Unspezifische Kreuzschmerzen: Aufklärung statt Bildgebung

Maria Strandt - Freitag, 17.6.2022
Unspezifische Kreuzschmerzen: Arbeiter mit schmerzverzerrtem Gesicht fasst sich an den Rücken – AMBOSS-Blog

In der Rückenschmerz-Diagnostik ist weniger mehr. Warum eine MRT schaden kann und wie das ärztliche Gespräch gelingt.

Welches Leiden ist für 15% aller Krankentage und fast jede fünfte Frühberentung verantwortlich? Die Antwort: Kreuzschmerzen. Trotz hoher individueller und gesellschaftlicher Krankheitslast erhalten viele Betroffene keine leitliniengerechte Therapie. Im Gegenteil: Wirkungslose und potenziell schädliche Maßnahmen wie nicht-indizierte Bildgebungen und Interventionen treiben die Kosten in die Höhe und steigern langfristig die Arbeitslast der Behandelnden. Wie kann also eine patienten- und leitliniengerechte Versorgung in der Praxis aussehen?

Auf einen Blick

  1. Welche Ursachen haben unspezifische Kreuzschmerzen?
  2. Wie ist die Prognose bei unspezifischen Kreuzschmerzen?
  3. Leitliniengerechte Diagnostik bei unspezifischen Kreuzschmerzen
  4. Bildgebung bei unspezifischen Kreuzschmerzen: teuer und potenziell schädlich
  5. Therapie bei unspezifischen Kreuzschmerzen
  6. Wie gelingt die Aufklärung bei unspezifischen Kreuzschmerzen?
  7. Fazit

Welche Ursachen haben unspezifische Kreuzschmerzen?

Zunächst einmal sind Kreuzschmerzen keine Erkrankung, sondern ein Leitsymptom. In 17 von 20 Fällen findet sich keine zugrundeliegende Pathologie (beispielsweise Spinalkanalstenose, Fraktur oder Infektion). Meistens handelt es sich also um unspezifische Rückenschmerzen. Fehlen Hinweise auf einen akut behandlungsbedürftigen Verlauf, ist die Suche nach weiteren anatomischen Auffälligkeiten wie einer Blockade des Iliosakralgelenks oder einer Beinlängendifferenz meist nicht hilfreich: Laut der nationalen Versorgungsleitlinie zum nicht-spezifischen Kreuzschmerz ist es nach dem derzeitigen Wissensstand nicht möglich, die Ursachen der Beschwerden weiter zu differenzieren. Entsprechende klinische Tests sind zu ungenau, um bestimmte Muskel- oder Gelenkstrukturen eindeutig als Auslöser zu identifizieren. 

Statt Kreuzschmerzen lediglich als Ergebnis eines nozizeptiven Reizes zu betrachten, ist daher ihre multifaktorielle Genese zu berücksichtigen. Diese umfasst biologische, psychische, soziale und genetische Faktoren sowie physische und psychische Komorbiditäten. So legen Zwillingsstudien nahe, dass insbesondere für chronische Kreuzschmerzen ein genetischer Einfluss besteht. Auf der biophysikalischen Ebene sind bei einigen Betroffenen beispielsweise die Größe, Zusammensetzung und Koordination von Muskelgruppen verändert. Auch psychische Faktoren wie Angst-Vermeidungsverhalten tragen zur Chronifizierung bei. Zudem gehen Depressionen und Angststörungen mit einem höheren Risiko der Betroffenen einher, Einschränkungen zu entwickeln. Menschen mit niedrigem Einkommen und geringerem Bildungsabschluss sind häufiger von chronischen Kreuzschmerzen betroffen. Auch wer körperlich belastende Arbeit verrichtet oder mit seiner beruflichen Situation unzufrieden ist, hat ein höheres Risiko für chronische Rückenschmerzen, was den Einfluss der sozialen Bedingungen verdeutlicht. 

Außerdem beeinflussen biopsychosoziale Faktoren die zentrale Schmerzverarbeitung: So verändert sich das Aktivierungsmuster supraspinaler Zentren abhängig von nozizeptiven Reizen, dem Kontext sowie kognitiven und emotionalen Zuständen. Auch unabhängig von chronischen Schmerzen lässt sich leicht erkennen, welche Rolle zentralnervöse Mechanismen für die Schmerzwahrnehmung spielen: Wer sich versehentlich in den Finger schneidet, spürt beispielsweise den Schmerz häufig erst, wenn Blut zu sehen ist.

Wie ist die Prognose bei unspezifischen Kreuzschmerzen?

Sowohl neu aufgetretene akute Kreuzschmerzen als auch zwölf Wochen und länger bestehende chronische Beschwerden verbessern sich meist innerhalb eines Jahres. Restbeschwerden bestehen allerdings häufig weiter, wie eine große Metaanalyse zeigt – bei akuten Schmerzen auf einem geringen Niveau, bei chronischen Beschwerden in moderatem Ausmaß. So sank der Schmerzscore bei Menschen mit akuten Beschwerden von initial 52/100 auf 6/100, bei Betroffenen mit chronischen Kreuzschmerzen von 51/100 auf 23/100. Auch Funktionseinschränkungen im Alltag nahmen ähnlich wie die gemessenen Schmerzscores im Laufe der Zeit ab. Die größten Verbesserungen waren sowohl bei akuten als auch chronischen Fällen innerhalb der ersten sechs Wochen zu verzeichnen, danach verlangsamte sich die Genesung. 

Leitliniengerechte Diagnostik bei unspezifischen Kreuzschmerzen

Laut nationaler Versorgungsleitlinie soll die Diagnostik dazu dienen, Notfälle, spezifische und extravertebragene Ursachen der Beschwerden zu erkennen sowie frühzeitig Chronifizierungsrisiken zu erheben. Hierzu wird das Screening auf Red Flags empfohlen, die beispielsweise auf Frakturen, Infektionen, chronisch-entzündliche Rückenschmerzen und Tumoren hinweisen. Psychosoziale Risikofaktoren, die sogenannten Yellow Flags, können mit Tools wie dem Patientenfragebogen STarT Back erfasst werden. Unter dem Begriff Blue Flags werden arbeitsplatzbezogene Risiken wie monotone Körperhaltung, körperliche Schwerarbeit und berufliche Unzufriedenheit zusammengefasst. Ergeben Anamnese und klinische Untersuchungen keine Hinweise auf akut behandlungsbedürftige Verläufe, sollte sich zunächst keine apparative Diagnostik anschließen. Wenn nach zwölf Wochen noch kein ausreichender Therapieerfolg zu verzeichnen ist, empfiehlt die Leitlinie physio- und psychotherapeutische Fachkräfte einzubeziehen – bei Vorliegen von Risikofaktoren bereits nach sechs Wochen.

Ausführliche Informationen zu Red, Yellow und Blue Flags sowie zu Differenzialdiagnosen von Kreuzschmerzen bietet das AMBOSS-Kapitel Kreuzschmerz.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

Bildgebung bei unspezifischen Kreuzschmerzen: teuer und potenziell schädlich

Bildgebende Verfahren sollten ausschließlich zum Einsatz kommen, wenn sie eine  therapeutische Konsequenz nach sich ziehen. Belegt ist, dass eine frühe Bildgebung vor dem Ablauf von sechs Wochen weder bei jüngeren noch bei älteren Menschen mit einem besseren Outcome einhergeht. Außerdem kann sie neben hohen Kosten sogar Schaden verursachen: Patient:innen, die in einer Studie eine Bildgebung erhielten, klagten nach drei Monaten häufiger über Rückenschmerzen als die Kontrollgruppe. Ob die Bildgebung tatsächlich einen auffälligen Befund ergab, machte für das Outcome keinen Unterschied. Zudem suchten die Patient:innen in der Interventionsgruppe häufiger ihre Behandelnden auf, wodurch deren Arbeitsbelastung stieg. Interessanterweise waren Patient:innen mit früher Bildgebung trotz des schlechteren Outcomes zufriedener mit ihrer Behandlung und 80% der Erkrankten in beiden Gruppen würden sich für eine Bildgebung entscheiden, wenn sie die Wahl hätten. Hierin zeigt sich eine Erwartungshaltung der Betroffenen, die in der Praxis die Entscheidung für eine Bildgebung möglicherweise beeinflusst.

Jedoch bleibt es nicht immer bei der Bildgebung: Eine Untersuchung von über 3.000 Teilnehmenden ohne Red Flags zeigte, dass eine Magnetresonanztomografie eine ganze Kaskade weiterer Diagnostik und invasiver Therapie einschließlich Operationen nach sich ziehen kann – und zwar unabhängig vom Schweregrad der Schmerzen. Neben den individuellen Risiken, die mit invasiven Eingriffen verbunden sind, waren auch die medizinischen Kosten in der Gruppe mit früher MRT am höchsten. 

Die Ergebnisse bildgebender Verfahren können Betroffene stark verunsichern und dazu führen, dass sie sich auf einen vermeintlich pathologischen Befund fixieren. Auch Behandelnde lassen sich womöglich in ihrer weiteren Therapieentscheidung von morphologischen Auffälligkeiten beeinflussen. Dabei sind diese auch bei symptomfreien Menschen häufig und nehmen mit dem Alter zu: So zeigten in einem Review 37% der 20-Jährigen und 96% der 80-Jährigen Zeichen einer Bandscheibendegeneration. Umso wichtiger also, Patient:innen darüber aufzuklären, dass morphologische Veränderungen je nach Alter eher die Regel als die Ausnahme sind und nicht zwangsläufig mit der Schmerzursache zusammenhängen.

Therapie bei unspezifischen Kreuzschmerzen

Bei der Therapie unspezifischer Kreuzschmerzen steht eine Aktivierung der Patient:innen im Vordergrund. Diese sollten ihre normale körperliche Aktivität beibehalten; Bettruhe ist kontraindiziert. Bewegungstherapie kann darüber hinaus das Angst-Vermeidungsverhalten reduzieren und hilfreich sein, wenn die Genesung nicht zufriedenstellend verläuft. Bei Patient:innen mit chronischen unspezifischen Kreuzschmerzen wirkt die Bewegungstherapie schmerzlindernd und verbessert die körperliche Funktionsfähigkeit. Welche Form der Bewegungstherapie zum Einsatz kommt, hängt sowohl von der Präferenz der Erkrankten ab als auch von deren Vorerfahrungen und körperlicher Fitness. Verlaufen die Kreuzschmerzen chronisch, kommt auch eine Verhaltenstherapie in Betracht. Die Leitlinie rät von ineffektiven Therapien wie Interferenzstromtherapie, Kinesio-Taping, Massage, Schuheinlagen, Traktionsbehandlung oder Ultraschall ab. Auch auf invasive Maßnahmen wie Injektionen, Denervationen und Operationen sollten Behandelnde in der Therapie des unspezifischen Kreuzschmerzes verzichten.

Die Verständigung auf ein gemeinsames Krankheitsmodell ist ein entscheidender Schritt in der Therapie von Rückenschmerzen. Um Erkrankten die biopsychosozialen Zusammenhänge vermitteln zu können, müssen Behandelnde diese zunächst selbst verinnerlichen. An welche Krankheitsmodelle Patient:innen glauben, hängt eng damit zusammen, von welchen Erklärungsmodellen ihre behandelnden Fachkräfte überzeugt sind. So zeigte eine europäische Studie, dass Fachkräfte mit biomedizinischer Orientierung oder hohen Angst-Vermeidungseinstellungen – also der Überzeugung, dass Schmerzen durch Verletzungen und pathologische Ursachen entstehen – seltener den Leitlinienempfehlungen folgten. Stattdessen rieten sie eher dazu, physische Aktivität zu reduzieren und ordneten häufiger Bettruhe an. Zwar erkannten viele Hausärzt:innen die Bedeutung psychosozialer Faktoren, priorisierten aber angesichts ihrer begrenzten Zeit das Screening auf eine biomedizinische Pathologie.

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Wie gelingt die Aufklärung bei unspezifischen Kreuzschmerzen?

Aufklärung nimmt in der First-Line-Therapie von unspezifischen Kreuzschmerzen einen bedeutenden Anteil ein. Idealerweise hilft sie Patient:innen, dem eigenen Körper wieder zu vertrauen und zu lernen, ihre Rückenschmerzen selbstständig zu managen. Damit Erkrankte sich auch ohne aufwändige apparative Diagnostik und kausale Therapieoptionen ernst genommen fühlen, können bestimmte Kernbotschaften helfen. Dazu gehört, dass der Rücken eine stabile Struktur ist und über zahlreiche Gefahrensensoren verfügt. Schmerzen stellen eine Schutzfunktion des Körpers dar, die durch zahlreiche biologische, psychische und soziale Faktoren beeinflusst wird. Auch wenn kein Gewebeschaden vorliegt, können die subjektiven Beschwerden sehr stark sein. Eine Verschlechterung der Schmerzen ist zudem stärker mit Veränderungen im Aktivitäts-, Stress- und Stimmungsniveau als mit strukturellen Schäden assoziiert. Darüber hinaus gilt es zu vermitteln, dass körperliche Bewegung sicher ist und eine Linderung der Beschwerden fördert. Eine graduelle Steigerung der Belastung der Wirbelsäule erhöht sogar ihre strukturelle Resilienz. Metaphern helfen Patient:innen, komplexe Mechanismen der Schmerzverarbeitung zu verstehen. Beispielsweise lässt sich das Nervensystem als Alarmsystem beschreiben, das im Fall einer zentralen Sensitivierung besonders empfindlich wird.

Fazit

Unspezifische Kreuzschmerzen haben eine komplexe, multifaktorielle Genese – rein biomedizinische Untersuchungs- und Behandlungsansätze können Schaden anrichten und haben daher ausgedient. Die Ressourcen, die unnötige Diagnostik und wirkungslose Therapien verschlingen, wären besser in der leitliniengerechten Aufklärung und Behandlung der Betroffenen investiert. Dabei gilt es jedoch auch, Fehlanreize des Gesundheitssystems zu managen, das eine sprechende Medizin kaum vergütet – obwohl sie für die Therapie dieses häufigen Leitsymptoms entscheidend ist. Bis sich hier strukturell etwas ändert, sind wir alle gefragt, einen Beitrag zur besseren Versorgung von Kreuzschmerzen zu leisten. 

 

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