Der ISARIC-4C-Mortality-Score

Angélique Fülbier, Emrah Hircin - Freitag, 6.11.2020

Ein Tool zur frühzeitigen Abschätzung des Risikos schwerer COVID-19 Verläufe. 

In Deutschland liegen die täglichen Neuinfektionen von COVID-19 aktuell im fünfstelligen Bereich. Daher ist mit einer Zunahme der Zahl schwerer Verläufe und der stationären Behandlungsbedürftigkeit zu rechnen. „Wir stellen uns in den Krankenhäusern auf deutlich mehr COVID-19-Patient:innen ein. Die Entwicklung der vergangenen vier Wochen deutet darauf hin, dass je nach Alter etwa sechs Prozent der Neuinfizierten eine Krankenhausbehandlung benötigen”, so Dr. med. Susanne Joha, Vorsitzende des Marburger Bunds am 20. Oktober 2020. Unter Berücksichtigung des Personalmangels ist ein ressourcenschonender Ansatz im Zusammenhang mit Patientenaufnahmen daher essentiell. Ein einfacher prognostischer Score soll nun die Entscheidung für oder gegen eine stationäre Aufnahme erleichtern. 

Grundlage der Entwicklung und Verifizierung des sog. 4C-Mortality-Scores war die große, multizentrische ISARIC-4C-Studie an 260 Kliniken in England, Schottland und Wales. ISARIC 4C (“Coronavirus Clinical Characterisation Forum”) als Herausgeber ist ein Konsortium von Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen aus dem Vereinigten Königreich, die klinische Fragestellungen im Rahmen der Pandemie bearbeitet. Von Februar bis Mai 2020 wurden zunächst die Daten von über 35.000 Behandelten erfasst. Ziel war die Vorhersage der Sterblichkeit von COVID-19-Patient:innen anhand ihres Risikoprofils. Als ärztliches Entscheidungstool soll der 4C-Score dazu dienen, Patient:innen mit hohem Risiko für schwerste Verläufe zu identifizieren. Das sind Entscheidungen, die täglich auch in deutschen Rettungsstellen getroffen werden müssen.

Alle in die Studien eingeschlossenen Patient:innen waren im Erwachsenenalter, das mittlere Alter betrug 73 Jahre. Knapp 42 Prozent hatten mind. eine Komorbidität. Zu erfassende Komorbiditäten wurden zuvor vom Studienkonsortium festgelegt. Dazu zählten u.a. Herzinsuffizienz, Nieren-, Leber- und Atemwegserkrankungen, neurologische Vorerkrankungen, Diabetes mellitus, Adipositas, HIV/AIDS und Krebsleiden. Der primäre Endpunkt der Studie war die Sterblichkeitsrate in stationärer Behandlung. Jede dritte teilnehmende Person dieser Kohorte verstarb im Verlauf. Aus den erfassten Daten wurde zunächst ein Score entwickelt, der in weiteren Schritten angepasst und zuletzt unter Einschluss einer neuen Kohorte validiert wurde. Anschließend wurde die Vorhersagekraft mit bereits entwickelten Scores verglichen. Dazu wurden weitere 22.000 Teilnehmende eingeschlossen.

Die Vorerkrankungen werden bei der Anwendung des Scores nur quantitativ erfasst, d.h. es muss nur angegeben werden, ob keine, eine oder mehrere relevante Vorerkrankungen bestehen. Weitere 7 einfach zu erfassende Parameter komplettieren den 4C-Score. Dies sind Alter, Geschlecht, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung, GCS sowie als Laborwerte Harnstoff und CRP. Je nach Ausprägung wird für jeden Parameter eine Punktzahl vergeben, die Summe der Punkte erlaubt eine Einteilung in vier Risikostufen.

Die niedrigste Riskostufe (Low Risk, 03 P.) ergab nach Validierung eine Sterblichkeitsrate von 1,2 Prozent. Die mittlere Risikostufe (Intermediate Risk, 48 P.) ging mit einer Sterblichkeit von 9,9 Prozent einher. In den zwei Hochrisikostufen zeigte sich ein sehr steiler Anstieg der Sterblichkeitsraten. Bei der hohen Risikostufe (High Risk, 914 P.)  stieg die Sterblichkeit auf 31,4 Prozent, bei sehr hoher Risikostufe (Very High Risk, 15-21 P.) verstarben 61,5 Prozent der Patient:innen.

Nach Einschätzung der Autor:innen könnten Patient:innen in der niedrigsten Risikostufe nach Hause entlassen und allgemeinmedizinisch weiter betreut werden. Erst in der mittleren Risikostufe sei die stationäre Aufnahme zur Überwachung zu erwägen. 

Für die Hochrisikostufen könne mit einem intensivmedizinischen Behandlungsbedarf gerechnet werden, sodass hier auch intensivere Überwachungs- und Therapiestrategien schon bei Aufnahme eingeleitet bzw. geplant werden können. Im Vergleich zu anderen nicht-COVID-spezifischen Prognosewerkzeugen (z.B. CRB-65) schnitt der 4C-Mortality-Score sehr gut ab, mit guten bis ausgezeichneten Unterscheidungs-, Kalibrierungs- und Leistungsmerkmalen.

Letztlich überzeugt der 4C-Mortality-Score mit einer einfachen Anwendbarkeit durch Auswertung gängiger Parameter, die im Rahmen einer Aufnahmesituation regelhaft erfasst werden. Die Einschätzung für oder gegen eine stationäre Aufnahme wird in den nächsten Wochen entscheidend sein, um eine Überbelastung der Kliniken und Intensivstationen zu vermeiden.

Eine immer gebotene klinische Gesamteinschätzung kann mithilfe des Scores orientierend zur frühen Identifikation von Patient:innen mit hohem Sterberisiko beitragen. Dies ist nicht nur wichtig, um rechtzeitig eine sinnvolle intensivierte Diagnostik und Therapie einleiten zu können, wo immer sie notwendig wird. Zur Verhinderung von Überlastung der Intensivkapazitäten trägt auch bei, nicht indizierte bzw. dem Patientenwillen zuwider handelnde intensivmedizinische Behandlungen zu verhindern. Vor einer drohenden weiteren Verschlechterung mit Eintrüben der Patient:innen kann und sollte daher die Zeit auch genutzt werden, um bspw. bei hoch gebrechlichen und schwer vorerkrankten Patient:innen mit eingeschränkter Lebenserwartung genau diesen Patientenwillen klar und angemessen zu eruieren und zu dokumentieren.

Auf der anderen Seite des Spektrums können Scoring-Systeme wie der 4C-Score bei jungen und vermeintlich gesund erscheinenden Patient:innen helfen, durch standardisierte Erfassung der gefragten Parameter Risikosituationen nicht leichtfertig zu übersehen. Letztlich bleibt es immer noch eine der größten Herausforderungen in Notfallambulanzen und Rettungsstellen, unter ggf. hunderten Niedrigrisiko-Patient:innen die möglicherweise wenigen Gefährdeten herauszufischen.

Daher erscheint es ratsam Score hin oder her –, auch einem ambulanten Management zugewiesene Patient:innen der Niedrigrisikostufe zur Wachsamkeit gegenüber Verschlechterungen ihres Gesundheitszustandes anzuleiten. Ggf. sollte dabei auch das soziale Umfeld dieser Patient:innen in die Krankenbeobachtung involviert werden, sodass Risiken einer subjektiv unbemerkten Verschlechterung minimiert werden.

Wie jeder klinische Score hat auch der 4C-Score Limitationen. Er sollte nicht auf Situationen außerhalb der Krankenhausaufnahme angewendet werden. Die Validierung erfolgte bisher nur für eine britische Population. Regionale bzw. internationale Unterschiede in der Zusammensetzung der Bevölkerung bezüglich der Anzahl von Komorbiditäten und gesundheitssystematischen Unterschieden in den Zugangswegen zur stationären Versorgung könnten die Aussagekraft bspw. für die Anwendung in Deutschland einschränken. Die Autor:innen weisen daher darauf hin, dass der Score an weiteren Kohorten validiert werden muss. Ebenso sei nicht auszuschließen, dass die erfassten Parameter mit neuen Erkenntnissen zu COVID-19 angepasst werden müssen. 

Ohnehin verdient unseres Erachtens die mitunter willkürlich erscheinende, eminenzbasierte Auswahl relevanter Vorerkrankungen eine kritische Betrachtung. Hierbei erstaunt es, dass kardiovaskuläre Vorerkrankungsmuster wie eine arterielle Hypertonie, vorausgegangene Myokardinfarkte und Schlaganfälle nicht (systematisch genug) erfasst wurden. Hier müssen Folgeuntersuchungen ggf. weitere Daten erbringen. Zu befürchten ist, dass die Vorhersagekraft in den Extremen “jung und gesund” vs. “hochbetagt und schwer vorerkrankt” zwar gut ist, im Bereich dazwischen aber Unschärfen lauern. Insb. das Ergebnis einer mittleren Risikostufe könnte daher tückisch sein.

“Wenn wir warten, bis die Intensivstationen voll sind, ist es zu spät", so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im SWR-Tagesgespräch vom 28.10.2020. Der 4C-Mortality-Score kann ärztlichen Kolleg:innen daher trotz Limitationen eine Hilfestellung bieten und möglicherweise dabei helfen, die Balance zwischen der Aufnahme gefährdeter Patient:innen und dem ambulanten Management weniger gefährdeter Patient:innen zu finden, um situative Überlastungssituationen besser meistern zu können.

 

Der ISARIC-4C-Score wurde als interaktives Onlinetool zur schnellen Risikoüberprüfung online zur Verfügung gestellt. Zur Originalstudie zum Nachlesen geht es hier. Mehr fundiertes Wissen über Details zu COVID-19-Verläufen findest du im AMBOSS-Kapitel “COVID-19”.

Quellen über die Originalstudie hinaus
https://www.marburger-bund.de/bundesverband/pressemitteilung/susanne-johna-intensivkapazitaeten-fuer-covid-19-schrittweise