'Im Zweifel einfach bei uns anrufen'

Philippa von Schönfeld - Sonntag, 11.7.2021
Kind hat den Kopf in den Schoß gelegt und umklammert einen Teddybären

In der Pandemie werden vermehrt Fälle von Kindesmissbrauch erfasst.  Fachkräfte können sich mit einem Verdacht an die Medizinische Kinderschutzhotline 0800-1921000 wenden.

AMBOSS: Im Mai hat das Bundeskriminalamt die aktuelle Polizeistatistik vorgestellt. Was Gewalt gegen Kinder angeht, ist die Entwicklung alarmierend: Fast alle Zahlen sind im Corona-Jahr 2020 gestiegen. Hat sich Ihre Arbeit bei der Medizinischen Kinderschutzhotline seit Beginn der Pandemie verändert?

Charlotte Onken: Uns erreichen tatsächlich viele Fragen im Kontext von Corona. Wir beraten allerdings keine Betroffenen oder Angehörigen, sodass uns gar nicht unbedingt viel mehr Fälle gemeldet wurden. Oft rufen Fachkräfte an, die eine Familie gerade nicht mehr im Blick haben und sich Sorgen machen.

AMBOSS: Wann ist der beste Zeitpunkt, um sich an die Hotline zu wenden?

Charlotte Onken: Manche fragen ganz konkret: “Wir haben hier diesen Fall in der Notaufnahme. Wie gehen wir jetzt weiter vor?” Andere melden sich mit einem vagen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist wichtig, darauf zu vertrauen und tätig zu werden. Viele haben Angst, sich zu irren. Deshalb appellieren wir an alle Fachkräfte, uns im Zweifel einfach anzurufen. Es gibt keine peinlichen Fragen! Vielleicht stellen wir im Gespräch fest, dass in der aktuellen Situation kein Handlungsbedarf besteht, man in Zukunft aber auf dieses oder jenes achten könnte. Das kann ungemein entlasten.

Kinderschutzmedizin
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Welche Red Flags weisen auf Misshandlung und Vernachlässigung hin? Unser Kapitel Kinderschutzmedizin enthält praktische Handlungsempfehlungen und ist auch ohne Abo frei zugänglich.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

 

AMBOSS: Welche Fragen hören Sie am häufigsten?

Charlotte Onken: Relativ oft geht es um die Schweigepflicht. Wann müssen die Eltern angerufen werden? Was darf ich nicht für mich behalten? Um die Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen geht es immer wieder. Außerdem beraten wir viel im Kontext von § 4 KKG (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, Anm. d. Red.), also zur Übermittlung von Informationen bei Kindeswohlgefährdung. Uns ruft aber auch der Psychotherapeut an, der eine kleine “Kinderschutz-Supervision” sucht und uns seinen Fall schildern möchte. Dann ordnen wir gemeinsam die Situation und überlegen, wie er weiter vorgehen könnte.

AMBOSS: Etwas, das in Studium und Ausbildung ziemlich untergeht, ist die Dokumentation. Welche Fallstricke sind da zu beachten, auch in Hinblick auf eine gerichtliche Verwertbarkeit?

Charlotte Onken: Wir sind alle keine Juristen; wir wissen nicht, was am Ende wie verwertet wird. Daher empfehlen wir, alles zu dokumentieren und dabei genau zu kennzeichnen: Was war wörtliche Rede, was waren meine eigenen Gedanken? Das heißt natürlich nicht, dass jedes Detail in den Arztbrief gehört. Auch dazu beraten wir abhängig vom Einzelfall. 

AMBOSS: Was ist, wenn ich eine Diagnostik einleiten möchte, für die ich die Zustimmung der Sorgeberechtigten brauche – die allerdings als Täter oder Täterin infrage kommen?

Charlotte Onken: In unseren Beratungsgesprächen geht es häufig um Fälle, wo noch lange nicht feststeht, wer was getan hat. Da sind bei nicht-einwilligungsfähigen Kindern grundsätzlich die Eltern verantwortlich; in vielen Fällen ist ein offenes Gespräch möglich. Besteht die Vermutung, dass sich dadurch die Situation des Kindes weiter verschlechtern könnte, kann und muss im Einzelfall das Jugendamt über das weitere Vorgehen entscheiden und gegebenenfalls die elterliche Sorge teilweise ersetzen.

AMBOSS: Inwiefern spielt das Setting der Anrufenden eine Rolle?

Charlotte Onken: Es ist natürlich ein Unterschied, ob ich in der Notaufnahme bin und die Familie gar nicht kenne oder das Kind als Psychotherapeutin langfristig betreue. Manchmal geht es auch darum, die Rollen zu klären: “Ist das jetzt meine Verantwortung, diese und jene Aufgabe wahrzunehmen?” Ein Therapeut ist kein Polizist. Der Kontext spielt eine große Rolle. Dabei sind auch die Ressourcen vor Ort entscheidend: Ist der Anrufer allein oder hat er ein Team hinter sich? Ruft er aus der Niederlassung an oder aus der Klinik? Stehen Fachkräfte aus der Sozialarbeit zur Verfügung? Ein Kinderarzt auf dem Land sagt vielleicht: “Kinder- und Jugendpsychiater? Sie sind ja lustig…” 

AMBOSS: Klar, das ist sicherlich eine völlig andere Situation als in einer Großstadt. Welche Hilfsangebote oder Adressen sollte man noch kennen? 

Charlotte Onken: Das ist lokal sehr unterschiedlich. Wir sind bundesweit tätig; jede größere Stadt hat aber auch eigene Netzwerke. Wo die nächste Kinderschutz-Ambulanz ist und welche weiteren Ressourcen es gibt, findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin. Es gibt viele Beratungsstellen für Opfer sexualisierter Gewalt; es gibt zum Beispiel die Sorgentelefone, an die man Betroffene und Angehörige verweisen kann – das schafft auch Entlastung. Oft geht es sicher erst einmal darum, das Kind oder eine Verletzung zu versorgen. Aber es ist wichtig, im zweiten Schritt mitzudenken und im Zweifel bei uns anzurufen. In anderen Bereichen der Medizin gibt es ja oft die eine richtige Antwort: Der Patient hat dieses Karzinom und braucht eben diese Therapie. Im Kinderschutz lautet die Frage immer: “Was ist für dieses Kind zielführend?” Und da ist die Antwort nicht automatisch: “Das Kind muss da raus.” 

AMBOSS: Seit Mai erfüllt sexueller Missbrauch von Kindern immer den Tatbestand eines Verbrechens. Wie wirkt sich diese Gesetzesänderung auf Ihre Arbeit aus?

Charlotte Onken: Für unsere Beratung spielt das keine große Rolle. Uns geht es auch nicht primär darum, dass der Täter oder die Täterin bestraft werden. Wir haben als Beratungsstelle das Kindeswohl im Blick: Was braucht das Kind? Wie kann es geschützt werden? Was will das Kind? Wie kann man ihm das geben? Dazu gehört auch die Überlegung, welche Auswirkung eine Strafanzeige hätte und wie man das Kind am besten begleiten kann.

AMBOSS: Gibt es noch etwas, das Sie den ärztlichen Kolleg:innen sagen möchten?

Charlotte Onken: Keine Scheu vor einem Anruf bei uns! Kinderschutz ist etwas, das wir nicht beigebracht bekommen. Und da sollte niemand Hemmungen haben, sich Hilfe zu holen. In manchen Fachrichtungen kommt vielleicht besonders weit, wer Entscheidungen alleine fällt. Das ist im Kinderschutz nicht so. Es braucht ein Team. Und der erste Schritt ist immer, dass jemand stutzig wird – und nachfragt.

 

Charlotte Onken ist Ärztin in Weiterbildung zur Kinder- und Jugendpsychiaterin und arbeitet seit Januar 2020 bei der Medizinischen Kinderschutzhotline. Die Medizinische Kinderschutzhotline ist ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördertes, bundesweites, kostenfreies und 24 Stunden erreichbares, telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe, der Kinder- und Jugendhilfe sowie für Familiengerichte bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch. Die Projektleitung hat Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Ulm. Die Nummer der Medizinischen Kinderschutzhotline ist: 0800-1921000

 

Welche Verletzungsmuster verdächtig sein können, lässt sich im AMBOSS-Kapitel Kindesmisshandlung nachlesen.

Mehr Informationen sowie nützliche Kitteltaschenkarten für den Alltag sind auf der Website der Kinderschutzhotline zu finden. Die Bundespressekonferenz zur Polizeistatistik 2020 präsentiert die aktuellen Zahlen und Fakten zum Thema Gewalt gegen Kinder, zum Nachlesen eignet sich die Seite des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Zum Thema Schweigepflicht lohnt ein Blick ins Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz: § 4 KKG.