Opioid-Substitution – Was muss ich wissen?

Deborah Scholz-Hehn - Freitag, 22.4.2022
Eine Hand in Gummihandschuhen träufelt Methadon in einen Medikamentenbecher. Opioid-Substitution im AMBOSS-Blog

Rund 166.000 Menschen in Deutschland sind opioidabhängig. Warum die Substitution unverzichtbar ist und was wir über die Therapie wissen sollten.

Der Rettungsdienst schiebt einen schwer verletzten Patienten in die Notaufnahme. Einige Stunden nach der Vorstellung lehnt der junge Mann plötzlich alle weiteren Maßnahmen ab und wünscht die sofortige Entlassung – er brauche jetzt unbedingt sein „Pola“. Was tun? 

Vorteile der Opioid-Substitutionstherapie

Lässt die Heroinwirkung nach, entwickeln opioidabhängige Menschen typischerweise quälende Ganzkörperschmerzen, Schüttelfrost, Reizbarkeit und Magenkrämpfe. Der Entzug selbst ist zwar selten vital bedrohlich, aber ohne adäquate Behandlung für die Betroffenen oft unerträglich.

Abstinenzorientierte Ansätze haben meist wenig Aussicht auf Erfolg. Zu selten gelingt es, langfristig komplett auf die Substanz zu verzichten. Grund ist vor allem das sogenannte Craving, ein starkes, nahezu unbezwingbares Verlangen nach der Droge. Eine Alternative bietet die Substitutionstherapie: Bei richtiger Durchführung kann sie das Substanzverlangen dauerhaft unterdrücken. 

Vielen Betroffenen ist es so erstmals wieder möglich, sich um ihre sozialen Belange zu kümmern, andere Therapien wahrzunehmen oder typische Begleiterkrankungen wie eine Hepatitis-C-Virus-Infektion behandeln zu lassen. Zudem werden durch die ärztlich begleitete Substitution die größten Gefahren des Heroinkonsums – Überdosierungen und die Infektion mit HIV oder Hepatitiden durch unsterile Nadeln – verhindert. Der Benefit ist also groß. Auch deshalb werden von der WHO „Ersatzdrogen“ wie Methadon als „unverzichtbare Arzneimittel“ geführt.

Allgemeine Diagnosekriterien, pathophysiologische Hintergründe und Therapiehinweise zu substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen sind im AMBOSS-Kapitel Abhängigkeit und Drogen zusammengefasst. 

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Welche Opioide kommen bei der Substitution zum Einsatz?

Methadon ist nur eines der ärztlich verschriebenen Opioide, die Heroin ersetzen können. Zum Einsatz kommen außerdem Levomethadon, retardiertes Morphin oder Buprenorphin. Sie sorgen nach oraler Einnahme für ein langsames Anfluten an den M-Opioidrezeptoren. Anders als bei Heroin fehlt dabei der berühmte „Kick“, der durch den schnellen Wirkeintritt nach intravenösem Konsum entsteht; die lange Wirkdauer von bis zu 72 Stunden sorgt bei täglicher Einnahme für eine gleichmäßige Abdeckung der Rezeptoren. Dadurch tritt bei der Substitution kein Craving auf.

Buprenorphin weist eine Besonderheit auf: Es bindet zwar stärker an die Rezeptoren als Heroin und andere Substitute, wirkt aber schwächer. So kann es bei vorheriger Substitution mit einer anderen opioidergen Substanz zu einem iatrogenen Entzugssyndrom kommen. 

Auch Diamorphin, ein synthetisches Heroin, stellt einen Sonderfall dar: Betroffene applizieren sich das Ersatz-Heroin unter medizinischer Aufsicht intravenös – mit sterilen Nadeln und in festgelegter Dosis. 

Im AMBOSS-Kapitel Opioide ist unter anderem eine Umrechnungstabelle der Äquivalenzdosierungen nicht-parenteral verabreichter Opioide aufgeführt.  

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Wer darf Opioide substituieren?

Die Ausgabe der oralen Substitute erfolgt in spezialisierten Praxen oder Apotheken. Insbesondere in der Eindosierungsphase und bei instabilen Patient:innen erfolgt die Einnahme direkt vor Ort „unter Sicht“. Bei stabileren Patient:innen ist die sogenannte Take-Home-Verordnung möglich, also das Mitgeben des Substituts für mehrere Tage bis hin zu vier Wochen. Was viele nicht wissen: Auch Niedergelassene jeglicher Fachrichtung ohne weitere suchtmedizinische Zusatzqualifikation dürfen in ihrer Praxis bis zu zehn Patient:innen substituieren. Entscheidet sich eine Praxis, die Opioid-Substitution anzubieten, bedeutet das für viele Betroffene Hoffnung auf ein neues Leben.  

Therapieempfehlungen zur Opiatentzugsbehandlung und zur Substitutionsbehandlung finden sich im AMBOSS-Kapitel Opioide (Intoxikation und Abhängigkeit).

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Vorgehen im Notfall – Substitution außerhalb der Praxis

Manchmal ist eine Opioid-Substitution auch außerhalb der zuständigen Praxis unumgänglich, wie in der eingangs geschilderten Notfallsituation. Wie hätte man sie lösen können? Idealerweise tragen Betroffene eine Substitutionsbescheinigung bei sich. Darauf sind Substitutionspräparat und die aktuelle Dosis vermerkt. Bei Unsicherheit kann ein Anruf in der zuständigen Praxis oder Apotheke Klarheit schaffen. Sollten weder Substitutionsausweis noch externe Angaben zur Verfügung stehen, empfiehlt sich eine fraktionierte Gabe niedriger Einzeldosen über mehrere Stunden. Dabei ist es wichtig, den Betroffenen zu erklären, warum dieses Vorgehen gewählt wird und dass eine ausreichende Substitution während des gesamten Krankenhausaufenthaltes das Ziel ist. Die Annahme, süchtige Patient:innen würden bei der Dosis übertreiben, bestätigt sich klinisch selten. Auch die Betroffenen haben kein Interesse an einer Überdosierung. Adhärenz-Probleme entstehen meist aus der Angst, nicht genügend Substitut zu erhalten und den Krankenhausaufenthalt entzügig überstehen zu müssen. Die richtige Substitutionsdosis zeigt sich dadurch, dass das Opioidverlangen unterdrückt wird, ohne dass Patient:innen merklich sediert sind. 

Mut zur Opioid-Substitution

Kenntnisse in Substitutionsmedizin sind unabhängig von der Fachrichtung in Klinik und Praxis relevant. Auch in Notfallsituationen sollten Menschen mit Opioidabhängigkeit suffizient versorgt werden können. Während die Zahl der Substituierten im letzten Jahrzehnt leicht gestiegen ist, sinkt die Anzahl der substituierenden Ärzt:innen stetig. Viele stehen zudem kurz vor dem Ruhestand, ohne dass sich Nachfolger:innen finden. Besonders im ländlichen Raum besteht dadurch ein Versorgungsmangel: So kann die Anfahrt zur nächsten Praxis Stunden dauern – oft zu weit und zu teuer für eine tägliche Behandlung. Neben der Politik sind daher auch wir Ärzt:innen gefordert, die Versorgungssituation zu sichern und künftig zu verbessern. Um mit der Opioid-Substitution zu beginnen, braucht es sicherlich etwas Mut. Doch der Einsatz lohnt sich: Suchtmedizin ist abwechslungsreich und insbesondere die Substitutionsbehandlung kann Leben retten.

 

logo-junge-suchtmedizinÜber die Autorin: Dr. med. Deborah Scholz-Hehn ist Suchtmedizinerin und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Neben ihrer klinischen Arbeit engagiert sie sich in der Initiative Junge Suchtmedizin, die sich für eine bessere Versorgung von Suchterkrankten einsetzt und jungen Menschen aus Heilberufen den Weg in die suchttherapeutische Arbeit erleichtert. Interessierte finden auf der Website der Initiative ein Verzeichnis vieler Substitutionspraxen, die für Hospitationen und Famulaturen zur Verfügung stehen. 

 

Opioid-Substitution praxisnah

Über Nutzen und Notwendigkeit der Opioid-Substitution spricht Gefängnisärztin Dr. Simone Dorn im AMBOSS-Podcast:

Kostenfrei hören auf:

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Auch die Alkoholabhängigkeit spielt in der Suchtmedizin eine wichtige Rolle: Jeder sechste Mensch in Deutschland trinkt gefährlich viel Alkohol. Im Blogartikel Riskanter Alkoholkonsum stellen wir aktuelle und künftige Therapieoptionen vor.

Die Weiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ der Ärztekammern kann helfen, Kenntnisse in den Bereichen Suchtprävention, Diagnostik und Substitution zu erwerben oder zu vertiefen. 

 

Quellen

Kraus L, Seitz N, Schulte B et al. “Schätzung der Anzahl von Personen mit einer Opioidabhängigkeit”, Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 137-43; DOI: 10.3238/arztebl.2019.0137

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bericht zum Substitutionsregister 2022.

  • https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bundesopiumstelle/SubstitReg/Subst_Bericht2022.html

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Änderungen in der Betäubungsmittelgesetzgebung,10/2017

  • https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Betaeubungsmittel/_artikel.html?nn=471308

Bundesärztekammer,10/2017, Richtlinie der Bundesärztekammer zur Substitutionsbehandlung

  • https://www.bundesaerztekammer.de/richtlinien/richtlinien/substitutionstherapie/