Long-COVID: Was wissen wir?

Rosa Bartel - Sonntag, 9.5.2021
AMBOSS Podcast Blog Transkript Long-COVID

Erschöpfung, Atemnot, Gedächtnisstörungen – mögliche Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion erhalten große mediale Aufmerksamkeit. Doch was gilt bislang als gesichert? Prof. Dr. med. Kathrin Reetz und Dr. med. Christiana Franke berichten aus ihren Long-COVID-Ambulanzen.

--- Dieses Transkript gibt unsere Podcast-Folge mit Prof. Dr. med. Kathrin Reetz (RWTH Aachen) und Dr. med. Christiana Franke (Charité Berlin), aufgenommen am 14. April 2021, im Wortlaut wieder. Sprachliche Ungenauigkeiten bitten wir vor diesem Hintergrund zu entschuldigen. ---


AMBOSS:
Erschöpfung, Atemnot, Gedächtnisstörungen – viele unterschiedliche Symptome werden mit Long-COVID in Zusammenhang gebracht. Aber was ist Long-COVID eigentlich? Und was kann man über einen Symptomkomplex sagen, für den noch verlässliche repräsentative Daten fehlen? Heute unterhalte ich mich mit zwei Neurologinnen, die über Long- bzw. Post-COVID forschen und in entsprechenden Ambulanzen arbeiten. Wir sprechen über ihre bisherigen Erfahrungen und ihre laufende Forschung. Ich freue mich, dass Sie sich beide Zeit für ein, wenn auch nur telefonisches, Gespräch nehmen. Zu Gast sind die geschäftsführende Oberärztin in der Neurologie an der RWTH Aachen und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Hirnstiftung, Frau Professor Dr. Kathrin Reetz, und die Oberärztin in der Neurologie der Charité am Standort Benjamin Franklin in Berlin, Frau Dr. Christiana Franke. Schön, dass Sie beide da sind!

Prof. Dr. med. Kathrin Reetz: Ja, ganz herzlichen Dank. 

Dr. Christiana Franke: Vielen Dank! Wir freuen uns beide sehr. 

AMBOSS: Terminologisch steckt Long-COVID ja noch in den Kinderschuhen. Mal heißt es Post-, mal heißt es Long-COVID. Wie definieren Sie Long-COVID?

Reetz: Es gibt ja unterschiedliche Bezeichnungen von Post-COVID und Long-COVID und den akuten Symptomen. Das führt natürlich auch ein bisschen zur Verwirrung. Aber man muss sagen, dass das jetzt ziemlich gut geregelt ist dank der NICE-Guidelines (National Institute for Health and Care Excellence). Und zwar ist es so, dass man als eine akute Phase Zeichen und Symptome einer COVID-19-Infektion bis zu vier Wochen bezeichnet. Und dann folgen die sogenannten anhaltenden Symptome nach einer Corona-Infektion im Zeitraum von vier bis zwölf Wochen. Und alle Zeichen und Symptome nach einer Corona-Infektion im Zeitraum von vier bis zwölf Wochen, wenn diese sozusagen länger persistieren, bezeichnen wir als Long-COVID. Alles, was länger ist als zwölf Wochen, wird als Post-COVID bezeichnet. Und die Phase von vier Wochen und auch die anhaltenden Symptome danach bezeichnen wir als insgesamt Long-COVID-Syndrom. Und Post-COVID ist, wie gesagt, nach zwölf Wochen. Das heißt, das ist inzwischen ziemlich gut definiert und hilft uns natürlich auch so ein bisschen in der Einordnung der verschiedenen Symptome. 

AMBOSS: Das ist natürlich jetzt eine wichtige Differenzierung für den Anfang unseres Gesprächs. Vielen Dank dafür. Sie beide leiten ja Long-COVID-Ambulanzen. Einmal in Aachen, Sie, Frau Professor Dr . Reetz, und Sie am Standort Benjamin Franklin, Frau Dr. Franke. Wer kommt denn mit welchen Symptomen bei Ihnen in die Sprechstunde? 

Franke: Genau, also, bei uns in Berlin die, wie Frau Prof. Reetz eben erläutert hat, die anhaltende kognitive Beeinträchtigungen haben zwölf Wochen nach der Akutinfektion. Also, wir haben es tatsächlich auch für unsere Sprechstunde mittlerweile so geregelt, dass wir tatsächlich auch erst Patienten in der Post-COVID-Sprechstunde sehen, deren akute Infektion wirklich zwölf Wochen her ist. Sie stellen sich vor mit kognitiven Störungen, anhaltenden Wortfindungsstörungen, Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, die die Patienten wirklich beeinträchtigen im täglichen Leben, bei der Arbeit, aber auch im familiären Umfeld. Das ist sicherlich eine Gruppe. Häufig wird dann auch in diesem Zusammenhang von anhaltender physischer und psychischer Minderbelastbarkeit, der sogenannten Fatigue, gesprochen und berichtet. Dann gibt es die Patienten, die sich mit Kopfschmerzen, anhaltenden Kopfschmerzen, aber auch Schwindel vorstellen und zur weiteren Abklärung dann die Hilfe der neurologischen Post-COVID-Sprechstunde suchen. Und Patienten, die von Muskelschwäche belastungsabhängiger Art oder auch Muskelschmerzen berichten, die vorher auch sehr sportlich waren und jetzt gar nicht mehr so körperlich aktiv sein können, wie sie das eigentlich von sich gewohnt sind. 

AMBOSS: Und was ist dabei häufig und was ist weniger häufig? Stellt sich da schon was heraus? 

Franke: Ja, also, alle diese Symptome, die ich jetzt gerade berichtet hatte. Ich würde das wirklich in solche Gruppen einordnen wollen. Jetzt zumindest für unsere Berliner Patienten ist es doch so, dass die Patienten, die von kognitiven Defiziten berichten, doch sehr häufig sind. Also, auch in unserer Analyse von unseren Patienten, die wir gesehen haben, war das das häufigste berichtete Symptom – gefolgt von der Fatigue und dann von den Muskelschmerzen, der Muskelschwäche. Das deckt sich auch mit der aktuellen Literatur, die es da schon gibt. 

AMBOSS: Wie ist das denn in Aachen bei Ihnen, Frau Prof. Dr. Reetz? 

Reetz: Ja, genau. Also, in unserer neurologischen Long-/Post-COVID-Sprechstunde, die wir in Aachen etabliert haben, sehen wir Patienten auch verschiedenen Alters, also von 20 bis 90 Jahren. Wobei man sagen muss, dass die meisten zwischen 40 und 60 sind. Und 40 Prozent von denen sind zuvor auch stationär behandelt worden und 60 Prozent hatten eher einen milden Verlauf, also ohne einen stationären Krankenhausaufenthalt. Und die häufigsten Symptome bei uns sind, weil wir auch einen sehr starken kognitiven Schwerpunkt haben – da ist vielleicht ein bisschen Bias drin – aber auch analog so ein bisschen zu dem, was Frau Franke gerade berichtet hat: Aufmerksamkeit- und Gedächtnisstörungen, gefolgt von Fatigue, Schlafstörungen, Geruchs- und Geschmacksstörungen und Kopfschmerzen. Und wie Frau Franke das ja schon so ein bisschen dargelegt hat, gibt's auch eine kürzlich erschienene Übersichtsarbeit, eine Metaanalyse aus Texas, die jetzt 2021 erschienen ist. Da wurden 50 verschiedene Langzeiteffekte untersucht, und zwar im Zeitraum 14 bis 110 Tage nach einer akuten Corona-Infektion. Und die fünf häufigsten Symptome dort waren Fatigue, also diese deutlich erhöhte Müdigkeit und Belastungsintoleranz, aber auch Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsstörungen, Haarverlust und Atemnot. Und was eher ganz wenig war, also was unter drei Prozent an Symptomen dort berichtet wurde, waren Fuß- und Beinödeme zum Beispiel, aber auch einen Schlaganfall, Verwirrtheit, Herzrhythmusstörungen, Myokarditis. Nur um nochmal so ein bisschen, was ist häufig, was ist selten, darzustellen. 

AMBOSS: Ja, das ist sehr interessant. Wie ist das denn bei Ihnen in den Ambulanzen? Werden die Patient:innen Ihnen zugewiesen oder ist es eine offene Sprechstunde, in der sich informierte Menschen melden können?

Franke: Also, die meisten Patienten, die wir in Berlin sehen, sind tatsächlich vorher beim Hausarzt gewesen oder beim niedergelassenen Neurologen. Und es erfolgt eine Überweisung dann direkt zu uns in die Post-COVID-Sprechstunde. Es gibt auch Patienten, die uns direkt anschreiben und per E-Mail mit uns Kontakt aufnehmen, über Symptome berichten und dann auch zur Vorstellung kommen. Aber wie gesagt, wir haben die Kriterien, dass wirklich Patienten sich erst in der Post-COVID-Sprechstunde vorstellen und dann auch weitere Diagnostik eingeleitet wird, wenn die Akutinfektion zwölf Wochen her ist. Es ist aktuell unser Kriterium für die Aufnahme in der ambulanten Sprechstunde. 

Reetz: Genau, das ist bei uns ganz ähnlich. Also, zum einen natürlich der Nachweis einer Infektion durch zum Beispiel einen PCR-Abstrich oder manchmal auch Antikörper, wenn vielleicht kein PCR-Abstrich zu Verfügung stand. Und dann ganz ähnlich nach zwölf Wochen, wenn dann die Symptome weiterhin persistieren und zum Beispiel Gedächtnisstörungen oder Riechstörungen einfach mal objektiviert werden sollen, was oft draußen im ambulanten Bereich auch die Kapazitäten sprengt. Oder auch viele Kollegen, die nicht genau wissen, was ist denn tatsächlich typisch? Da haben wir ja gerade darüber gesprochen: Was ist häufig, was ist selten? Sodass dann die meistens zu uns in die Post-COVID-Ambulanz überweisen. Auch wir bekommen viele Anfragen per E-Mail, viele Anfragen auch per Telefon. Also, man merkt schon, dass da eine gewisse Suche stattfindet und die Anfrage doch recht groß ist. 

Franke: Ja, wenn ich da vielleicht noch ergänzen darf: Also, das glaube ich auch, dass das zunimmt und dass der Bedarf da steigen wird. Und es gibt tatsächlich jetzt noch nicht so viele etablierte neurologische Post-COVID-Sprechstunden und ich glaube, dass die Patienten tatsächlich suchen. Wir haben auch Patienten, die aus Bayern zu uns nach Berlin kommen und tatsächlich diese Fahrt auf sich nehmen, um sich dann hier vorzustellen – und auch aus Norddeutschland. Das heißt, da ist schon ein großer Bedarf da, die Symptome dieser Patienten abzuklären und dann auch eventuell Diagnostik einzuleiten. 

AMBOSS: Ja, jetzt für Ende April ist ja auch eine S1-Leitlinie von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) angekündigt worden zu Long-COVID/Post-COVID und sie soll Behandelnden konkrete Anhaltspunkte zur Diagnostik und Therapie an die Hand geben. Und die DGP hat sich dafür mit Psychosomatikerinnen, Neurologen und Allgemeinmedizinerinnen zusammengetan. Sind Sie auch daran beteiligt gewesen oder arbeiten Sie auch an einer neurologischen Post-COVID-Leitlinie? 

Franke: Ja, das ist sehr interessant. Wir sind jetzt nicht an dieser Leitlinie beteiligt gewesen. Also, ich nicht. Ich glaube, Frau Reetz auch nicht. Aber die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), also unsere Gesellschaft, hat auch eine Leitlinie in Planung. Die soll im Juli konzertiert werden. An der sind Herr Professor Prüß, ein Kollege von mir aus Berlin, am Campus Mitte tätig, und ich beteiligt, aber auch einige andere neurologische Kollegen. Wir haben bislang eine SOP für unsere Fachzeitschrift entwickelt, die DGNeurologie, das heißt, das ist eine Fachzeitschrift, die niedergelassene Neurologen, in der Klinik tätige Neurologen, die alle in der DGN Mitglied sind, erhalten. In dieser SOP haben wir kurz dargestellt, welche Diagnostik wir bei welchen Symptomen für sinnvoll erachten würden. Und in der Leitlinie wird das natürlich nochmal sehr viel ausführlicher berücksichtigt: nochmal aktuelle Daten, Studien, die ja jetzt auch erst in den letzten Wochen erschienen sind. Und genau, im Juli ist die in der Fertigstellung und soll dann auch analog zu der existierenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, federführend durch Herrn Professor Berlit, die die neurologische Manifestation der Akutinfektionen bei COVID-19 berücksichtigt, auch dann für Post-COVID-Symptome mit neurologischen Manifestationen etabliert werden.

Reetz: Vielleicht darf ich auch noch mal ergänzen, dass es ja eigentlich einzigartig war, dass so früh, also schon im August 2020, die erste S1-Leitlinie entstanden ist und es jetzt erst kürzlich im Februar das Update zu der S1-Leitlinie gab. Also, das heißt, es ist schon, denke ich, etwas Außerordentliches, dass das dank Federführung von Herrn Professor Berlit so schnell auf die Beine gestellt wurde. 

AMBOSS: Und für die Leitlinie, die jetzt geplant ist von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, arbeiten Sie auch interdisziplinär zusammen mit anderen Fachrichtungen? Oder ist das eher eine rein neurologische Zusammenarbeit?

Franke: Das ist jetzt erst mal primär eine rein neurologische Leitlinie. Aber ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei Post-COVID ist extrem wichtig. Das sehen wir ja auch in unserer klinischen Tätigkeit und in der Behandlung der Patienten. Und wir sollten uns noch viel besser vernetzen im klinischen Alltag, aber in Planung dieser Leitlinie unsere Kollegen der Psychosomatik, der Psychiatrie, aber auch der Inneren Medizin mit einbeziehen und uns da auch gut interdisziplinär aufstellen. 

Reetz: Ich sehe das ganz genauso und ich glaube, dass diese Pandemie einfach auch Auswirkungen auf sämtliche Bereiche in der Medizin hat. Und natürlich ist es primär eine Erkrankung der oberen und unteren Atemwege. Da sind die Infektiologen und die Internisten gefordert. Aber diese Multikomplexität erfordert einfach die Zusammenarbeit von verschiedenen Disziplinen wie die Intensiv-, die Notfallmediziner, die Pneumologen, die Infektiologen, die Virologen, Kardiologen, HNO-Ärzte, Psychiater und natürlich – da wir ja auch ein vermehrtes Auftreten neurologischer Erkrankungen sehen – die Neurologen. Und wie Frau Franke schon gesagt hat, ich glaube, das ist oberste Priorität und extrem wünschenswert, dass wir auch wirklich interdisziplinär unsere Expertise zusammenbringen, um das Krankheitsbild bestmöglich zu behandeln. 

AMBOSS: Eines der Symptome, das am häufigsten gemeldet wird, wie Sie gesagt haben, ist ja Fatigue. Und Fatigue und auch andere Symptome, die dem Long-COVID-Spektrum zugeordnet werden, daran leiden Betroffene nach einem schweren Verlauf, aber auch nach einem sehr milden Verlauf einer initialen COVID-19-Infektion. Das sind ja jetzt erst einmal zwei sehr unterschiedliche Gruppen. Also zum einen die COVID-Überlebenden, wie sie in manchen Studien genannt werden, und zum anderen die Menschen mit den milden Verläufen. Muss man zwischen diesen beiden Gruppen unterscheiden?

Franke: Genau wie Sie gesagt haben, gibt es diese unterschiedlichen Gruppen von Patienten, die COVID-19 hatten und dann in der Akutinfektion entweder einen milden Verlauf hatten, der mit häuslicher Quarantäne vergesellschaftet war, oder ins Krankenhaus kommen mussten, aber nicht intensivpflichtig waren, und/oder die Patienten, die einen intensivpflichtigen Verlauf hatten. Ich meine, am Ende gibt es ja diese drei Gruppen von Patienten und die werden auch in den wissenschaftlichen Untersuchungen unterschieden. Interessanterweise existieren Post-COVID-Symptome bei all diesen Patienten unabhängig vom Verlauf der Akutinfektion. Somit ist es natürlich wichtig zu unterscheiden, was für ein Verlauf bei diesen Patienten in der Akutinfektion vorlag. Aber alle diese Patienten, wenn sie Post-COVID-Symptome vorweisen, bedürfen einer neurologischen Beurteilung und erweiterten Diagnostik. Es ist gerade bei den intensivpflichtigen Patienten manchmal schwierig, sogenannte Post-Intensive-Care-Unit-Syndrome abzugrenzen, die ja auch mit einer kognitiven Störung einhergehen können, auch mit einer Myopathie, also mit Muskelschmerzen, Muskelschwäche im Sinne zum Beispiel auch einer CIP/CIM (Critical-Illness-Myopathie), die nach intensivpflichtigen Verläufen auch auftreten kann, ganz unabhängig von COVID. Da wird es sicherlich noch sehr wichtig sein, Studiendaten und Langzeitdaten gut zu erheben und wissenschaftlich abzugrenzen von COVID-19 oder Post-COVID-19. Aber interessanterweise berichten ja wirklich alle Patienten von Post-COVID-Symptomen, egal welchen Akutverlauf sie hatten. Unter anderem die Fatigue, die auch bei Patienten mit mildem Verlauf sehr häufig ist, genauso wie bei Intensivpflichtigen. 

AMBOSS: Also ist das letztendlich eine Differenzierung, die Sie in Bezug auf die Abgrenzung zu den Critical-Illness- und Post-ICU-Syndromen eher langfristig sehen werden? 

Franke: Ja, ich glaube, da liegt es jetzt an uns, gute Studienprotokolle aufzusetzen und diese Patienten gut zu untersuchen. Denn da brauchen wir wirklich wissenschaftliche Daten, um diese beiden Gruppen, also Non-COVID und COVID mit ITS-pflichtigen Verläufen, voneinander abzugrenzen und dann auch Besonderheiten der jeweiligen Gruppen herauszuarbeiten. 

Reetz: Wenn ich vielleicht auch noch mal so ein bisschen ergänzen kann – ich sehe das ganz, ganz ähnlich. Ich glaube, dass man das schon auch unterscheiden muss. Und wir sehen einfach, dass Fatigue das häufigste Long-COVID-Symptom ist bei den Patienten, die sowohl stationär krankenhauspflichtig waren, aber auch bei den milden Verläufen. Und wenn wir uns jetzt auch das Post-ICU-Syndrom noch mal näher anschauen, sind es einfach gesundheitliche anhaltende Probleme nach einer schweren kritischen Erkrankung, bei Patienten, die lange auf Intensivstationen waren, wo dann die Probleme kognitiv, körperlich und emotional weiterhin bestehen können, die natürlich auch im Symptomkomplex Post-COVID sehr ähnlich sein können. Und möglicherweise gibt's hier auch Überschneidungen und uns werden da letztendlich die Langzeitdaten helfen, das weiter zu differenzieren. Frau Franke hat schon gesagt, wie wichtig es ist, dort standardisierte Studienprotokolle aufzusetzen, um es besser zu charakterisieren und auch zu differenzieren. Aber wir sollten auch im Blick behalten: Die Besonderheit ist: Es sind auch viele, viele Patienten, die einen milden Verlauf hatten, die an diesem Post-COVID-Syndrom leiden.

AMBOSS: Insgesamt, in der ganzen Gesellschaft, kann man, glaube ich, schon eine gewisse Pandemiemüdigkeit beobachten. Es ist auch bekannt, dass derzeit psychische und psychosomatische Erkrankungen exazerbieren. Haben Sie eine Strategie, diese psychosomatischen und psychischen Faktoren bei Verdacht auf Long-COVID nach milden Verläufen zu differenzieren? 

Franke: Ich würde auch hier nochmal unterscheiden wollen. Natürlich sind hier auch Patienten, die nicht COVID hatten und in dieser Pandemie leben – die stellen sich auch in unseren Sprechstunden vor, vielleicht nicht in unserer neurologischen Post-COVID-Sprechstunde, aber sie stellen sich in unserer neurologischen Hochschulambulanz vor. Also ganz unabhängig von COVID-19. Das sehen wir schon auch. Und auch das, was Sie jetzt gerade berichtet hatten, dass die Zahlen an psychosomatischen Erkrankungen steigen, lässt sich schon nachvollziehen, auch in diesem Jahr, und wird uns auch so von den Kollegen berichtet. Ich glaube, gerade bei Post-COVID muss man offen sein für eine psychosomatische Mitbegründung der Symptome. Nichtsdestotrotz – wenn Patienten sich vorstellen, müssen die erstmal, wenn es neurologische Primärsymptome sind, die zur Vorstellung bei uns führen, neurologischer Diagnostik unterzogen werden. Und ich glaube, wie wir ja schon eingangs sagten, gerade dann ist auch diese interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Kollegen der Psychosomatik ganz wichtig. Also auch für die Patienten, die sich noch bei uns in Diagnostik befinden, kann es sinnvoll sein, auch schon, wenn die Diagnostik noch nicht abgeschlossen ist, zusätzlich eine psychosomatische Mitbehandlung relativ früh zu ermöglichen. Denn dort werden auch nochmal Strategien erlernt, wie man damit umgeht, mit der Situation, vielleicht auch das erste Mal im Leben mit einer schweren Erkrankung sich gegenübergestellt zu sehen. Es geht dabei um Edukation, also alles Dinge, die ja in der Psychosomatik fest verankert sind oder auch in der Therapie. Und ich glaube, es ist sinnvoll, diese Patienten gut zu untersuchen. Und Psychosomatiker gehören genauso dazu aus meiner Sicht wie Kardiologen oder Pulmologen, Infektiologen zur Behandlung von Post-COVID-Patienten.

Reetz: Also, ich kann das auch nur unterstützen. Wir sehen diese Schwierigkeiten ja bei allen. Bei vielen Patienten mit anderen, gerade schweren chronischen Erkrankungen, die einfach darunter leiden – die wenigen ärztlichen Kontrollen – und natürlich auch bei Post-COVID. Und ich glaube, es ist ganz wichtig, das ernst zu nehmen, die berichteten Schwierigkeiten und Probleme zu objektivieren – mit den verschiedensten Tests – und dann Therapien gemeinsam zu erarbeiten. 

AMBOSS: Sie sind ja Neurologinnen und es gibt eine Gruppe, die an myalgischer Enzephalomyelitis und dem chronischen Fatigue Syndrom forscht. Ich habe mich gefragt: Gibt es schon Ansätze, auch eben dieses Feld, das ja vor allen Dingen neuroimmunologisch untersucht wird, abzugrenzen? Ich habe eine Studie gefunden, die an der Charité kürzlich veröffentlicht wurde, dass man versucht hat, die diagnostischen Kriterien für das chronische Fatigue-Syndrom auf Post-COVID-Patient:innen anzuwenden. Können Sie mir dazu etwas sagen? 

Reetz: Also, das chronische Fatigue-Syndrom, das ist natürlich auch nicht so ganz einfach zu diagnostizieren. Es gibt keinen Bluttest, mit dem man das mal eben eindeutig bestimmen kann. Ich darf vielleicht noch mal kurz das Leitsymptom, also die Belastungsintoleranz, die vermehrte Müdigkeit erwähnen. Und durch körperliche, aber auch geistige Belastung/Anstrengung kommen diese Symptome und können sich durch weiteren Stress und Belastung weiter verstärken. Weitere Symptome sind grippeähnliche Symptomatik, Kopfschmerzen, Herzrasen, leichtes Fieber, Halsschmerzen, aber auch Konzentrationsschwierigkeiten – diese bleierne Erschöpfung, wie es beschrieben wird. Es wird vermutet, dass diesem chronischen Fatigue-Syndrom eine Art Störung des Energiestoffwechsels durch eine Überaktivierung des Immunsystems zugrunde liegt. Und der Studie an der Charité von Frau Professor Scheibenbogen zufolge wurden bei 19 von insgesamt 42 Studienteilnehmern mit Long-COVID, also ungefähr die Hälfte, nach diesem strengen kanadischen Konsens-Kriterien-Modell für das chronische Fatigue-Syndrom, das chronische Fatigue-Syndrom diagnostiziert. Und jetzt muss man weitere Studien auch mit größeren Fallzahlen anschließen, inwiefern auch die COVID-19-Infektionen das chronische Fatigue-Syndrom tatsächlich auslösen können. Hier brauchen wir deutlich größere Fallzahlen und auch Langzeitdaten, um das genau einzuordnen und beurteilen zu können.

Franke: So wie Frau Reetz das gerade dargestellt hat, ist es ja auch sehr interessant, dass diese Arbeit tatsächlich versucht hat, Biomarker zu identifizieren, und dabei einen Mangel an Mannose-bindendem Lektin bei immerhin 22 Prozent und eine Erhöhung von Interleukin-8 bei 43 Prozent der betroffenen und untersuchten Fatigue-Patienten gezeigt hat. Also, wie Frau Reetz schon sagte, es bleibt total spannend. Ich glaube, da gibt's ganz viel Bewegung in dem Feld, und von unserer Seite her möchten wir das mit begleiten. Ich bin zwar hier am Campus Benjamin Franklin in Steglitz und die Kollegen sind im Wedding am CVK. Aber auch da gibt es Austausch über die Campi hinweg mit den Kollegen der Immunologie. 

AMBOSS: Also ist bis jetzt Long-COVID/Post-COVID eine Ausschlussdiagnose?

Reetz: Ich würde es nicht als Ausschlussdiagnose bezeichnen, sondern wir lernen letztendlich diesen Symptomkomplex jetzt kennen. Wir lernen die ersten zeitlichen Komponenten kennen. So konnten wir schon die ersten Einstufungen in Long-COVID/Post-COVID etablieren. Wir lernen die Symptomkomplexe kennen und Post-COVID gilt schon als Diagnose. Es gibt jetzt auch schon ICD-Schlüssel dafür, wie wir es klassifizieren können. Natürlich haben wir das Krankheitsbild noch nicht komplett durchdrungen und verstanden und auch noch nicht effektive Therapien etablieren können. Wir stehen da ganz am Anfang, aber ich würde es nicht als Ausschlussdiagnose bezeichnen.

Franke: Das würde ich genauso sehen. Ich glaube, es ist, wie Frau Reetz sagt, ja auch ein sehr junges Krankheitsbild, über das wir jetzt gerade anfangen, noch mehr zu lernen. Aber auch in der Abklärung der Patienten oder in den berichteten Symptomen muss man natürlich andere Erkrankungen ausschließen. Also, es ist keine Ausschlussdiagnose. Aber wir schließen natürlich andere Erkrankungen aus, die sich einfach in zeitlichem Zusammenhang entwickelt haben können bei den Patienten. Und das sehen wir ja immer wieder, dass wir dann doch auch Patienten haben, die vielleicht zum Beispiel eine Polyneuropathie einer anderen Ursache haben und es jetzt durch COVID oder nach der COVID-Infektion, vielleicht auch dadurch getriggert, nochmal zu einer Störung gekommen ist, wo jetzt das Ausmaß so weit ist, dass die Patienten sich auch neurologisch vorstellen.

AMBOSS: Also, aktuell werden ja auch vor allen Dingen diverse Studien mit Patient:innen aus Long-COVID-Ambulanzen durchgeführt. Um Selektionseffekte zu vermeiden, wären ja eigentlich großflächige Nachuntersuchungen bei Menschen nach SARS-CoV-2-Infektionen sinnvoll. Was halten Sie denn von der Idee? 

Franke: Genau da würden wir eigentlich ganz gerne auf das Nationale Pandemie Kohorten Netz (NAPKON) verweisen. Das ist ja eine sehr große, breit angelegte Datenerhebung über verschiedene Ebenen. Es gibt eine Populationsebene, eine Versorgungsebene – die umfasst Gesundheitsämter, Praxen, Krankenhäuser, Universitätskliniken. Und dann gibt es noch die Kohortenplattformen, die an den Universitätskliniken durchgeführt werden und somit in die Breite Symptome der Akutinfektion erfassen, bei Patienten mit verschiedenen Verläufen, und die ja auch nachverfolgen: mit Bildgebung, mit Analysen von Biomaterial – also Blut-, Liquor-, Urinuntersuchungen sind da auch vorgesehen. Das ist auch sehr interdisziplinär und umfasst viele verschiedene Kliniker, die sich da diese große Datenbank aufgesetzt haben und diese Patienten wirklich auf verschiedenen Ebenen nachverfolgen. Ich glaube, das ist ganz wichtig, damit wir da wirklich valide und gute Daten für die Langzeitverläufe von SARS-CoV-2-Infektionen haben.

Reetz: Dann kann ich jetzt sozusagen noch ergänzen: Gleichzeitig gibt es zum Beispiel in den USA auch groß angelegte Studien, wo alle diejenigen, die einen Corona-Abstrich erhalten haben, mit digitalen Medien oder auch sozialen Netzwerken weiter nachverfolgt werden und verschiedene Fragebögen etabliert und untersucht und abgefragt werden, um möglichst viele Langzeitdaten über bestimmte Symptome zu erlangen. Also auch da gibt es noch Möglichkeiten, sehr weit gefasst großflächige Nachuntersuchungen auf einer, ich sag mal: retrospektiven, etwas gröberen Untersuchungsart anzustreben. 

AMBOSS: Das ist sehr interessant mit diesem NAPKON-Netzwerk: Speisen Sie Ihre Daten jetzt schon mit in dieses Netzwerk ein, können Sie die auch schon benutzen oder brauchen wir dafür noch ein bisschen mehr Zeit zum Datensammeln? 

Franke: Es ist genau so, wie Sie sagen. Wir dürfen noch gespannt sein. Wir speisen Daten in diese Datenbank ein. Wir haben Patienten an den verschiedenen Standorten, die in NAPKON involviert sind, die auch mit der Akutinfektion stationär sind und dann dort Langzeit-Follow-up-Untersuchungen mitmachen. Und da dürfen wir doch erwarten, was da rauskommt.

AMBOSS: Und gibt es jetzt schon Initiativen zu einheitlichen Studienprotokollen, vor allen Dingen in der Neurologie? 

Franke: Also, wir haben ja Kooperationen über die verschiedenen Standorte hinweg. Wir aus Berlin haben zum Beispiel eine Kooperation mit der Uniklinik Köln mit Herrn PD Dr. Warnke aus der Kölner Uniklinik, indem wir gemeinsam ein Projekt aufgesetzt haben, was auch über die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) gefördert ist. Und somit versuchen wir natürlich, uns mit unseren Kooperationspartnern abzustimmen. Und das werden wir sicherlich für weitere Projekte genauso umsetzen.

Reetz: Man kann ja auch erwähnen, dass gerade in NAPKON es ja auch ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll gibt, was großflächig angelegt ist. Und darüber hinaus gibt es zahlreiche wissenschaftliche Kooperationen, nicht nur zwischen Universitätskliniken, sondern auch mit nicht-universitären Institutionen, wo wir versuchen zusammenzuarbeiten, damit nicht Einzellösungen entstehen, sondern damit wir wirklich effektiv auch Datensätze auswerten können mit entsprechenden Fallzahlen.

AMBOSS: Wir sind ja jetzt gedanklich schon in die Richtung der großen neuen multizentrischen Studien gegangen. Aber jetzt ganz konkret: Wenn Sie bei sich in der Sprechstunde sind, wie objektivieren Sie die berichteten Symptome der Patient:innen? Was für Untersuchungen machen Sie? 

Reetz: Ich kann ja einfach mal mit zwei Beispielen anfangen. Was wir ja sehr häufig sehen, hatten wir auch anfangs schon berichtet, sind diese Gedächtnisstörungen. Und hier kommen wir mit ausführlichen neuropsychologischen Testbatterien, wo wir uns genau anschauen: Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Sprache, Benennen, Exekutivfunktionen, Visuokonstruktion. Können wir hier potenzielle Defizite objektivieren? Also stimmt das überein mit den berichteten subjektiven Beschwerden? Und ein weiteres Beispiel ist auch die Riechstörung. Vielleicht haben Sie es schon mal gehört: sogenannte Riech-Stifte oder Sniffing-Sticks, das hat ja einen verschiedenen Geruch. Auch hier können wir sozusagen überprüfen, ob tatsächlich eine Geruchsstörung vorliegt. Frau Franke kann jetzt, glaube ich, noch ein bisschen aus Berlin erzählen.

Franke: Genau. Wir machen das für die Patienten, die sich mit kognitiven Störungen vorstellen, genauso, analog zu den Kollegen in Aachen. Ich würde vielleicht als anderes Beispiel noch die Patienten mit Muskelschmerzen oder Muskelschwäche vorstellen wollen. Also, natürlich erfolgt eine körperliche Untersuchung, und dann versuchen wir, uns schon anhand der natürlich bestehenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie mit der Diagnostik voran zu tasten. Das umfasst Blutuntersuchungen oder auch Liquordiagnostik, wenn das notwendig erscheint, und auch elektrophysiologische Untersuchungen zur Untersuchung der Nervenbahnen.

AMBOSS: Und eine Bildgebung?

Franke: Genau. Auch Bildgebung machen wir standardmäßig bei Patienten mit kognitiven Störungen. Wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind, würden wir auch eine Bildgebung für sinnvoll erachten.

AMBOSS: Also, das heißt, nicht jede Person, die sich in Ihrer Sprechstunde vorstellt, bekommt ein Kopf-MRT, sondern es muss gewisse Hinweise geben, dass man sagt, “Okay, ich stelle jetzt die Indikation für ein Kopf-MRT”? 

Reetz: Die Beschwerden sind ja auch sehr unterschiedlich und wir machen das sozusagen führend nach den jeweiligen Beschwerden und der jeweiligen Ausprägung, dass dann auch die Testung ein bisschen entsprechend angepasst wird.

AMBOSS: Viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen sind aufgrund der noch geringen Daten verunsichert. Die wissen teilweise nicht, ab welcher Symptomdauer welche Diagnostik oder eine Überweisung angebracht ist, und stellen sich auch immer mal wieder die Frage: Ist die Symptomatik jetzt COVID-spezifisch oder nicht? Was könnte ich jetzt als niedergelassene Allgemeinmedizinerin schon alles an Diagnostik machen, ohne Gefahr zu laufen, Überdiagnostik zu betreiben, aber trotzdem Ihnen gut zuarbeiten? 

Franke: Ja, ich glaube, die Allgemeinmediziner haben eine ganz wichtige Aufgabe in der Behandlung dieser Patienten, weil sie die Patienten ja auch schon vor der COVID-Erkrankung gut kennen, die Verläufe kennen, die Vorerkrankungen, und auch ein Vertrauensverhältnis existiert. Ich glaube, dass vielleicht der wichtigste Punkt erstmal ist, dass der Allgemeinmediziner den Patienten beruhigt. Wir wissen, dass es nach der COVID-Erkrankung wirklich zu einer verlängerten Rekonvaleszenz kommt, dass die Patienten länger, wirklich bis zu zehn, zwölf Wochen nach der akuten Infektion über Symptome, die auch fluktuierend auftreten können, klagen und dass gerade so drei, vier Wochen nach der Akutinfektion, wenn vielleicht die Erschöpfung oder auch die subjektiven kognitiven Defizite dann erstmal nicht auftreten, dass dann meistens eine erweiterte Diagnostik nicht so richtig zielführend ist. Dass man wirklich den Patienten engmaschig beobachtet und natürlich auch empathisch dem Patienten gegenübersteht und dann aber auch wirklich erst Diagnostik anfängt, wenn bestimmte Symptome über einen längeren Zeitraum bestehen. Ich glaube, das ist erst einmal das, was auch wir bei Vorträgen den Kollegen der Allgemeinmedizin sicher empfehlen würden. 

Kathrin Reetz: Ja, also, ich ich glaube auch, dass es ganz wichtig ist, auch zu informieren. Und da ist die erste Stelle sicherlich der Hausarzt und der Allgemeinmediziner. Und viele sind ja auch zunehmend immer mehr über das Post- und Long-COVID-Syndrom informiert. Ich erlebe immer wieder auch in der Sprechstunde, welche Erleichterung es für viele Patienten ist, überhaupt zu wissen, dass diese Symptome, die sie so belasten, die neu sind, mit denen sie zurechtkommen müssen, dass wir sie sehr gut kennen als Post- und Long-COVID-Symptome. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, wo viele Hausärzte schon viel erreichen können, und sollten dann die Symptome weiter persistieren, also zum Beispiel länger als drei Monate anhalten, und ich nehme jetzt nochmal das Beispiel der Gedächtnisstörungen, dann können die Patienten in die Post-COVID-Ambulanzen überwiesen werden. Dort können wir mit einer neuropsychologischen Testung oder je nachdem, welch anderes Symptom jetzt möglicherweise führend ist, die Symptomatik weiter abklären und objektivieren. 

AMBOSS: Also wäre Ihre Empfehlung, Patient:innen beruhigen, engmaschig nachkontrollieren und erst nach einem Verlauf von drei Monaten, sodass sie letztendlich auch in Ihre Studienprotokolle passen, dann zu Ihnen in die Ambulanzen überweisen? 

Franke: Genau. Ich würde das unabhängig von den Studienprotokollen sehen, sondern ich würde wirklich unterstreichen wollen, dass es vorher tatsächlich noch nicht richtig zielführend ist, Diagnostik zu machen. Komplett unabhängig von Studien. Weil wir wissen, dass viele der Symptome sich wieder bessern. Symptome, die vier Wochen nach der Akutinfektion vielleicht noch dominant bestehen, die Patienten deutlich einschränken, können acht Wochen nach der akuten Infektion schon wieder vollkommen regredient sein und die Patienten nicht mehr beeinträchtigen. Das heißt, wirklich so, wie Frau Reetz es jetzt sagte, denke ich schon, es ist wirklich sinnvoll, erweiterte Diagnostik drei Monate nach der Akutinfektion einzuleiten, und ob dann Patienten in Studien eingeschlossen werden, das ist vollkommen unabhängig davon.

Reetz: Ja, also, das sehe ich ganz genauso. Da wäre ich auch ganz vorsichtig, das jetzt davon abhängig zu machen. Aber ein ganz wichtiger Punkt ist auch wirklich nochmal die Aufklärung, dass sich viele dieser Symptome doch deutlich zurückbilden in den ersten Wochen. Das können wir natürlich eher so ein bisschen retrospektiv aus den Anamnesen unserer Patienten auch schon wiedergeben – dass viele berichten, dass sich dann zum Beispiel die Konzentrationsstörungen deutlich gebessert haben, nach sechs oder sieben Wochen der Geruch zurückgekommen ist, der Geschmack wieder in Ordnung war, die Muskelschmerzen sich gebessert haben. Das heißt, es sind wirklich sehr, sehr viele, wo sich diese Symptome gerade in den ersten Wochen wieder bessern. Und das ist etwas, wo ich, wenn das sozusagen in diesen Symptomkomplex passt, erstmal noch weiter abwarten würde. Und sollte das persistieren oder eine weitere akute neue Symptomatik auftreten, dann sollte man das natürlich immer abklären, um Gottes Willen! Aber manchmal, wie gesagt, sind die meisten Symptome dann auch in den nächsten Wochen rückläufig. 

AMBOSS: Wie lässt sich denn verhindern, dass Long-COVID als Verlegenheitsdiagnose herumgeistert und mehr Verunsicherung als Nutzen stiftet? 

Reetz: Wir müssen schnellstmöglich den Erkrankungskomplex erfassen, verstehen und weiter definieren. Damit schaffen wir klare Kriterien, die uns helfen, das Erkrankungsbild ein- und von anderen Differentialdiagnosen abzugrenzen. Kaum eine Erkrankung hat bisher so viel Medienaufmerksamkeit genossen wie die Corona-Infektion. Und da ist es schon manchmal schwer, an objektive und leicht verständliche Informationen heranzukommen. Und hier möchte ich mir erlauben, an dieser Stelle einmal auf die Deutsche Hirnstiftung aufmerksam zu machen. Denn die Deutsche Hirnstiftung hat sich zum Ziel gesetzt, objektiv leicht verständlich und immer auf dem aktuellen Wissensstand, auch über Corona, Informationen für Patienten und ihre Angehörigen zur Verfügung zu stellen. Und auch Experten stehen für Fragen zur Verfügung. 

AMBOSS: Das heißt, auch als Allgemeinmedizinerin oder Allgemeinmediziner kann man immer auf die Website der Deutschen Hirnstiftung hinweisen, als eine Art Patient:innen-Informationsquelle und für Angehörige, um sich auch in einfacher Sprache informieren zu können? 

Reetz: Ja, genau. Also, es ist so, dass es sich primär um neurologische Erkrankungen handelt. Es umfasst nicht alle Erkrankungen, sondern die neurologischen Erkrankungen. Aber da wir bei COVID auch viele neurologische Manifestationen sehen, ist das natürlich auch eine wichtige Erkrankung, mit der wir uns beschäftigen. Wir hatten eben die Leitlinien und all die Forschungsaktivitäten, die wir als Neurologen hier auch schon initiiert und in die Wege geleitet haben. Und als Deutsche Hirnstiftung wollen wir uns natürlich auch diesem Thema widmen und leicht verständliche Informationen zur Verfügung stellen. 

AMBOSS: Und wie könnte man dann Betroffenen, die bei Ihnen in der Sprechstunde und Ambulanz auftauchen, aktuell helfen in Bezug auf Gedächtnisstörungen und vor allen Dingen diese Fatigue-Symptomatik, die ja auch teilweise sehr einschränkend im ganz normalen Alltag ist? 

Franke: Also, neben der umfassenden Diagnostik zur Zuordnung der Symptome muss man ja abhängig von dieser Diagnostik, wenn man dort etwas herausgefunden hat, dann auch therapeutische Konsequenz eventuell einleiten. Wir in Berlin haben ja jetzt auch wissenschaftliches Interesse an der Autoimmunität dieser Patienten. Also, wir sehen bei einigen Patienten, die wir erweitert untersuchen, auch inklusive Untersuchung des Nervenwassers und des Blutes, Hinweise einer Bildung neuronaler Autoantikörper, die wir erstmal in Verbindung mit COVID-19 bringen. Das konnten wir für die Patienten mit Akutinfektionen schon nachweisen, die neurologische Manifestationen geboten hatten und die auch, das ist eine Arbeit, die wir gerade dabei sind zu beenden, immunmodulatorisch dann mit einem guten Erfolg behandeln konnten. Und für die Post-COVID-Patienten gilt das aus meiner Sicht analog: Habe ich einen Hinweis für eine Immunbeteiligung? Dann würde sich daraus eine therapeutische Konsequenz ergeben. Das muss man dann individuell für den Patienten sehen, welcher Art die ist, also mit welchem Präparat und ob es den Patienten hilft. 

Reetz: Vielleicht noch eine Ergänzung auch zur Fatigue. Auch hier empfehlen wir so ein bisschen analog zum chronischen Fatigue-Syndrom, dass man versucht, Stressfaktoren rauszunehmen oder auch Mind-Body-Therapien, oder was Patienten viel hilft, Meditation oder Yoga, eine Stressbewältigung und einen achtsamen Umgang mit den eigenen Ressourcen – dass man versucht, so eine stufenweise Steigerung auch der individuellen Belastbarkeit mit aktivierenden Maßnahmen, aber auch Entspannungsverfahren zu empfehlen. Vielen hilft auch so eine Art Symptom-Tagebuch mit Hinweisen des Schweregrades, um die individuellen Fortschritte ein bisschen zu objektivieren. Viele leiden ja extrem unter dieser ausgeprägten Erschöpfbarkeit. Und wenn man dann sieht, dass es so Stück für Stück besser wird, dann hilft es auch, mit der Erkrankung umzugehen, zu sehen, es wird besser und dann Schritt für Schritt da weiterzumachen. Und wenn es sehr, sehr ausgeprägt ist, gibt es ja auch schon verschiedene rehabilitative Ansätze, die angeboten werden können. Bei gerade auch so Aufmerksamkeitsstörungen gibt's verschiedene Trainings, die man machen kann. Bei der Riechstörung, die ja in der Regel vorübergehend ist, und wenn man jetzt HNO-ärztlich auch nichts weiteres als Ursache finden kann, gibt es ein gewisses Riechtraining, was man durchführen kann. Hier werden klassischerweise Rose, Zitrone, Eukalyptus und Gewürznelke verwendet, sodass es schon einige Ansätze gibt, die man hier anbieten kann. 

AMBOSS: Es gibt auch Berichte, denen zufolge die Impfung gegen COVID-19 sich positiv auf Long-COVID-Symptome auswirken könnte. Haben Sie damit schon Erfahrungen machen können? 

Franke: Also, direkt Patienten, die davon profitiert haben, kenne ich jetzt aus der Sprechstunde nicht. Bislang ist das ja anekdotenhaft berichtet. Ich glaube auch, da fehlen uns wirklich Langzeitdaten. Aber das ist natürlich sehr interessant und ich glaube, ich kann nur alle ermutigen, sich impfen zu lassen, also die Impfung auch durchzuführen. Wir würden das analog zu den RKI-Richtlinien auch den Patienten empfehlen, die COVID-19 hatten. Die Empfehlung lautet ja aktuell so, dass Patienten, die sechs Monate nach der Akutinfektion sind, sich impfen sollen, wenn sie denn zu der Gruppe gehören, die jetzt geimpft wird. Und ich empfehle das allen meinen Patienten, dies auch zu tun. 

Reetz: Das kann ich aus Aachen auch noch sagen, dass wir bis jetzt keine Patienten gesehen haben und zum jetzigen Zeitpunkt ist es einfach noch kaum abzuschätzen. Es gibt einfach zu wenig Daten und den Impfaufruf den kann ich nur wärmstens unterstützen. 

AMBOSS: Frau Franke, Sie haben gerade schon angedeutet, dass Sie in Richtung Autoantikörper forschen. Wollen Sie dann noch kurz was dazu sagen? Und dann würde ich natürlich Frau Prof. Reetz auch noch bitten, mir vielleicht zu verraten, wo gerade Ihr Schwerpunkt in Ihrer Forschung in Aachen ist. 

Franke: Wissenschaftlich beschäftigen wir uns hier in Berlin mit der Frage der Autoimmunität nach oder bei COVID-19 und auch jetzt für Patienten mit Post-COVID-Symptomen und haben hier Hinweise darauf, dass im Nervenwasser nachgewiesene Autoantikörper bestehen, die wir verdächtigen, neurologische Symptome zu verursachen. Und wenn wir in der Routineuntersuchung des Nervenwassers und auch des Blutes oder in erweiterten, hier im Labor durchgeführten Untersuchungen des Nervenwassers einen Hinweis auf eine Immunbeteiligung sehen, würden wir bei den Patienten eine Therapie mit, zum Beispiel, Cortison durchführen und würden gucken, ob es dann einen Effekt auf die beschriebene Symptomatik der Patienten hat. Das bedarf trotz allem vorheriger umfassender Diagnostik. Also, ich würde jetzt nicht primär Prednisolon als Tablette der Wahl für alle Patienten mit Post-COVID-Symptomen empfehlen. Ganz und gar nicht. Ja, weil wie bei jedem Medikament: wo Wirkung, da Nebenwirkung – so auch beim Prednisolon. Aber wenn es einen Hinweis für eine Immunbeteiligung gibt, dann halte ich das für gerechtfertigt. Das muss man mit den Patienten gut besprechen. Andere immunmodulatorische Therapien wären zum Beispiel Infusionen mit Immunglobulinen. Aber auch da muss man gut abwägen vorher, gut Diagnostik betreiben, ob das wirklich gerechtfertigt ist. Genau, damit befassen wir uns. Und ja, wir sind hier sehr gespannt, was jetzt die großen Daten ergeben. 

Reetz: In Aachen haben wir uns im letzten Jahr auch einen wissenschaftlichen Schwerpunkt erarbeitet zu Long-COVID. Wir beschäftigen uns mit klinischen, neurologischen, neuropsychologischen, laborchemischen und auch bildgebenden Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion, also Long-COVID und bei den bildgebenden Verfahren nutzen wir die Magnetresonanztomographie, also ohne eine Strahlenbelastung, um uns die Struktur und die Funktion des Gehirns näher anzuschauen. Wir wollen letztendlich auch verstehen, inwiefern die Long-COVID-Symptome mit möglichen strukturellen und auch funktionellen Veränderungen im Gehirn einhergehen. Das heißt, wir wollen auch schauen, inwiefern vielleicht kognitive Störungen auftreten, ob wir da besondere Veränderungen funktioneller Netzwerke sehen oder auch gerade was die Fatigue angeht, oder Patienten, die lange auf Intensivstationen waren und beatmet waren. Inwiefern unterscheiden sich da die bildgebenden Läsionen und Abnormalitäten im Vergleich zu denjenigen, die jetzt nur einen milden normalen Verlauf hatten. 

AMBOSS: Und ist Ihnen da bis jetzt schon was aufgefallen in Ihren Studien? 

Reetz: Also, ich sag jetzt mal ganz, ganz vorläufig mit einem ersten Blick in die ersten Daten, muss man sagen, dass erfreulicherweise bei den meisten mit dem milden Verlauf keine relevanten strukturellen Auffälligkeiten sind. Zu den funktionellen Daten kann ich jetzt noch nichts sagen. Was wir häufiger sehen bei den Patienten, die lange auf Intensivstationen waren und beatmet waren, dass wir da häufiger auch Mikroblutungen oder Läsionen sehen. 

AMBOSS: Ich habe jetzt noch eine letzte Frage für Sie beide, nämlich ob Sie eine Prognose wagen, wie lange uns Long-COVID noch beschäftigen wird. 

Franke: Ich glaube, da sind wir beide gleicher Meinung. Long-COVID wird uns noch einige Zeit beschäftigen. Hätten wir gar nicht vermutet, wahrscheinlich, aber so vieles haben wir nicht vermutet in dem letzten Jahr, und wie es dann anders gekommen ist. Nein. Wir gehen jetzt in die dritte Welle. Wir stehen quasi mitten in der dritten Welle. Das sehen wir hier auch an den aktuell steigenden Zahlen von akut-infizierten Patienten, unsere ITS(Intensivstation)-Kapazitäten werden weiter beansprucht. Und auch hier werden wieder Patienten sein, die Post-COVID-Symptome berichten werden und sich auch wieder nach neurologischer Hilfe umschauen werden. Und somit werden wir noch länger damit zu tun haben. Jetzt eine genaue Zahl vermag ich nicht zu sagen, aber wir werden damit noch länger zu tun haben und uns um diese Patienten kümmern müssen, damit wir da eine adäquate Versorgung auch dieser großen Gruppe von Patienten gemeinsam über die verschiedenen klinischen Fachrichtungen hinweg gewährleisten können.

Reetz: Also, ich gehe auch nicht davon aus, dass Corona, wie wir uns alle vielleicht wünschen würden, bald vorbei wäre, sondern dass wir uns tatsächlich noch eine ganze Weile damit auseinandersetzen müssen. Man muss sagen, dass die Aktivitäten, die in dem letzten Jahr dazu gestartet wurden, einzigartig sind. Wir haben wahnsinnig viel gelernt und wir lernen auch weiter. Und ich denke, wenn wir mit diesem Engagement und der Aktivität weitermachen, dann werden wir das Krankheitsbild besser verstehen und besser lernen, damit umzugehen. Und hoffentlich auch bessere Therapien, auch gerade für die Post- und Long-COVID-Symptome, sofern sie denn weiter persistieren, etablieren können. 


Mehr Informationen zu den angesprochenen Differentialdiagnosen finden sich in den AMBOSS-Kapiteln
COVID-19 und Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom.

Einen Überblick zu Long- bzw. Post-COVID bietet die Guideline des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE), und Informationen in leichter Sprache für Betroffene und Angehörige finden sich auf der Seite der Deutschen Hirnstiftung.

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