Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Folgen des Ukraine-Kriegs
Aufgrund des Ukraine-Kriegs werden sich vermehrt traumatisierte Menschen in deutschen Praxen vorstellen. Wie lässt sich eine PTBS erkennen und behandeln?
Tausende ukrainische Kriegsgeflüchtete kommen Tag für Tag am Berliner Hauptbahnhof an. Neben Koffern, Taschen und Rucksäcken tragen viele noch eine weitere Last: Erinnerungen an Krieg, Tod, Leid und Zerstörung; an Ereignisse, die eine PTBS auslösen können. Auch aus Syrien, Afghanistan und zahlreichen weiteren Konfliktregionen der Erde suchen traumatisierte Menschen in Europa Schutz – und ärztlichen Rat. Wie können wir helfen?
Was bedeutet PTBS?
Laut ICD-10 manifestiert sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) innerhalb von sechs Monaten als verzögerte Reaktion auf ein traumatisches und emotional belastendes Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes. Dieses kann kurzfristig und plötzlich eintreten wie zum Beispiel bei einem Autounfall oder einer Naturkatastrophe. Es kann aber auch länger andauern und sich wiederholen wie im Falle von Kriegshandlungen oder sexuellem Missbrauch. Dabei muss das auslösende Ereignis nicht selbst erlebt werden, auch eine Beobachtung kann traumatisieren.
Die Diagnosekriterien der PTBS unterscheiden sich zwischen ICD-10 und DSM-5. Im AMBOSS-Kapitel Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen werden die Klassifikationssysteme gegenübergestellt. Um Diagnostik und Therapie der PTBS zu unterstützen, ist der Zugang zum Kapitel bis auf weiteres kostenlos verfügbar. |
Charakteristisch für die Belastungsstörung sind sogenannte Flashbacks: Meist durch einen traumaassoziierten Schlüsselreiz ausgelöst, erleben Betroffene in Gedanken das traumatische Geschehen erneut. Intrusive Bilder, filmartige Szenen und unangenehme Gefühle drängen sich auf und verursachen einen hohen Leidensdruck. Daher meiden Betroffene Situationen und Stimuli, die Erinnerungen an das Trauma hervorrufen. Sie überprüfen ihre Umgebung auf mögliche Trigger, befinden sich in einem psychischen und vegetativen Alarmzustand, dem sogenannten Hyperarousal. Unruhe, Schlafstörungen und Reizbarkeit sind typische Folgen. In circa 20–30% der Fälle chronifiziert die Erkrankung.
Pathophysiologische Ursachen der gestörten Stressverarbeitung bei PTBS finden sich im AMBOSS-Kapitel Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen. |
Frauen erkranken etwa dreimal so häufig wie Männer. Belastende Kindheitserlebnisse und psychische Vorerkrankungen wirken prädisponierend. Ob und wie stark sich eine Störung ausprägt, hängt unter anderem von der peritraumatisch wahrgenommenen Lebensgefahr und dem subjektiv erlebten Kontrollverlust ab. Auch das Ausmaß und die Dauer des traumatisierenden Ereignisses spielen eine Rolle. Fehlende soziale Unterstützung nach einem Trauma trägt entscheidend dazu bei, dass eine PTBS entsteht.
PTBS bei Kindern
Kinder können bereits vom ersten Lebensjahr an Traumafolgeerkrankungen entwickeln. Besonders häufige Auslöser sind körperliche und sexuelle Gewalt, aber auch physische oder emotionale Vernachlässigung sowie Unfälle. Traumatisierte Kinder und Jugendliche leiden neben dem Wiedererleben auslösender Ereignisse auch häufig unter emotionaler Taubheit und Übererregung des autonomen Nervensystems. Durch Schlaf- und Konzentrationsstörungen können schulische Leistungen nachlassen und eine gesteigerte Aggressivität führt oft zu sozialen Problemen mit Mitschüler:innen und Familie. Auch häufige Bauch- und Kopfschmerzen oder beispielsweise Angst vor der Dunkelheit oder dem Alleinsein können Hinweise auf eine PTBS sein. Hier ist es allerdings wichtig, physiologisches kindliches Verhalten von krankheitsbedingtem zu unterscheiden. Die Symptomatik kann je nach Alter und Persönlichkeit des Kindes erheblich variieren.
Diagnose PTBS - ruhige Atmosphäre und ein gutes klinisches Auge
Die richtige Diagnose zu finden kann schwierig sein. Betroffene verbinden begleitende Beschwerden wie Tachykardie, Atembeschwerden, Schlafstörungen, Beklemmungsgefühle und weitere Symptome oft nicht mit ihrem Trauma. Aus Scham sprechen sie das belastende Ereignis beim Arztbesuch häufig überhaupt nicht an. Um die Puzzlestücke aus vegetativen und psychiatrischen Symptomen zusammenzufügen, braucht es daher ein gutes klinisches Auge: Durch gezielte Fragen nach Intrusionen, Vermeidungsverhalten und Hyperarousal kann sich ein diagnostischer Anfangsverdacht erhärten. Eine ruhige Atmosphäre hilft, im Anschluss einfühlsam nach einem traumatischen Erlebnis zu fragen. Liegt es vor und sind seit Symptombeginn nicht mehr als sechs Monate vergangen, ist eine PTBS wahrscheinlich. Besonders wichtig: auch die Suizidalität abklären. Sie ist bei Betroffenen um den Faktor acht erhöht.
Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung
Ist die Diagnose gesichert, sollte sich eine stabilisierende und gegebenenfalls eine traumafokussierte Psychotherapie anschließen. Darin lernen Betroffene, sowohl die Erinnerung an das Trauma zu verarbeiten als auch etwaiges Vermeidungsverhalten zu reduzieren. Ortsnahe Therapieplätze zu finden, kann allerdings schwierig sein. Eine nützliche Hilfe bietet dabei zum Beispiel die TherapeutInnen-Suche der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT). Hier lassen sich etwaige Therapeut:innen auch nach gesprochenen Sprachen filtern. Das Zentrum Überleben vermittelt ebenfalls Therapieplätze und hält spezielle Angebote für Geflüchtete bereit wie beispielsweise eine psychoedukative Smartphone-Applikation.
Manche Patient:innen wünschen eine rein medikamentöse Behandlung, um nicht erneut mit traumaassoziierten Erinnerungen konfrontiert zu werden. Behandelnde sollten sie darüber aufklären, dass zugelassene Präparate wie Sertralin oder Paroxetin lediglich der Symptomkontrolle dienen und eine Auseinandersetzung mit der auslösenden Ursache im Rahmen einer Psychotherapie nicht ersetzen. Außerdem können sie zu Beginn der Behandlung auch Albträume und Suizidalität verstärken. Bei ausgeprägtem Hyperarousal erleben manche Patient:innen den Off-Label-Einsatz eines Betablockers als entlastend. Da die PTBS häufig mit Substanzabhängigkeiten einhergeht, ist von Benzodiazepinen abzuraten.
Eine fachübergreifende Herausforderung
Wie viele der Geflüchteten aus der Ukraine eine Traumafolgestörung entwickeln werden, ist unklar. Erfahrungen aus anderen Konfliktregionen lassen aber eine hohe Prävalenz vermuten: Laut AOK erlebten rund drei Viertel der Schutzsuchenden aus Syrien, Afghanistan und dem Irak unterschiedliche Formen von Gewalt und waren oft mehrfach traumatisiert. Das ist kein Zufall: Angriffe und Akte der Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung sind häufig angewandte Kriegsmittel und – wie bereits in Tschetschenien und Syrien – auch in der Ukraine Teil der russischen Militärstrategie.
Um den Betroffenen nicht nur Schutz und Solidarität, sondern auch die bestmögliche medizinische Versorgung zu bieten, sollte die PTBS daher insbesondere in den kommenden Monaten fächerübergreifend als mögliche Differenzialdiagnose präsent sein. Wer genau hinschaut, kann helfen, eine schwere Last ein wenig leichter machen.
Das AMBOSS-Kapitel Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen zeigt Symptome, Diagnostik und Therapie der PTBS auf und ist aufgrund anhaltender Kampfhandlungen in der Ukraine und der damit verbundenen Fluchtbewegungen bis auf weiteres kostenlos verfügbar.
Das AMBOSS-Kapitel Suizidalität informiert ausführlich über den Umgang mit suizidalen Patient:innen und gibt nützliche Hinweise zu Gesprächsführung und Abklärung.
Warum der Magic-Mushrooms-Wirkstoff Psilocybin künftig verschiedene Psychotherapien unterstützen könnte, ist im AMBOSS-Blog-Artikel Mit Pilzen aus der Depression? zu lesen.
Die PTBS geht häufig mit Substanzabhängigkeiten einher. Im AMBOSS-Podcast Alkoholkonsum – hinschauen, ansprechen, handeln beleuchten wir riskanten Alkoholkonsum. Ist es an der Zeit für ein Umdenken?
Informationen für Behandelnde und Betroffene:
Ärzt:innen, die ukrainische Geflüchtete somatisch versorgen und die Expertise eines Behandlungszentrums für traumatisierte Geflüchtete suchen, können sich dafür dienstags zwischen 14:00–16:00 Uhr unter der Tel. (030) 303 906-49 an das Zentrum Überleben wenden.
Für Betroffene stehen zudem Informationen im Bereich Psychotherapie und soziale Beratung bereit: Tel.: (030) 303 906-512 (deutsch und englisch). Außerdem kann eine Smartphone-Applikation heruntergeladen werden: ALMHAR wurde speziell für Geflüchtete entwickelt und vermittelt u.a. auf Englisch psychoedukative Inhalte.
- https://www.ueberleben.org/en/home-en/
- http://almhar.org/
Die TherapeutInnen-Suche der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) findet qualifizierte Therapeut:innen für Erwachsene, Kinder und Jugendliche mit Traumafolgestörungen. Per Filter können dabei verschiedene Sprachen ausgewählt werden.
- https://www.degpt.de/therapeutinnen-suche/
Die russischsprachige Telefonseelsorge Doweria berät kostenlos unter der Tel.: (030) 440 308-454.
Quellen
- Berger, M: Psychische Erkrankungen. 5. Auflage "Elsevier,Urban&FischerVerlag" 2015, ISBN: 978-3-437-29793-9.
- Frommberger et al.: Posttraumatische Belastungsstörung – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung. In: Deutsches Ärzteblatt Online. Band: 111, Nummer: 5, 2014, doi: 10.3238/arztebl.2014.0059.
- WHO - World Health Organization: Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 9. Auflage Hogrefe 2019, ISBN: 978-3-456-85992-7.
- Sonnenmoser, M. “Posttraumatische Belastungsstörung: Ausmaß bei Kindern unterschätzt”, Deutsches Ärzteblatt, PP 8, Ausgabe September 2009, Seite 413
- “Umfrage: Wie geht es Geflüchteten in Deutschland?”, Wissenschaftliches Institut der AOK, Ausgabe 4/2018, Oktober, https://www.wido.de/publikationen-produkte/ggw-gesundheit-gesellschaft-wissenschaft/archiv/ausgabe-4-2018/
- ZDF-Interview mit Politologin Jana Puglierin "Zivilgesellschaft wird zum Angriffsziel", 06.04.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/russland-strategie-puglierin-ukraine-krieg-100.html