‘Behandeln auf Augenhöhe’: Der Weg in eine diskriminierungsfreie Medizin
Auf dem Portal Queermed können Patient:innen Behandelnde empfehlen, bei denen sie sich in ihrer Diversität sicher und ernstgenommen fühlen. Gründer:in Sara Grzybek erklärt, warum das nötig ist und wie es funktioniert.
Auf einen Blick
- Queermed: Empfehlen und finden
- Welche Barrieren gibt es im Gesundheitssystem?
- Praktische Tipps für den Alltag
- Aktiv Ally sein
Queermed: Empfehlen und finden
AMBOSS: Warum hast du Queermed gegründet?
Sara Grzybek: Queermed Deutschland ist ein bundesweites Verzeichnis für sensibilisierte und queerfreundliche Ärzt:innen und Therapeut:innen. Das Projekt gibt es jetzt seit etwas mehr als einem Jahr und war eine spontane Idee. Jemand hatte mich auf Queermed Österreich aufmerksam gemacht und ich dachte: "Warum gibt es so etwas nicht hier in Deutschland?” Seiten wie Gynformation konzentrieren sich auf einen Bereich, aber was ist mit allen anderen? Als ich die Seite dann Ende Mai letzten Jahres online gestellt hatte, ist sie geradezu explodiert – komplett unerwartet. Mittlerweile enthält sie 450 Adressen, wobei es immer noch graue Flecken auf der Karte gibt.
AMBOSS: Patient:innen empfehlen auf Queermed Ärzt:innen und Therapeut:innen, die sie als queerfreundlich erlebt haben. Diese werden dann in einem Verzeichnis gesammelt – wie läuft das ab, wenn so eine Empfehlung eingeht?
Grzybek: Zunächst werden Daten in Form eines Fragebogens erhoben. Der ist mehrere Seiten lang und fragt anfangs oberflächliche Informationen ab, etwa Fachbereich und Kontaktdaten. Schließlich folgen Fragen wie: Wie sieht's aus mit dem Thema Gendern auf der Website, in Anamnesebögen, bei der Anrede? Gibt es neben Ärzt:innen noch weiteres Personal? Wie reagieren Therapeut:innen oder Ärzt:innen, wenn sie auf diskriminierende Sprache angesprochen werden? Wie kritikfähig sind sie? Haben sich Patient:innen aufgrund von Sprache oder Gestik unwohl gefühlt? Außerdem bitten wir alle, Empfehlungen für die jeweilige eigene Personengruppe auszusprechen. Zum Beispiel non-Binary, trans, inter, People of Colour, Sexarbeiter:innen, Menschen mit positivem HIV-Status, Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, aber auch zum Beispiel Migrant:innen oder häufig diskriminierte Religionsgruppen wie Personen jüdischen oder muslimischen Glaubens. Der Aspekt der Personengruppen ist sehr wichtig und erweitert sich ständig. So soll auch Mehrfachdiskriminierung vorgebeugt werden.
AMBOSS: Hältst du Rücksprache mit den empfohlenen Behandelnden?
Grzybek: Eine direkte Absprache mit den Ärzt:innen und Therapeut:innen findet nicht statt. Wenn wir durch Ärzt:innen Rückmeldungen bekommen, dann vor allem positive, da heißt es dann: "Toll, dass ich in eurem Verzeichnis bin. Kann ich Auslagematerial für die Praxis bekommen?" Das schicke ich dann gerne kostenfrei zu. Sehr selten möchte jemand aus dem Verzeichnis entfernt werden, etwa weil die Praxis ausgelastet ist und keine neuen Patient:innen aufnehmen kann.
AMBOSS: Gibt es auch den umgekehrten Fall? Dass Praxen auf euch zukommen?
Grzybek: Ja, das kommt vor. Selbstempfehlungen lehne ich aber grundsätzlich ab. Ich sehe mich selbst nicht in der Position, für alle zu beurteilen, ob Ärzt:innen queerfreundlich sind oder nicht. Zumal ich mich auch nur zu bestimmten Personengruppen zugehörig fühle. Dann verweise ich auf die Ressourcen auf der Website und darauf, dass alle natürlich jederzeit ihre Patient:innen ansprechen können: “Hey, es wäre toll, wenn Sie unsere Praxis auf dieser Website empfehlen könnten. Wir haben Kapazitäten und möchten Menschen zur Verfügung stehen, die Mehrfachdiskriminierung erfahren.”
AMBOSS: Wie kann ich als Patient:in auf queermed-deutschland.de nach Behandelnden suchen?
Grzybek: Es gibt eine interaktive Suche, die sich nach sechs Kategorien filtern lässt: Fachbereich, Bundesland, Personengruppe, Sprache, Barrierefreiheit und Behandlungsmethoden. Im Grunde ist es ein Verzeichnis von der Community für die Community.
Welche Barrieren gibt es im Gesundheitssystem?
AMBOSS: Eine Frankfurter Studie ergab, dass jede fünfte Person Diskriminierung im Gesundheitswesen erlebt. Warum ist es so wichtig, dass wir daran arbeiten?
Grzybek: Diskriminierung schadet. Eine Untersuchung der IKK classic Krankenkasse hat letztes Jahr gezeigt, dass mit Diskriminierung eine schlechtere Gesundheit einhergeht – es folgen Stress, Schlafstörungen und weitere Folgeerscheinungen. Allein die Ungewissheit, in die Praxis zu gehen und hoffen zu müssen, dass man ernst genommen wird! Eines muss klar sein: Es gibt Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems. Und neben Sexualität und Gender gibt es noch viele andere Themen wie Rassismus, Klassismus oder Fettfeindlichkeit.
AMBOSS: Du hast in einem Interview gesagt, dass es das Projekt in einer idealen Welt gar nicht brauchen würde. Ideal wäre es, wenn alle Menschen sensibel miteinander umgehen und sich in ärztlicher Behandlung sicher fühlen würden. Besonders trans* und gender*diverse Personen leiden laut Studien vergleichsweise stärker unter Belastungen und sind mit besonders hohen Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert. Was für Barrieren sind das?
Grzybek: Für eine Transperson, die zum ersten Mal in einer neuen Praxis erscheint, ist das Vorzeigen der Versichertenkarte schon die erste schwierige Situation: Wenn darauf zum Beispiel ein anderer Name steht oder ein altes Foto zu sehen ist, bedeutet das ein Outing. Wie reagieren die Angestellten darauf, wie sensibilisiert sind sie für das Thema? Dann der Anamnesebogen: Wird noch nach Herr/Frau gefragt? Es gibt ja auch die Möglichkeit, auf die Anrede einfach zu verzichten. Viele Angestellte sehen solche Formulare jeden Tag. Aber aus der eigenen privilegierten Situation, in einer heteronormativen Realität nicht anzuecken, fällt ihnen manchmal gar nicht mehr auf, dass eine binäre Anrede ein Coming-out vor fremden Leuten darstellen kann. Und es ist ja nicht so, als hätten alle Leute Lust darauf, sich ständig outen zu müssen – gerade in so einem Machtverhältnis. Menschen suchen medizinische Hilfe auf, weil es ihnen nicht gut geht. Dabei sind sie auf das Wohlwollen der Behandelnden angewiesen.
Praktische Tipps für den Alltag
AMBOSS: Was ist wichtig für einen queerfreundlichen Umgang?
Grzybek: Der Knackpunkt ist die Aussage “know your privileges”. Also sei dir deiner Position bewusst. Erkenne an, dass es für manche Menschen einschüchternd sein kann, wirklich Hilfe zu benötigen. Es geht darum anzuerkennen, dass andere Menschen verschiedene Lebensrealitäten haben und es ist wichtig, sich auch mit diesen auseinanderzusetzen. Welche Bedürfnisse hat mein Gegenüber mit einer Lebensrealität unter dem Aspekt Klassismus, unter dem Aspekt Fettfeindlichkeit oder dem Aspekt trans-, inter-, non-binäre Identität?
AMBOSS: Gemeinsam mit Queermed Österreich habt ihr einen Leitfaden für einen diskriminierungssensiblen Umgang mit Patient:innen entwickelt. Wie seid ihr an dieses Projekt herangegangen?
Grzybek: Wir haben uns beispielsweise mit den Websites der Behandelnden auseinandergesetzt. Wie wird Sprache dort benutzt? Sprache hat sehr viel Macht: Sie kann Menschen entweder unsichtbar oder sichtbar machen. Dabei geht es nicht nur um Genderneutralität, sondern auch darum, ob ich von einer “Frauenarztpraxis” sprechen muss oder nicht einfach den Fachbegriff “Gynäkologie” wähle. Wie spreche ich die Patient:innen auf der Website an? Welche Fotos verwende ich auf der Website? Bilder können sehr viel vermitteln.
AMBOSS: Was gilt es offline zu beachten?
Grzybek: Da geht es im Wartezimmer los: Sind die Broschüren, die da ausliegen, stark auf binäre, heteronormative Lebensrealitäten ausgerichtet? Um beim Beispiel der Gynäkologie zu bleiben: Was ist mit dem Kinderwunsch gleichgeschlechtlicher Paare? Kann ich dazu etwas auslegen? Damit zeige ich: "Hey, ich weiß, dass es diese Menschen gibt und sie haben hier auch Platz." Es geht auch nicht nur darum, wie sich das Praxisteam nach außen hin präsentiert, sondern auch, wie es von innen aussieht: Handelt es sich um eine sehr homogene Gruppe, kann das dazu führen, dass bestimmte Sachen einfach nicht gesehen werden. Also geht es auch um das Thema Personal: Welche Leute stelle ich ein, worauf achte ich dabei? Es sagt sehr viel über eine Praxis aus, wie divers ihre Ärzt:innen und Angestellten sind.
Aktiv Ally sein
AMBOSS: In eurem Leitfaden geht es auch um Allyship – also darum, sich als Verbündete zu zeigen und solidarisch zu verhalten. Wie kann man als Ally aktiv werden?
Grzybek: Es fängt mit der Frage an, wie ich mich im Alltag verhalte. Aber es geht auch um Punkte wie die Aus- und Weiterbildung: Suche ich Angebote aktiv auf, weil ich weiß, dass mein Studium mich auf Themen wie Diskriminierungserfahrungen und Privilegienbewusstsein nicht vorbereitet hat? Tausche ich mich mit Kolleg:innen darüber aus? Und dann natürlich: Wie setze ich mich für Communities ein? Kann ich mit lokalen Gruppen und Beratungsstellen kooperieren? Es gibt hier beispielsweise Praxen, die mit der Schwulenberatung Berlin zusammenarbeiten.
AMBOSS: Gibt es noch etwas, das du Mediziner:innen mitgeben möchtest?
Grzybek: Wenn jemand auf euch zukommt, überlegt euch: “Wie würde ich in dieser Situation behandelt werden wollen?” Und erkennt eure eigenen Privilegien an: "Okay, ich kann verstehen, ich habe viele Privilegien in meiner Position als Ärzt:in, Therapeut:in, als Praxismitarbeitende. Und es gibt einfach Menschen, die diese Privilegien nicht haben, egal was sie tun." Es ist wichtig anzuerkennen, dass manche Leute diese Hürden haben, und dass man es selbst viel einfacher hatte und hat. Behandeln auf Augenhöhe – das ist der Kernpunkt. Denn es geht nicht darum, irgendjemandem etwas wegzunehmen. Es geht darum, dass alle ein Anrecht darauf haben, gesehen und in ihren Belangen ernst genommen zu werden.
Sara Grzybek ist Gründer:in des Projekts Queermed Deutschland und war zuvor bereits mehrere Jahre ehrenamtlich in verschiedenen Bereichen tätig. Nach einem Studium der Geschichte und Archäologie arbeitet Grzybek heute im Online-Marketing. Außerdem leitet Grzybek eine Diversity-Gruppe, die sich mit den Themen Gleichberechtigung und Sichtbarmachen von intersektionalen Themen beschäftigt.
Weiterlesen
https://queermed-deutschland.de/
Literaturempfehlungen
- Mohamed Amjahid: Der weiße Fleck: Eine Anleitung zum antirassistischen Denken
- Shon Faye: The Transgender Issue
- Mark Gevisser: Die pinke Linie: Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität
- Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten
- Lann Hornscheidt & Ja'n Sammla: Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht?: Ein Praxis-Handbuch zu Gender und Sprache
- Raul Krauthausen: Wie kann ich was bewegen? Die Kraft des konstruktiven Aktivismus.
- Kevin L. Nadal: THAT'S SO GAY: Microaggressions and the Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Community ( Perspectives on Sexual Orientation and Diversity)
- Jessica Nordell: The End of Bias: How We Change Our Minds
- Emilia Roig: Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung
- Francis Seeck: Zugang verwehrt
Quellen
Frankfurt University of Applied Sciences. Wohlbefinden von LSBTIQ. Frankfurt-university.de. Accessed July 14, 2022. https://www.frankfurt-university.de/de/hochschule/fachbereich-4-soziale-arbeit-gesundheit/forschung-am-fb-4/forschungsprojekte-des-fb-4/wohlbefinden-von-lsbtiq/
Vorurteile und Diskriminierung machen krank. IKK classic. Accessed July 14, 2022. https://www.ikk-classic.de/gesund-machen/vorurteile-machen-krank
Jugendinstitut D, Krell C, Oldemeier K, Mitarbeit U, Müller S. Coming-out -und dann…?! Dji.de. Accessed July 14, 2022. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_Broschuere_ComingOut.pdf
Bartig S, Kalkum D, Le HM, Lewicki A. Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen -Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. Antidiskriminierungsstelle.de. Accessed July 21, 2022. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/diskrimrisiken_diskrimschutz_gesundheitswesen.pdf;jsessionid=BC656A29E7BABD2B41704B1F62850558.intranet211?__blob=publicationFile&v=2