Multiple Sklerose: Paradigmenwechsel in Forschung und Therapie
Die Multiple Sklerose ist die häufigste immunvermittelte chronische ZNS-Erkrankung, ihre Ursache bleibt ungeklärt. Wir sprechen mit PD Dr. med. L. A. Gerdes über Paradigmenwechsel in Forschung und Therapie.
--- Dieses Transkript gibt unsere Podcast-Folge mit PD Dr. med. L. A. Gerdes im Wortlaut wieder. Sprachliche Ungenauigkeiten bitten wir vor diesem Hintergrund zu entschuldigen. Wir haben dieses Gespräch im Mai 2022 aufgezeichnet. ---
AMBOSS: Frau Dr. Gerdes, Sie hatten mir ja im Vorgespräch erzählt, dass Sie jetzt als noch junge Ärztin nicht zwingend eine wissenschaftliche Karriere vor Augen hatten und auch während der Promotion noch gar nicht mit der Multiplen Sklerose in Berührung kamen, sondern zu einem immunologischen Thema geforscht haben. Mittlerweile führen Sie aber schon seit zehn Jahren Ihre Zwillingsstudie zur Multiplen Sklerose durch. Wie kam es dazu? Und was an der MS begeistert oder motiviert Sie so, dass Sie nun doch schon so lange dabeigeblieben sind?
PD Dr. med. L. A. Gerdes: Also, die Multiple Sklerose finde ich deswegen spannend, weil es halt einfach Menschen in meinem Alter oder Menschen, die gerade im jungen Erwachsenenalter sind, die eigentlich wirklich gerade so in der Rushhour des Lebens sind, die sich im Job behaupten wollen, die eine Familie planen wollen. Und dann kommt diese Erkrankung eigentlich so schicksalshaft über die Patienten und ist einfach immer ein belastendes Lebensereignis. Und den Patienten einfach da zur Seite zu stehen und da auch Forschung zu treiben, um auch die Therapie voranzutreiben, fand ich immer extrem wichtig und ich muss persönlich sagen: Klar, als Neurologe arbeitet man auch auf der Schlaganfallstation, man hat auch mit Demenzpatienten zu tun. Das hat alles auch seine Berechtigung, aber man kommt dann doch eher in diese Schiene Zivilisationserkrankungen, die einfach auch teilweise schon besser verstanden sind, obwohl es da auch viele Fragen gibt. Aber gerade die Autoimmunerkrankungen, für die ja letztlich die MS ein Beispiel ist - ja, es gibt ja so viele Autoimmunerkrankungen - die finde ich einfach eine Herausforderung, die man angehen muss. Vor allem weil die Autoimmunerkrankungen ja auch einfach zunehmen.
Zwillingsstudie – die ideale Kohorte
AMBOSS: Ja, so ist es. Das ist ja schon auch ein Hinweis – auch der Anstieg von den Zahlen seitens der Frauen in den letzten Jahrzehnten – ein Hinweis darauf, dass es da irgendwelche Faktoren in der Lebensgestaltung geben muss, die da einen Einfluss darauf haben, warum wir plötzlich mehr Autoimmunerkrankungen entwickeln. Ich hatte ja eingangs schon ein paar Worte zu Ihrer MS-Zwillingsstudie gesagt, welche Sie leiten, aber vielleicht können Sie sie einmal selber kurz vorstellen. Was ist das Besondere daran und was wollen Sie an den Proband:innen untersuchen?
Gerdes: Also, bei der Untersuchung von MS-Patienten ist es ja so wie immer in der Wissenschaft: Man benötigt immer gesunde Kontrollen als alters- und im besten Fall noch geschlechtsgematchte Kontrollkohorte, um irgendwelche krankheitsrelevanten Unterschiede überhaupt rausfiltern zu können. Und da hat man, egal welche Kohorte man untersucht, immer das Problem, die gesunden Probanden, die werden bezüglich ihres genetischen Hintergrundes sehr heterogen sein, die werden auch bezüglich der Umweltfaktoren heterogen sein, die in früher Kindheit auf sie einprasseln. Und es gibt ja so viele Dinge, die bei der Multiplen Sklerose diskutiert werden - angefangen schon während der Schwangerschaft, durch die Geburt: War's ein Kaiserschnitt, war's eine normale Geburt? Wurde man gestillt, ja, nein? Welche Kindererkrankungen hatte man? Sodass man einfach immer davon ausgehen muss, dass diese ganzen Faktoren so viel Rauschen reinbringen in jede Untersuchung und man versuchen muss, dieses Matching so ideal wie möglich zu machen. Und wenn ich jetzt eineiige Zwillinge untersuche, also genetisch identische Zwillinge, die sind ja klar gematcht für Alter und Geschlecht, aber die sind natürlich vor allem für die Genetik gematcht. Und die Genetik spielt ja auch eine große Rolle bei der Multiplen Sklerose. Und die sind aber auch sehr gut gematcht für frühe Umweltfaktoren - wie gesagt, angefangen von der Geburt über Kinderkrankheiten, Ernährung, bis sich dann letztlich die Wege der Zwillinge trennen und die das Elternhaus verlassen. Sicherlich gibt es vorher auch Varianzen, aber bis sich die Wege trennen, sind doch sehr viele Dinge so gut gematcht, wie man sich das eigentlich nur vorstellen kann. Und trotzdem kommt es dazu, dass einer eine Multiple Sklerose entwickelt und der andere nicht. Das heißt, für uns ist dieses Zwillingssetting ein ideales Design, um wirklich herauszufiltern, was hätte denn möglicherweise triggern können, dass eben der eine krank wird und der andere gesund bleibt? Und das ist ein Grund gewesen, warum wir eben tatsächlich 2012 schon mit der Zwillingsstudie angefangen haben. Damals eigentlich nur eingegrenzt auf eine Fragestellung, weil wir das Mikrobiom untersuchen wollten. Und dadurch, dass dann das so gewachsen ist - also, wir haben bald die 100 geknackt. Das ist mein Ziel, mein erklärtes Ziel, 100 eineiige Zwillingspaare zu untersuchen. Eben noch mal zur Wiederholung: Die sind eineiig und einer hat Multiple Sklerose und der andere ist gesund. Mit dieser großen Kohorte haben wir dann doch einfach diese Forschungsprojekte in alle möglichen Bereiche ausgeweitet, weil man letztlich jede Fragestellung, die sich bei der Multiplen Sklerose stellt - wenn es jetzt um ursächliche Faktoren geht oder wie das Immunsystem bei der Erkrankung funktioniert - eigentlich an dieser Studie, an dieser Kohorte durchdeklinieren kann.
AMBOSS: Wunderbar. Können Sie uns vielleicht einfach mal Zahlen geben? Wenn ich mir eineiige Zwillinge angucke, bei denen MS auftritt, wie oft ist es diskonkordant, also dass einer MS hat und einer nicht? Und wie oft ist es, dass beide MS haben?
Gerdes: Also diese Daten hat man jetzt vor allem wieder aus skandinavischen Daten, weil die Skandinavier extrem gut sind, alles über Register, über Datenbanken… Patienten sind da einfach ganz anders dokumentiert - sowohl im Krankenhaus als auch, ob es überhaupt Zwillinge gibt. Solche demografischen, epidemiologischen Daten über das familiäre Risiko zeigen eigentlich ganz klar, dass eineiige Zwillinge eine Konkordanz für MS - also, dass beide eine MS aufweisen - in bis zu 17 bis 20 % der Fälle zeigen. Also das heißt, das genetische Risiko oder die frühen Umweltfaktoren, die scheinen schon eine große Rolle zu spielen, aber es sind halt eben nur 20 %. Das heißt, die anderen 80 %, da bleibt der gesunde Zwilling auch gesund. Das müssen andere Faktoren sein. Das heißt, der genetische Hintergrund oder die frühen Umweltfaktoren sind relevant, aber weit von deterministisch für die Erkrankung. Und das weiß man eben aus diesen epidemiologischen Daten und eben natürlich auch aus Überlegungen von genetischen Analysen, wo man ja Dinge gefunden hat, die für MS relevant sind.
Whole genome sequencing: Aufs falsche Pferd gesetzt?
AMBOSS: Ja, das ist wirklich sehr interessant. Und bevor wir jetzt zu Ihren Studienergebnissen kommen: Vielleicht können wir noch mal besprechen, was - Status quo - wir wissen über eben auslösende Umweltfaktoren oder auch genetische Faktoren. Was wissen wir bisher über die Ätiologie der MS? Was ist wirklich, sage ich mal, 100 % gesichert und was wird diskutiert? Ist vielleicht, aber sehr wahrscheinlich…
Gerdes: Gut, also angefangen jetzt mal von den genetischen Risikofaktoren. Also, da weiß man eigentlich schon seit den 70er-Jahren, dass vor allem HLA-assoziierte Gene, also da allen voran das HLA-DRB-1501 ein relevantes Risiko-Gen ist, was das MS Risiko zwei- bis dreifach erhöht. Und eigentlich ist auch ein Großteil des genetischen Risikos einfach auf dieses HLA-Gen zurückzuführen. Diese Erkenntnis hat ja auch sehr früh dann dazu geführt, dass man gesagt hat: Klar, HLA-Moleküle, die sind relevant im Immunsystem, in der Interaktion von T-Zellen - und hat dazu geführt, dass man sich ja einfach auch in der ganzen MS-Forschung auf die CD4+-T-Zellen gestürzt hat, einfach auch aufgrund dieser genetischen Hinweise. Und dann war es natürlich so; Anfang der 2000er–Jahre - wo man einfach sagt, Gen-Sequenzierung wurde einfach günstiger, schneller machbar, die Methoden waren innovativ - gab es so eine Goldgräberstimmung, dass man gesagt hat: Gut, jetzt werden 30.000 MS-Patienten mit einem “whole genome sequencing” analysiert und das wird mit gesunden Kontrollen verglichen. Und man hatte eigentlich die Hoffnung, dass man da sehr viele Dinge finden würde, die einem helfen, die Erkrankungen zu klären. Und um es kurz zu machen, würden die Genetiker sagen, man hat damals eigentlich dann, wenn man da sein ganzes Geld und seine Zeit investiert hat, aufs falsche Pferd gesetzt. Das ist jetzt ein bisschen provokant formuliert, aber die Genetiker sagen es selber so. Was kam raus? Es kam raus, es gibt über 200 sogenannte SNPs, also “single nucleotide polymorphisms”, die mit MS assoziiert sind. Diese SNPs, die liegen überwiegend in Promotorregionen, das heißt, die führen dazu, dass Genexpression unterschiedlich reguliert wird, und das sind schon auch häufig Promotorregionen, die in der Nähe von Genen liegen, die in der Immunregulation eine Relevanz spielen. Also das definitiv. Das Problem ist aber, dass diese SNPs auch bei 5 % der gesunden Bevölkerung auftreten. Das heißt, diese SNPs alleine genommen erklären jetzt nicht das genetische Risiko. Und dieses Konzept, was mal die Hoffnung war - ich meine auch, dass man sagt, ich gebe jetzt irgendwie einen Tropfen Blut und zahle 100 Dollar und dann kann ich mein MS-Risiko abschätzen; das wurde dann als polygenetischer Risiko-Score erhofft - das hat sich nicht bewahrheitet, dass man sagt, man kann anhand dieser 200 SNPs plus HLA berechnen, was das MS-Risiko ist. So hat sich das leider nicht bestätigt. Aber man muss trotzdem sagen, dass natürlich die genetische Forschung viel dazu beigetragen hat, zum Beispiel zu erklären, warum wirken bestimmte MS-Medikamente nicht? Man hatte zum Beispiel gedacht, TNF-Blockade würde ein sinnvoller Ansatz sein bei MS. Und jetzt weiß man aber, dass es eben gerade Mutationen in dem TNF-Gen gibt und, dass das eben kontraproduktiv ist. Oder man kann neue Therapiekonzepte vielleicht auf Basis von Gendefekten etablieren, wie jetzt zum Beispiel Tyrosinkinase-Inhibitoren. Das heißt also, man hat natürlich viel gelernt. Und auch wenn man weiß, es gibt jetzt eben nicht eine monogenetische Erkrankung oder es gibt nicht irgendwelche komplexen genetischen Veränderungen, die die MS bedingen, hat man eine sehr, sehr gute Grundlage geschaffen. Und im Moment geht man davon aus, dass Umweltfaktoren in Interaktion mit einem genetisch vulnerablen Individuum dann dazu führen, dass dieses genetische Risiko sich dann eben manifestiert. Und ein sehr, sehr gutes Beispiel ist eben dafür das Epstein-Barr-Virus. Also Epstein-Barr-Virus ist ja in unseren Breiten so, dass es ja meistens eher gegen Ende der Adoleszenz klinisch manifest wird. Das ist dann das typische Pfeiffer’sche Drüsenfieber oder eben für die Mediziner infektiöse Mononukleose, die ja durchaus ein relevantes Krankheitsbild sein kann. Also wirklich mit Fieber, Pharyngitis, Splenomegalie, Hepatomegalie, mit Fatigue, mit Blutbildveränderungen, auch teilweise wirklich extremer Fatigue, wie auch jetzt ähnlich bei Long-COVID. Also, einfach eine virale Erkrankung, die dazu führt, dass ja das Epstein-Barr-Virus dann latent in den B-Zellen persistiert. Das ist ja anders als zum Beispiel bei COVID. COVID wird eliminiert aus dem Körper. Epstein-Barr-Virus hat einen Tropismus für B-Zellen, das heißt, es persistiert in Gedächtnis-B-Zellen. Was prinzipiell bei Gesunden kein Problem ist, aber eben bei genetisch vulnerablen Gruppen sieht man eben, dass das Epstein-Barr-Virus dann doch das MS-Risiko - auch jetzt anhand einer neuen Studie - um das 32-Fache erhöht. Und gerade das Thema hat jetzt in den letzten Monaten wieder sehr, sehr viel Interesse erweckt, weil es eben zwei große neue Studien gab, die einfach noch mal erklären: Also, eine Epstein-Barr-Infektion geht immer einer MS voraus, niemals andersherum. Das Zeitintervall ist so um die sieben Jahre von Epstein-Barr-Virusinfektion zu einer MS-Manifestation und MS-Patienten sind zu 99,9 % positiv für Epstein-Barr-Virus. Also das heißt, sollte ich einen Patienten mit einer MS testen auf Epstein-Barr-Virus und der wäre negativ, da muss ich eigentlich fast die MS-Diagnose überprüfen, weil es sowas eigentlich nicht gibt. Und auch bei Kindern ist es zum Beispiel so, das sind auch interessante Daten, also jüngere Kinder - die Seroprävalenz für Epstein-Barr ist da ja noch nicht so hoch wie bei Erwachsenen - und bei Kindern mit jetzt MS-ähnlichen Erkrankungen oder einer Diagnose einer MS, wenn da das Epstein-Barr-Virus negativ ist, da muss ich an andere demyelinisierende Erkrankungen des ZNS denken, wie zum Beispiel MOG-AK, also MOG-Antikörper-assoziierte Autoimmunerkrankungen oder eine ADEM.
AMBOSS: Können Sie das nochmal erklären, was ADEM ist?
Gerdes: Also, ADEM heißt akute demyelinisierende Enzephalomyelitis. Und es ist eben häufiger auch im Kindesalter nach Infekten ein letztlich dann fulminantes klinisches Bild, also meistens schwer ausgeprägte neurologische Defizite und dementsprechend auch im Kernspin meistens sehr, sehr große konfluierende Marklagerläsionen, die aber sich erstaunlich gut zurückbilden, meistens. Also es ist eine monophasische Erkrankung, die sich dann auch klar - natürlich unter Cortison-Therapie etc. - dann gut zurückbildet und aber nicht sicher immer in eine Multiple Sklerose dann mündet. Diese Kinder haben dann doch eine gute Chance, dass es sozusagen eine einmalige Geschichte bleibt und das nicht der Anfang einer Multiplen Sklerose war. Genau. Und das sind eben auch so Erkrankungen, die typischerweise sehr nah mit Infekten oder mit Impfungen assoziiert sein können. Und das ist ja bei der Multiplen Sklerose nicht so stark ausgeprägt.
Die Schlagkraft des Darms
AMBOSS: Also sehr interessant, was Sie alles erzählen. Also ich nehme da viele Sachen mit. Einmal zum Beispiel, dass die Forschung lange Zeit in eine falsche Richtung getrieben wurde. Das finde ich aber trotzdem ein gutes Beispiel dafür, dass auch solch eine Forschung einen Nutzen hat, dass wir ja oft immer Paper unterdrücken, die jetzt nichts rausgebracht haben. Aber genau das ist ja auch wichtig zu wissen, wo wir nicht so viel rausholen können und wo dann doch vielleicht der Hund begraben liegt. Ja, und dann die Erkenntnis, dass EBV bei 99 % der MS-Patienten vorhanden ist, oder dass sie eine EBV-Infektion in der Vergangenheit durchgemacht haben, ist ja wirklich unglaublich und könnte ja wirklich dann auch ein Ansatzpunkt für eine Prävention sein, wenn man denn wüsste, über welchen Mechanismus diese Virusinfektion zu der MS führt bei Prädisponierten. Und vielleicht können wir da mal auch zu Ihren Studienergebnissen kommen, was Sie rausgefunden haben, denn Sie haben es auch erwähnt: Sie haben auch zusätzlich zum Mikrobiom geforscht und wollen auch diese Erkenntnisse zusammenbringen. Und vielleicht können Sie uns einfach mal erzählen, was aus den letzten zehn Jahren bei Ihnen schon rausgekommen ist.
Gerdes: Genau. Letztlich ist das Mikrobiom - also das steht jetzt in dem Fall für die Gesamtheit aller Darmbakterien, die sich im Gastrointestinaltrakt befinden. Das ist ja quasi eine große Symbiose mit dem Organismus, der sich seit Millionen von Jahren in der Evolution eigentlich entwickelt hat. Und man weiß ja jetzt einfach, dass man sagt, der Darm an sich ist einfach eine sehr, sehr große Fläche, um in Interaktion mit Umwelt zu treten. Also das ist größer als die Lunge, das ist größer als die Haut. Da ist auch viel, da geht natürlich jeden Tag sehr, sehr viel durch. Das heißt, da ist sehr viel Musik drin. Wenn man das Konzept hat: Ich habe Umweltfaktoren, die irgendwie in Interaktion mit dem Immunsystem treten. Und da gab es ja einfach sehr, sehr viele Erkenntnisse, dass auch das ganze Darmsystem durchsetzt ist mit Immunsystem, also in den Darmwänden, in den Lymphwegen etc., dass da einfach sehr, sehr viel Austausch ist und sich das nicht nur auf den Darm beschränkt, sondern dieser Austausch auch wirklich diese “gut-brain-axis” tatsächlich ermöglicht. Und es gab einfach eben interessante Beobachtungen hier vom Max-Planck-Institut, von der Arbeitsgruppe von Herrn Wekerle in einem besonderen Tiermodell. Man muss ja sagen, viel MS-Forschung kommt ja einfach aus dem Tiermodell, weil da hat man natürlich genetisch identische Mäuse und kann Fragestellungen sauber beantworten im Vergleich zu humanen Modellen. Wobei die Tiermodelle natürlich auch aufgrund anderer Faktoren nicht ideal das Bild darstellen können. Aber in diesem einen Tiermodell hat man eben klar gesehen, dass Darmbakterien notwendig sind, um in der Maus eine, wir nennen es EAE, also eine experimentelle Autoimmun-Enzephalitis in einem Mausmodell, dass Darmbakterien notwendig sind, um das zu triggern. Also ganz kurz zusammengefasst: Sie haben im Prinzip genetisch veränderte Mäuse genommen, die immer spontan eine Maus-MS, sage ich jetzt einfach mal, oder eine EAE entwickeln. Mit 80 % werden diese Mäuse krank, die entwickeln diese EAE. Wenn man aber jetzt diese Mäuse in absolut keimfreien Bedingungen aufwachsen lässt, man nennt es dann “germ free conditions” und diese Mäuse sind auch absolut keimfrei, angefangen von: Die werden per Kaiserschnitt wirklich auf die Welt gebracht. Diesen ersten Kontakt mit Bakterien haben wir ja eigentlich erst bei der Geburt. Also im Uterus sind wir steril und dann beim Durchtritt durch den Geburtskanal kriegen wir erst mal so einen Überzug auf die Haut. Und dann im Prinzip beim ersten Schrei wird dann Lunge und Darm geflutet mit Bakterien. Das geht dann weiter durch Hautkontakt mit der Mutter, durch Stillen, durch die Milch etc., sodass sich diese ganzen Bakterien, der ganze Bakterienorganismus auf dem humanen Organismus dann erst mal ausbreitet. Und eben um das Extreme jetzt herauszukitzeln, wurden eben diese Mäuse komplett keimfrei auf die Welt gebracht, komplett keimfrei gehalten. Und dann haben die eben keine Maus-MS entwickelt, sodass man einfach sagen muss, diese Bakterien, die sind irgendwo eine Schnittstelle. Da muss irgendwas passieren, dass dann diese autoimmun-entzündliche Erkrankung im Nervensystem anfangen kann. Und in dem Maus-Modell war dann eben der nächste Schritt, dann wieder die Mäuse zu kolonisieren mit Darmbakterien. Und dann hat man gesehen, ja gut, wenn die dann Darmbakterien haben, dann entwickeln die auch die MS. Und dieses Konzept war dann eben damals der Anlass zu sagen, okay, wie können wir jetzt diese Erkenntnisse in einer humanen Kohorte untersuchen? Findet man Unterschiede in Assoziation mit MS oder nicht? Und das war eigentlich der Kick-off für die Zwillingsstudie, weil wir einfach gesagt haben, wir brauchen genetisch identische Individuen, die auch zum Beispiel bezüglich Ernährung in der Kindheit etc. möglichst gleich waren, weil auch das weiß man: Also auch das Mikrobiom wird sehr, sehr stark durch den genetischen Hintergrund bestimmt und es wird sehr, sehr stark durch den Haushalt, in dem man aufwächst, bestimmt; durch die Ernährung, aber auch durch den Kontakt mit den Mitmenschen - sodass das im Prinzip dann das Konzept war, eineiige Zwillinge zu untersuchen. Und wir haben dann da auch die Stuhlprobe letztlich von den Zwillingen untersucht und konnten da auch schon erste Hinweise finden auf MS-assoziierte Bakterien. Und in einem nächsten Schritt gab es dann sozusagen ein Transfer-Experiment, wo man tatsächlich dann humane Stuhlproben von dem gesunden MS-Zwilling und dem kranken MS-Zwilling in diese keimfreien Mäuse transplantiert hat. Und konnte dann eben tatsächlich sehen, dass in den Bakterien, die sich eben in den Stuhlproben von dem MS-Zwilling verstecken, triggernde Bakterien sind, die man im Maus-Modell dann weiter untersuchen kann. Und das ist eben ein Konzept, was wir im Moment weiterentwickeln. Und es machen natürlich nicht nur wir, also im Prinzip diese ganze Mikrobiom-Forschung, die ist sehr, sehr explosiv, ja kann ich sagen. Also wenn man sich die Publikationen dazu anguckt, das ist wirklich ein exponentielles Wachstum und wir wissen nach einer Viruspandemie jetzt alle, was das bedeutet. Ja, und das hat zum Beispiel auch dazu geführt, dass es schon konkrete Ideen gibt: Wie kann man jetzt das Mikrobiom beeinflussen? Und da gibt es eben das Schlagwort “short chain fatty acids”, also kurzkettige Fettsäuren, zum Beispiel Propionsäure. Und Propionsäure, vielleicht ganz kurz erwähnt: Propionsäure ist letztlich ein Metabolit, der bei Stoffwechselvorgängen von den Bakterien im Darm entsteht. Und die Hypothese ist, platt formuliert: Unser Darm-Mikrobiom ist sowohl bezüglich auf die Vielfalt als auch bezüglich auf die Quantität verarmt im Vergleich zu dem, wo Menschen sich eigentlich in den Millionen Jahren Evolution eigentlich symbiotisch arrangiert haben - dass wir diese Bakterien brauchen, um letztlich aus der letzten Rübe noch die besten Vitamine und die besten Substrate herauszuziehen. Sondern durch eine doch sehr, sehr veränderte Ernährungsweise mit viel Fett, viel Salz, viel prozessierter Nahrung, wenig Ballaststoffen gibt es einfach eine Veränderung im Mikrobiom, manche nennen das Dysbiose. Ich würde das jetzt nicht Dysbiose nennen, weil Dysbiose ist schon irgendwie krankhaft im Sinne von: Man hätte dann Darmbeschwerden. MS-Patienten haben ja jetzt nicht - außer später im Krankheitsverlauf, dann neurogen bedingt… Aber am Anfang der Erkrankung haben die ja nicht irgendwelche Verdauungsbeschwerden, aber einfach Veränderungen in dem Mikrobiom, in der Schlagkraft von dieser Truppe im Darm, die einfach dazu führt, dass auch diese kurzkettigen Fettsäuren reduziert sind. Und die sind eigentlich recht gut untersucht, dass man einfach weiß, die wirken auf die Interaktion von Bakterien und Immunsystem im Darm. Und die wirken antiinflammatorisch, die haben relativ viele Effekte und es konnte wirklich auch zeigen, die können selbst einen Einfluss auf Mikroglia im ZNS ausüben, wo man dann wieder zu dieser “gut brain axis” kommt. Und das ist eben ein Konzept, warum man sich jetzt doch vorstellen kann, dass da was dran ist. Und hat aber eben dazu geführt, dass zum Beispiel Patienten Propionsäure nehmen, was im Prinzip nur sinnvoll ist, wenn man jetzt, was ich hoffentlich ein bisschen erklären konnte, dass eben diese kurzzeitigen Fettsäuren die Endstrecke sind von einer großen Veränderung im Organismus, eben großen Veränderungen im Darm-Mikrobiom und man dann im Prinzip nur an der Endstrecke etwas ändert, dass man die Metabolite von den Bakterien ersetzt. Ich bin mir eben noch nicht sicher, ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, sondern eigentlich wäre es ja wünschenswert, wenn wir unsere Darmflora wieder so aufpäppeln könnten, dass einfach diese Interaktion oder dann auch diese Autoaggression, die entsteht, vom Immunsystem präventiv unterdrückt werden könnte.
Epigenetik und Prädisposition – wer erkrankt an MS?
AMBOSS: Ja, wer sich hier noch weiter vertiefend beschäftigen möchte, noch mal ein Hinweis in eigener Sache: 2020 haben wir ein Interview zu Ernährung als Medizin geführt und in Teil 2 sprechen wir auch über die “short chain fatty acids” und die Bedeutung des Mikrobioms. Man weiß ja mittlerweile auch, dass das Mikrobiom auf die Epigenetik einen Einfluss hat. Und da frage ich mich zum Beispiel auch, ob das ja auch einer der Mechanismen sein könnte, über die eben der Darm und das gesamte Mikrobiom auch eine MS begünstigen oder auslösen könnten, wenn da eine Prädisposition besteht. Ich nehme stark an, dass bei eineiigen Zwillingen die Epigenetik nicht zwingend haargenau gleich ist und gematcht ist, oder?
Gerdes: Also, wir haben auch epigenetische Untersuchungen bei den Zwillingen gemacht. Es gibt auch quasi Untersuchungen zu epigenetischen Veränderungen bei den eineiigen Zwillingen mit Diskordanz zu MS. Und auch da muss man auch wieder sagen: Auch epigenetische Veränderungen hängen stark vom Genotyp ab. Also und leider, wie bei vielen Dingen, die wir untersucht haben, wo man relativ forsch eine Black-and-White-Hypothese aufstellt und sagt: “Ja, es muss krankheitsassoziierte Unterschiede geben” – ob man jetzt das Immunsystem untersucht oder ob man jetzt Epigenetik untersucht – sieht man auch hier wieder: Die Zwillinge sind sehr, sehr ähnlich, weil man ja auch weiß, dass Epigenetik ja auch durch Umweltfaktoren modifiziert wird. Und da ist eben auch sichtbar, dass das bei den Zwillingen sehr ähnlich ist. Wir haben durch unsere epigenetischen Analysen zwar schon einige Kandidaten-Gene identifiziert, die möglicherweise relevant sind. Man geht aber im Moment eher davon aus, dass man epigenetische Veränderungen in einzelnen Immunzellen untersuchen muss. Weil wenn man sozusagen jetzt breit über alle Immunzellen schaut, gehen wahrscheinlich die relevanten Unterschiede verloren. Man kommt ja einfach immer mehr dahin, dass man nicht mehr sagt: “Okay, es gibt diese eine Zelle und die hat Veränderung X oder Y in ihrem Transkriptom oder in ihrer Epigenetik”, sondern man hat ja immer mehr verstanden, dass das Immunsystem – einfach, weil das so immens wichtig ist – eine sehr, sehr große Redundanz hat. Und viele Zellen können viele verschiedene Phänotypen einnehmen, können mit vielen anderen Zellen interagieren. Und dieses ganze Milieu ist sehr, sehr dynamisch. Deswegen kommt man eben immer mehr dahin, dass man sagt, man muss sehr komplexe Datensätze integrieren, wie Zellen – in einem quasi Querschnittszustand – dann mit anderen Zellen interagieren, sodass man das gar nicht immer so leicht runterbrechen kann. Was wir aber gesehen haben – was ich auch sehr, sehr interessant fand, weil man da in der Medizin auch immer wieder merkt: Viele Dinge, die wir täglich in unserem klinischen Alltag so machen, sind eigentlich gar nicht so gut erforscht. Zum Beispiel haben wir sehr, sehr starke Effekte von Cortison auf die Epigenetik gesehen und dass das auch bis zu einem Jahr anhält. Also das heißt, Cortison hinterlässt bis zu einem Jahr Fußspuren im Methylom. Und auch zum Beispiel Interferone – also Interferon-β ist ja ein viel eingesetztes Medikament bei der Multiplen Sklerose – auch diese Therapien hinterlassen Veränderungen, epigenetische Veränderungen, die anhalten und die vielleicht auch die Therapieeffekte mit erklären.
AMBOSS: Sie begleiten die Zwillinge ja über eine lange Zeit – also manche von denen, je nachdem wie früh sie rekrutiert wurden. Ist es auch so – das ist jetzt vielleicht eine naive Vorstellung – aber dass wenn sie sie rekrutieren, sind sie noch diskordant; das heißt, ein Zwilling hat MS nicht, der andere hat MS… Könnte es auch passieren, dass im Laufe der Zeit man bei dem nicht betroffenen Zwilling eventuell auch Frühsymptome oder – Sie untersuchen sie ja auch sehr genau im MRT – etwas beobachtet, was quasi so ein bisschen wie so ein Prodromalstadium einer MS aussehen könnte und dementsprechend der Zwilling auch doch irgendwann ein MS-Betroffener werden könnte? Ist das schon passiert? Was beobachten Sie?
Gerdes: Ja, das ist eine sehr, sehr gute Frage, weil ich am Anfang gesagt hatte, das ist eine Hochrisikokohorte. Das heißt, der gesunde Zwilling hat Pi mal Daumen ein Risiko von 20 %, dass auch er irgendwann an Multipler Sklerose erkrankt. Und wir untersuchen die Zwillinge hier sehr, sehr genau. Das heißt, sie bekommen bei jedem Besuch ein sehr, sehr gutes Kernspin des kompletten Gehirns und kompletten spinalen Rückenmarks. Weil ich ja auch, wenn ich Unterschiede suche, ich mir ja auch sicher sein muss, dass der Unterschied da ist, dass der eine wirklich gesund ist und der andere wirklich krank ist. Das heißt, ich muss zum einen die Diagnose überprüfen und ich muss beim anderen schauen, dass nicht Frühzeichen einer MS bereits vorliegen. Und das ist leider tatsächlich der Fall. Das ist natürlich so zu erwarten, ist aber… Ich würde sagen auch bei 25 bis 30 % im Rahmen meiner Studie sieht man ganz, ganz subtile Zeichen von einer frühen MS. Und wir versuchen, das dann auch weiter im Liquor zu untersuchen: Finden wir auch im Liquor entzündliche Veränderungen? Und auch da konnten wir jetzt anhand von Einzelzell-Transkriptom-Analysen im Liquor von den quasi im frühestmöglichen Stadium herausgefischten MS-Patienten Veränderungen finden – hier wieder jetzt T-Zellen, weil wir da aber auch nur T-Zellen untersucht haben – die uns Hinweise geben, wie diese frühe MS zu verstehen ist. Und natürlich gibt es auch jetzt schon im Rahmen der Zwillingsstudie mehrere Paare, wo im Laufe der Jahre einer, der vorher gesund war, jetzt auch eine MS entwickelt hat. Und da ist es natürlich für uns auch relevant zu sehen: Hat er genau den gleichen Phänotyp? Hat er die gleichen… Sehen die Läsionen ähnlich aus? Ist der Krankheitsverlauf von der Dynamik her ähnlich? Und das ist natürlich schon der Fokus, aber natürlich auch immer ein bisschen mit der Hoffnung, dass wir die natürlich früh herausfischen und denen dann auch früh eine Therapie anbieten können. Jetzt hatten Sie noch dieses Konzept von dem MS-Prodrom vorgestellt. Also man hat… Das ist immer noch so ein bisschen in der Diskussion, ob man einfach sagt, es gibt eine prodromale MS – also vor der ersten klinischen Manifestation zeigt der Patient schon Symptome, die vielleicht unspezifisch sein können, die Müdigkeit sein können, Konzentrationsstörungen, vielleicht auch eine Depression. Ja, das wird überprüft. Es ist natürlich immer schwer, weil das sehr, sehr viele Menschen haben. Und wenn man einfach das… Da haben mal die Kollegen von der TU eine große Studie gemacht, haben wirklich einen großen Datensatz von Krankenkassendaten untersucht, um beim Vergleich mit anderen Autoimmunerkrankungen einfach zu schauen, wie viele Arztbesuche haben die, bevor diese Diagnose gestellt wurde. Und da hat man eigentlich gesehen: Auch bei anderen Erkrankungen ist es ähnlich häufig, dass man halt wegen anderer Symptome vorher schon mal zum Arzt gegangen ist. Und die Idee war eher, jetzt dann zu sagen: Wahrscheinlich waren die da schon krank. Und weil man ja bei der MS immer unterscheiden muss – so schreiben wir das auch in unsere Arztbriefe – wann war wirklich die erste Diagnose und wann war die Erstmanifestation? Ich meine, man versucht da immer retrospektiv dann die Anamnese zu erheben. Und wenn ich jetzt doch meines Erachtens relativ sicher sein kann, was der Patient mir jetzt hier erzählt – was vielleicht vor zwei, drei, fünf Jahren passiert ist: “Ich habe mal vier Wochen auf dem einen Auge verschwommen gesehen.” oder “Ich hatte mal drei Wochen Kribbeln im Bein und der Orthopäde hat nichts gefunden.” Wenn ich das doch retrospektiv als Schub einordnen kann, dann war die Erstmanifestation wahrscheinlich einfach schon früher. Klar, wir sind sehr, sehr gut versorgt in unserem Gesundheitssystem und auch Kernspintomografien werden frühzeitig eingesetzt. Ich denke, das ist ein Phänomen, was früher noch viel ausgeprägter war, als einfach der Zugang zu Diagnostik nicht so prompt war wie jetzt. Aber auch jetzt finden wir auch immer wieder Patienten, wo man sagt: “Na ja, wahrscheinlich ging das jetzt eigentlich schon länger und es wurde einfach nicht so rechtzeitig erkannt.”
AMBOSS: Ja, Sie haben mir die perfekte Überleitung zu meinem nächsten Punkt gebracht. Hier wollte ich den Bogen schlagen zum Krankheitsbild. Weil Sie es gesagt haben, in der Realität sind die Betroffenen ja nicht so unter guter Beobachtung wie in Ihrer Studie. Kein Mensch guckt mit einem MRT auf sie rauf und hat im Hinterkopf das Wissen, dass ja der Zwilling eine MS hat. Das heißt, so früh wie in Ihrer Studie werden die Symptome eben nicht einer MS zugeordnet. Welche Symptome zeigen sich denn zu Beginn der Krankheit erstmalig? Und ja, Sie haben es ja gerade gesagt, da ist eine Latenz zwischen Erstmanifestation und Erstdiagnose. Kann man sagen, dass im Schnitt so und so viele Schübe vielleicht schon passiert sind, bevor es dann zur ersten Diagnose kommt?
Gerdes: Also, da muss man tatsächlich sagen, wenn man jetzt sieht: Es ist ein junger Patient oder eine junge Patientin, ja oft in dem typischen Alter – also das typische Manifestationsalter, sagen wir, ist ja zwischen 20 und 40. Klar, es gibt auch Kinder, es gibt auch alte Menschen, die sich erstmals mit MS präsentieren. Aber ein junger Mensch in dem typischen Alter wird zum Glück heute doch relativ rasch erkannt. Also wenn man sagt, er hat neurologische Symptome, die einfach anhalten für mehrere Wochen – das können wie gesagt Taubheitsgefühle sein, das kann auch mal ein Schwächegefühl sein, es können Sehstörungen sein. Und es hängt eigentlich fast immer ein bisschen vom Patienten ab, wie sehr der das ernst nimmt und der sagt: "Na ja, gut, dann habe ich jetzt doch gedacht, das kommt mir jetzt komisch vor und geh zum Arzt." Dann geht es doch meistens seinen Weg. Es gibt aber auch einfach viele Patienten, die das halt verdrängen oder nicht ernst nehmen oder sagen: "Ach, da war ich dann im Urlaub. Und dann habe ich gedacht, ich habe einen Nerv eingeklemmt. Und als ich aus dem Urlaub zurückkam, war es auch schon wieder weg. Und deswegen bin ich dann auch nicht zum Arzt gegangen." Das sind so die typischen Geschichten. Und im Prinzip, je nachdem, wie aktiv die Erkrankung ist, wann dann der nächste Schub kommt, wird dann eigentlich auch die Diagnose frühzeitig gestellt. Und das ist eben auch wichtig, weil wir eigentlich die Therapien auch frühzeitig einsetzen wollen.
Paradigmenwechsel in der Therapie
AMBOSS: Ja, da sehen Sie also gar nicht so eine große Diskrepanz oder Latenz in der Diagnostik. Ich hätte jetzt gedacht, weil die MS ja auch eine Ausschlussdiagnose ist… Und wenn ich an Ausschlussdiagnosen denke, dann sehe ich erst mal den Weg der Abklärung anderer Differenzialdiagnosen vor mir, bevor man dann vielleicht die MS abklärt. Aber da bin ich beruhigt, wenn Sie sagen, dass da doch relativ schnell mittlerweile eben die Diagnostik eingeleitet wird, die dann nötig ist. Apropos Diagnostik und Krankheitsbild: Wer hier ausführlicher noch mal nachlesen will, der sollte in unser umfangreiches AMBOSS-Kapitel zur Multiplen Sklerose reinschauen. Hier findet ihr in vollem Umfang, was wir heute nicht besprechen konnten. Welche Symptome alle bei einer MS auftreten können und wie die Diagnostik ganz genau aussehen sollte: Angefangen von der Anamnese, körperlichen Untersuchung, über Blut- und Urin- sowie Liquordiagnostik bis hin eben zum MRT – welche Sequenz hier angefertigt werden sollte, welche Morphologie der Befunde auf eine MS hinweisen, die McDonald-Kriterien, vieles mehr. Schaut einfach mal rein. Ja, was können wir denn therapeutisch heutzutage erreichen? Wo gab es da in den letzten Jahren die meisten Fortschritte? Stichwort: Ist das die Schubreduktion, die Schubschwere, die Progression? Was konnten wir erreichen?
Gerdes: Also man muss sagen, wir haben jetzt 14 zugelassene MS-Medikamente. Die sind halt überwiegend für die schubförmig verlaufende MS und die sind alle sehr effektiv. Also man muss sagen, wir haben ein hohes Therapieziel zum Glück. Das Therapieziel ist Freiheit von Krankheitsaktivität. Das heißt, der Patient ist schubfrei und der Patient hat auch im Kernspin keine Hinweise für eine Krankheitsaktivität – präsentiert durch Zunahme von T2-Läsionen, größer werdende Läsionen, neue Läsionen, Kontrastmittel-aufnehmende Läsionen. Das heißt, wir wollen eigentlich in dem Moment, wo er die Diagnose erhält, den Status quo einfrieren. Also er soll dann durch Medikamente eigentlich sein Leben normal weiterleben können. Und unser Job… Ich sag das auch manchmal den Patienten: Also ich habe hier 2004 angefangen in der MS-Ambulanz. Was ich als Erstes gelernt habe, war, wir müssen Schübe zählen. Also wir zählen Schübe, wie waren die Schübe vor der Therapie? Wie viele pro Jahr oder wie viele in zwei Jahren? Und dann zählen wir: Okay, wie viele sind das jetzt unter der laufenden Immunmodulation? Und wenn wir da eine Reduktion der Schubschwere und der Schubhäufigkeit um 30 % hatten, haben wir damals gesagt: “Okay, die Therapie wirkt – weitermachen, wenn man sie gut verträgt.” Jetzt werden wir mehr und mehr zu so Managern der Nebenwirkungen und der Risiken, weil einfach zum Glück unter den Therapien Schübe seltener geworden sind und es fast eher so ist, dass es gerade unter manchen Therapien so ungewöhnlich wäre, dass ein Patient einen Schub hat, dass man eher an andere Erkrankungen denken muss. Also ein Beispiel ist Natalizumab eine sehr effiziente Therapie, also ein monoklonaler Antikörper, der eben verhindert, dass Immunzellen über Adhäsionsmoleküle quasi dann überhaupt in das ZNS gelangen. Das heißt, es führt dazu, dass das ZNS ein immunzellenfreier Raum wird und hat leider dann dazu geführt, dass ein Virus, das in der MS-Therapie oder in der MS-Landschaft bis dato überhaupt keine Rolle gespielt hat – nämlich das JC-Virus, John-Cummingham-Virus, welches eine PML verursacht, eine progressive multifokale Leukenzephalopathie, also eine schwere Viruserkrankung des Gehirns, die man eigentlich nur von einer AIDS-Manifestation vorher kannte – dass das ein sehr schweres Risiko unter dieser Therapie ist. Und nur das hat dazu geführt, dass dieses Medikament ein Kategorie drei, nennen wir das also ein Reservemedikament, ist, weil man einfach sagt: “Gut, MS ist nicht Krebs.” Wir müssen einfach die Gratwanderung gehen zwischen: Ja, wir behandeln genauso viel wie notwendig, aber auch nicht zu viel. Wir wollen jetzt auch nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, aber wir wollen schon suffizient die Krankheit unterdrücken. Wir müssen aber auch die Risiken im Kopf haben. Und das führt dazu, dass diese Therapielandschaft und die Entscheidungen schon sehr komplex sind. Und das ist auch das, was mir die niedergelassenen Kollegen aus den Praxen rückmelden. Die sind eigentlich immer froh, wenn wir als MS-Zentrum da bei der Entscheidung helfen. Weil, wie gesagt, 14 neue Medikamente, alle haben Vor- und Nachteile, alle haben andere Risikoprofile, Kontrolluntersuchungen etc., sodass die eigentlich sehr froh sind, wenn wir denen da helfen können. Die ganze Euphorie wird halt nur leider ein bisschen dadurch gebremst, dass man einfach jetzt dann doch gesehen hat, auch wenn wir Schübe im besten Fall auf null fahren, auch wenn wir Krankheitsaktivität im MRT auf null fahren – früher oder später treten die MS-Patienten in eine progressive Phase ein. Also es kann sein, von einer initialen “relapsing remitting MS” habe ich dann eine “secondary progressive MS”. Oder es gibt ja die Patienten, die primär eine progrediente MS haben, für die überhaupt nur eine Therapie zugelassen ist. Und im Moment ist das Verständnis von Progression eigentlich im Fokus von sehr, sehr vielen Forschergruppen, weil das einfach unzureichend verstanden ist. Und da hat schon auch gewissermaßen ein – das ist ein abgedroschener Begriff, aber in dem Fall sage ich ihn trotzdem – so ein bisschen ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Man hat ja vorher immer gedacht: Okay, die MS ist eine Erkrankung… In der Peripherie kommt es zu einer Aktivierung von autoreaktiven Immunzellen, die dann über eine löchrige Blut-Hirn-Schranke ins ZNS einwandern und dort die Inflammation eben vorantreiben. Und wenn ich jetzt die Immunzellen in der Peripherie in Ketten lege – mit eben sehr, sehr verschiedenen Mechanismen: Ob ich jetzt sage, ich mache eine B-Zell-Depletion oder ich blocke Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptoren, sodass die Immunzellen nicht mehr aus den Lymphknoten ins Blut reinkommen, oder ich blocke Adhäsionsmoleküle etc. – alles extrem elegant. Dann habe ich ja immer nur diesen Effekt, dass ich keinen Nachschub von Immunzellen aus der Peripherie ins ZNS rekrutiere. Und jetzt hat man eben doch einfach diese Vorstellung einer hinter der Blut-Hirn-Schranke dauerhaft stattfindenden, schwelenden Inflammation – aufrechterhalten durch vielleicht B-Zellen, durch Mikroglia – die einfach durch die aktuell verfügbaren Medikamente nicht attackiert werden können. Und das heißt, die Richtung geht jetzt eher dahin: Man muss “small molecules” entwickeln, die eben hinter der Blut-Hirn-Schranke wirken, um dort vielleicht gar nicht so extrem einzelne Immunzellen komplett vom Platz zu stellen, wie jetzt zum Beispiel eine B-Zell-Depletion, sondern eher – was ich vorhin auch schon mal gesagt hatte – eben diese Interaktion zwischen den Immunzellen und die Kommunikation zwischen den Immunzellen über Zytokine, über intrazelluläre Pathways etc. zu beeinflussen, um dort Effekte zu erzielen und vielleicht auch eben nicht diese schweren Risiken in Kauf nehmen zu müssen. Wenn ich eben sage, ich mache alle B-Zellen platt, dann habe ich halt einfach wirklich keine B-Zellen und bin auch geschwächt. Und tatsächlich hat zum Beispiel auch in den letzten zwei Jahren die COVID-Pandemie da auch noch mal ein bisschen einen neuen Twist reingebracht, weil man natürlich auch sieht, ja, es gibt da neue Herausforderungen mit neuen Virus-Erkrankungen. Es gibt Impfungen, auf die Patienten auch ansprechen müssen, aber Patienten, die halt stark immunsupprimiert sind, zeigen ja auch leider ein reduziertes Impfansprechen. Und das ist auch wieder ein Faktor neben den anderen Faktoren wie Familienplanung, Schwangerschaft, Lebenssituation, kann ich mich spritzen, brauche ich eine Tablette. Das sind eben immer sehr, sehr viele Faktoren, die dann doch in eine individualisierte Therapieentscheidung und Beratung miteinfließen. Und im Prinzip haben wir da natürlich schon das Ziel, eine individuenbasierte Präzisionsmedizin anbieten zu können.
AMBOSS: Um es noch mal für mich zu verstehen: Also wir haben gesagt, wir haben zwar durch die Therapeutika die Möglichkeit, die Schübe zu reduzieren – deutlich zu reduzieren –, aber irgendwann tritt eben die Progression ein. Ist es denn trotzdem so, dass ich durch die Therapeutika, die auf die Schübe abzielen, dass dadurch die Progression später einsetzt? Kann man das sagen oder können wir das gar nicht sagen, ob es ohne die Therapeutika zum selben Zeitpunkt gekommen wäre?
Gerdes: Also da gibt es schon Daten, da braucht man eben sehr, sehr große Kohorten, um solche Fragen zu untersuchen. Und das gibt es aber. Also zum Beispiel die Australier haben da eine große Kohorte, wo einfach sehr, sehr viele MS-Patienten eingeschlossen werden und man diesen natürlichen Verlauf beobachtet. Jetzt eben mal unabhängig von Pharma-gesponserten Phase-III-Studien, die ja auch zeitlich begrenzt sind und die auch immer nur eine bestimmte Klientel angucken, die jetzt irgendeine Medikation erhält; sondern man muss ja quasi breit einfach mal wirklich fragen: Wie geht es MS-Patienten in Deutschland? Das wird auch gemacht. Kann man die einfach mal prospektiv begleiten, unabhängig davon, welche Therapie sie jetzt bekommen? Und ich meine, da zeichnet sich schon ab – und das war das, was ich vorhin auch gesagt habe – man möchte relativ früh die Patienten behandeln, weil man einfach weiß: Es gibt ein gewisses therapeutisches Fenster, wo man das Immunsystem doch eben noch daran hindern kann, Schaden anzurichten, der natürlich irgendwann kumulativ, aber irgendwann auch entkoppelt von Schüben progredient ist. Und da gibt es schon Daten, dass natürlich eine frühe, effektive Therapie dazu führt, dass die Progression später eintritt und man natürlich auch nicht verachten darf, also nicht vergessen darf, dass Schübe sich auch inkomplett zurückbilden können. Also ich meine, dass natürlich Schübe nie dazu führen, dass das total spurlos an den Patienten vorbeigeht. Das ist der beste Fall, aber meistens gibt es… Und es ist auch so ein neues Konzept: Klar, es bleibt etwas von Schüben zurück, aber ich habe auch immer eine schubunabhängige Progression, eigentlich schon von Anfang an. Also von Anfang der Erkrankung an ist auch das sichtbar. Und das weiß man eben jetzt, zudem auch aus kernspintomografischen Daten. Früher hat man ja immer von der MS als Erkrankung der weißen Substanz gesprochen, man weiß aber eigentlich jetzt auch: Von Anfang an ist die graue Substanz und das ganze Netzwerk betroffen und man kann das nicht mehr so auf: “Hier sind einzelne Läsionen und die machen Schübe” [zurückführen], sondern man geht eigentlich doch von einer diffusen chronischen Entzündung des gesamten Gehirns aus. Und das ist das Ziel, das mit effizienten Therapien früh zu unterdrücken, weil man auch weiß: Die Progression wird dadurch vielleicht auch verzögert, also tritt später ein und wird verlangsamt. Aber es wird halt nicht komplett verhindert.
Therapiekonzepte: B-Zell-Depletion, Remyelinisierung, Neuroprotektion
AMBOSS: Ja, und Sie haben schon gesagt, dass es viele Forschungsgruppen gibt, die sich jetzt auf die Untersuchung dieser Progression – der Pathophysiologie dahinter – gestürzt haben. Sieht es denn so aus, als ob wir therapeutisch hier in der nächsten Zeit oder absehbar irgendwann einmal einen Durchbruch erreichen – mittels “small molecules” zum Beispiel?
Gerdes: Also, es gibt jetzt eine neue Substanz. Also die Neuroimmunologen lernen ja auch von den Hämatologen. Also das Rituximab und Ocrelizumab bewirken ja auch letztlich eine B-Zell-Depletion, die bei Lymphom-Therapien schon eingesetzt worden ist. Und ähnlich sind sogenannte Tyrosinkinase-Inhibitoren. Und das sind auch kleine Moleküle, die im Moment noch in Studien eingesetzt werden. Und die werden in Studien eingesetzt, sowohl für schubförmige MS als auch für sekundär progrediente MS als auch für primär progrediente MS. Das ist zum Beispiel sicherlich ein Ansatz. Und dann gibt es natürlich auch immer noch den ganz anderen Ansatz oder die ganz andere Idee von Remyelinisierung oder Neuroprotektion. Also das sind im Prinzip so die drei Standbeine, dass man einerseits sagt: Okay, man möchte die chronische Inflammation hinter der Blut-Hirn-Schranke beeinflussen, aber man möchte sozusagen die Resilienz – negativ formuliert die Vulnerabilität vom Gehirn – verbessern oder reduzieren, indem man neuroprotektiv arbeiten kann oder [mit] Remyelinisierung. Also nach einem Schub mit Demyelinisierung oder chronischer Demyelinisierung möchte man die Reparaturmechanismen im Nervensystem unterstützen. Ja, das sind so die Konzepte, weil man eben im Prinzip sagt: Für diese initial doch sehr autoaggressive Inflammation – da gibt es eben doch relativ viele gut wirksame Konzepte, die auch einfach von dem Mechanismus [her] sehr gut verstanden sind und einfach ganz elegant sind.
MS verstehen: Woher kommt der Sturm im Gehirn?
AMBOSS: Da sind wir gespannt. Da wir ja heute nicht alles in absoluter Umfänglichkeit besprechen können, möchte ich an der Stelle auch noch mal auf unser AMBOSS-Kapitel verweisen. Da findet ihr natürlich auch noch alle vollständigen Informationen zum Krankheitsbild, Symptomen, Diagnostik und auch zur aktuellen Lage, was die Therapeutika anbetrifft. Wir wollen am Ende noch mal den Bogen zurück zu Ihrer Studie ziehen. Da ist ja nun der Schwerpunkt auf einem präventiven Ansatz. Was erhoffen Sie sich denn? Welche Schlüsse können wir aus Ihrer Studie oder Ihren Studien, Ihren Ergebnissen irgendwann für die klinische Praxis ziehen, um eben die Behandlung der MS zu verbessern?
Gerdes: Also zum einen ist sicherlich eine Säule – durch das bessere Verständnis von der Interaktion von Mikrobiom und Immunsystem und dann vielleicht tatsächlich sinnvollen Ideen: Wie kann man Ernährung beeinflussen? Das ist sicherlich ein Ansatz, wobei man klar sagen muss, wenn man das in Studien prüfen möchte – wie wirkt Ernährung auf MS? Das weiß jeder, wie kompliziert Ernährung zu planen ist, dass das kaum möglich ist etc. Das heißt, man kann nur über Effekte auf Biomarker, also Effekte auf Veränderungen im Mikrobiom, dann postulieren, dass es dann auch vielleicht gut ist für einen Krankheitsverlauf der MS. Das ist sicherlich ein Schwerpunkt.
Ein anderer Schwerpunkt ist tatsächlich zu versuchen, bei den gesunden Zwillingen, die einfach eine Hochrisikogruppe sind und die möglicherweise in einem Prodromalstadium sind, da das Immunsystem so zu untersuchen – sei das jetzt im Blut oder im besten Fall auch im Nervenwasser – flankiert mit vielen anderen Methoden natürlich von Kernspin, anderen Biomarkern etc.… Aber das Immunsystem in so einem frühen Stadium schnappen zu können und sagen: “Okay: Hey, ihr seid die Zellen, die hier die Rädelsführer sind, die irgendwie aus dem Ruder laufen und die quasi diesen Sturm ins Gehirn mehr oder weniger anzetteln.” Das zu finden wäre sozusagen meine Vision: Was passiert ganz an den Anfängen? Um dann zum Beispiel zu überlegen: Kann ich jetzt spezielle Patienten, die Hochrisiko haben, wie jetzt zum Beispiel eineiige Zwillinge – das ist natürlich eine sehr kleine Kohorte… Aber kann ich von denen eben lernen, wie ich andere Patienten in einem sehr, sehr frühen Stadium vielleicht so behandeln kann, dass die nie den ersten Schub haben werden oder dass die überhaupt nie diese Diagnose bekommen?
Das wäre natürlich ideal, weil, was wir auch oft sehen – das wollte ich vorhin noch kurz sagen: Unser täglicher Job hier ist ja auch sehr häufig, Patienten zu beraten und zu untersuchen, die eben ein Kernspin bekommen haben aufgrund von Kopfschmerzen, Unfall, Depression etc., wo man dann auch inzidentell schon MS-verdächtige Läsionen findet. Das nennt man dann radiologisch isoliertes Syndrom und das erfüllt bestimmte Kriterien. Die haben eine bestimmte Anzahl von Läsionen an bestimmten Stellen, die definiert sind, plus ich kann da noch ein entzündliches Liquor-Syndrom nachweisen. Und dann ist es ja ehrlicherweise so klar wie Kloßbrühe: Ja, das ist sicherlich eine MS. Der hatte halt nur bislang Glück, dass er noch keinen Schub hatte, weil die Läsionen nicht an Stellen lagen, die jetzt direkt neurologisch topisch zu Symptomen geführt haben. Aber immunologisch und neuropathologisch weiß ich, das ist eigentlich eine MS und ich habe die früh erkannt. Und dann diesen Patienten jetzt eben – nicht nur off-label – auch sinnvolle Therapien anzubieten oder präventive Konzepte vorzuschlagen, das wäre eben schon sinnvoll. Weil ich meine, diese Kernspin-Diagnostik, die wird inflationär zunehmen die nächsten Jahre und wir werden sehr, sehr viele Patienten in einem Frühstadium der MS finden und die auch immer früher finden. Das heißt, es wird immer länger diese Patienten geben, über denen schwebt: “Na ja, also ich habe ziemlich sicher MS, aber man kann es noch nicht so nennen, weil ich noch keinen Schub hatte.” Aber das fühlt sich, glaub ich, überhaupt nicht gut an und vor allem, wenn man dann sagt: “Ja, tut mir leid, wir haben jetzt eigentlich nichts, was wir Ihnen anbieten können. Nehmen Sie vielleicht ein bisschen Vitamin D, rauchen bitte nicht und machen Sport.” Das ist leider etwas, was man auch jedem anderen Menschen wahrscheinlich empfehlen würde, wo der Impact leider nicht so hoch ist. Das heißt, es ist schon eine Aufgabe, die da auf uns zurollt. Gut.
Und ein anderes Konzept nur abschließend noch, weil wir jetzt über EBV gesprochen haben und weil das natürlich auch ein spannendes Thema ist. Wenn man jetzt sagt, gut, EBV scheint so eine Rolle zu spielen, das erhöht in vulnerablen Patienten das Risiko an MS zu erkranken um [das] 32[-Fache] und es gibt jetzt eine mRNA-Impfung gegen EBV. Und bis wir natürlich da Daten haben, ob das tatsächlich die MS-Prävalenz irgendwann senken wird, dauert es natürlich noch Jahrzehnte. Und natürlich, wir sind jetzt ja alle durch die letzten zwei Jahre gegangen und sind gezwungenermaßen alle so ein bisschen selbsterklärte Virologen und Impfexperten, weil wir ja auch die Patienten beraten müssen. Und haben da ja aber auch viel gelernt – dass Impfungen unterschiedliche Effekte haben können, von: Habe ich tatsächlich eine sterilisierende Vakzinierung, wie zum Beispiel bei HPV-Vakzinierungen, wo ich ja tatsächlich sage, ich kann diese Virusinfektion verhindern und ich kann damit einen Tumor verhindern. Das ist ja wirklich sensationell. Das ist ja eigentlich wirklich ein Paradebeispiel. Und die Frage ist zum Beispiel: Kann… Verhindere ich durch eine EBV-Vakzinierung die Infektion oder ist es so ähnlich wie bei COVID, dass ich sage: “Naja gut, der Verlauf ist halt vielleicht nicht so schlecht.” Aber kann es auch verhindern, dass der Tropismus der EBV-Viren für die B-Zellen und die latente Infektion reduziert wird? Ist meine Immunsurveillance verbessert, wenn ich vorher getriggert wurde gegen EBV, dass meine Immunzellen da die Kontrolle besser aufrechterhalten können? Zum Beispiel dann auch im Sinne, wo ich immer sage, ich fände alleine eine Vermeidung von Pfeiffer’schem Drüsenfieber sinnvoll, weil ich meine, ich kenne allein… Also ich kenne viele, wo ich sage, das Pfeiffer’sche Drüsenfieber hat die entweder im Abi schwer erwischt oder mal im Studium oder bei der Hochzeit oder irgendwas, wo man sagt, das ist auch ein ekliges Krankheitsbild. Und alleine wenn man das eliminieren könnte, hätte eine EBV-Impfung schon absolut seine Daseinsberechtigung. Und wenn dann – ein Nebeneffekt, den man ja erst eben dann nach Jahrzehnten sehen würde – die MS-Prävalenz runtergehen würde, das wär natürlich super.