erkrankte psychisch sehr belastend. So berichteten COVID-19-Patient:innen, dass sie sich nach dem Erwachen aus der tiefen Sedierung verwirrt und desorientiert gefühlt haben und unter Alpträumen litten. Ein Betroffener glaubte gar, Opfer einer Entführung geworden zu sein, und erst der Besuch seiner Frau habe ihn in die Realität zurückgebracht. Andere vermissten die Nähe ihrer Angehörigen schmerzhaft, um neuen Mut für ihre Genesung fassen zu können. Ein Patient erklärte es so: “Sobald du deine Familie siehst, siehst du die Zukunft.”

Auch die psychische Gesundheit der Zugehörigen leidet unter den fehlenden Besuchsmöglichkeiten: Hinterbliebene von auf der Intensivstation verstorbenen Menschen entwickeln im Vergleich zu anderen Trauernden häufiger posttraumatische Belastungs- oder anhaltende Trauerstörungen. Besuchsverbote verstärken diesen Effekt nochmals. Besonders gefährdet sind Zugehörige, die sich nicht verabschieden konnten. Schätzungen zufolge könnte für jeden Menschen, der an Corona verstorben ist, je ein Mensch eine anhaltende Trauerstörung entwickeln. Selbst wenn die Pandemie heute enden würde, beträfe das demnach weltweit über fünf Millionen Menschen.

Wer dem Team, das ein Familienmitglied behandelt, nie persönlich begegnet, kann auch schlechter Vertrauen fassen. Das erschwert gemeinsame Entscheidungen, insbesondere wenn Patient:innen sich nicht mehr selbst äußern können. Um zu entscheiden, ob beispielsweise eine Therapie fortgeführt werden soll, müssen Angehörige erfassen können, wie schwer jemand erkrankt ist und wie ernsthaft sich das Team um diesen Menschen bemüht. Wenn dies aus der Ferne nicht ausreichend möglich ist und Behandelnde daher daran zweifeln, ob sie wirklich im Sinne ihrer Patient:innen handeln, kann dies zu ethischen Konflikten führen.

Sogenannter moralischer Stress (engl. moral distress) entsteht, wenn Fachkräfte Besuche nicht zulassen dürfen, obwohl sie diese für richtig hielten. Gleichzeitig erleben sie das enorme, durch die Trennung ausgelöste Leid mit. Wenn Nahestehende am Krankenbett fehlen, muss das Personal die Erkrankten emotional deutlich mehr unterstützen. Gelingt das nicht – beispielsweise aufgrund der hohen Arbeitsbelastung – erhöht sich der moralische Stress der Intensivkräfte nochmals. Hierin könnte auch ein weiterer Grund für den aktuellen “Pflexit” liegen, denn Mitarbeitende mit einem hohen moralischen Stresslevel wollen häufiger ihren Beruf verlassen. 

In den letzten 20 Jahren hat die Intensivmedizin begonnen, Zugehörige verstärkt einzubeziehen. Für eine solche familienzentrierte Intensivmedizin sprechen unter anderem geringere Stresslevel, eine höhere Genesungsmotivation der Erkrankten und bessere psychische Outcomes der Zugehörigen. Besuchsverbote laufen diesem Ansatz zuwider und verschlechtern die Versorgung deutlich. Daraus können Frustration, emotionale Erschöpfung und Schuldgefühle resultieren. Die Folgen wiegen schwer: Intensivfachkräfte, die Besuchseinschränkungen bedauern, litten einer französischen Studie zufolge häufig unter Symptomen von Angststörungen und Depressionen.

Weltweit setzen sich Versorgende mit der Frage der Besuchsverbote auseinander: So erklärten italienische Intensivbehandelnde, dass die Vorteile von Familienbesuchen die Infektionsrisiken deutlich überwögen. Entscheidend für die Sicherheit sei es, Schutzkleidung für Zugehörige bereitzustellen und sie in deren Gebrauch anzuleiten.

Viele Konzepte raten dazu, regelmäßige (Video-)Telefonate fest in den täglichen Ablauf einzuplanen. Wo Voraussetzungen für die Videotelefonie wie Tablets oder eine stabile Internetverbindung fehlen, sollten Behandelnde den Zustand der Patient:innen, aber auch das Krankenzimmer am Telefon möglichst genau beschreiben, um Zugehörigen einen Einblick zu geben.

Auch die Nationale Strategie zur Palliativversorgung in Pandemiezeiten betont die Bedeutung von Besuch vor allem für sterbende Menschen. Das federführende Forschungsprojekt PallPan stellt dafür auf seiner Website Handlungsempfehlungen und Praxisbeispiele vor. In einem E-Learning-Angebot finden sich Videos, die zeigen, wie Telefonate mit Zugehörigen ablaufen können und Hinweise dazu, wie Fachkräfte trotz Zeitmangel Zugehörige nach dem Tod von Patient:innen unterstützen können.

Angesichts der gravierenden Konsequenzen sollten Nutzen und Risiken von Besuchsverboten genau abgewogen werden. Welche Vorteile bringen sie für den Infektionsschutz? Welche Nachteile drohen Mitarbeitenden, Patient:innen und Zugehörigen? Krankenhäuser müssen ihre Regeln immer wieder an die jeweilige pandemische Situation anpassen, etwa wenn Fallzahlen steigen oder neue Erkenntnisse zu Schutzmaßnahmen wie Impfungen und Tests vorliegen. Entscheidungsträger:innen sollten sich bewusst machen, dass auch Besuchsverbote die Gesundheit gefährden.

Mehr Informationen zu den Themen COVID-19, Infektionsschutzgesetz und Palliativversorgung finden sich in den entsprechenden AMBOSS-Kapiteln.

 

Quellen

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