Sekundäre Störungen der Hirnfunktion – Woran litt van Gogh? (Teil 2)

Philipp Winghart - Freitag, 18.3.2022
Anzeichen der Psychose: Ein gemaltes, blaues Gehirn umgeben von verschiedenen Pillen

Wer Anzeichen organisch bedingter Psychosen erkennt, kann häufiger kausal therapieren. Red Flags und relevante Differenzialdiagnosen anhand eines historischen Falls.

Kreativität und Krankheit. Vincent van Gogh kannte beides: Auf Episoden geistiger Klarheit folgten kurze und heftige Krankheitsschübe mit akustischen und optischen Halluzinationen, Depressionen, epileptischen Anfällen und Desorientierung. Während zahlreiche Forschende primär psychiatrische Erkrankungen diskutieren, gehen andere von einer somatischen Ursache des Leidens aus. Auch heutzutage ist die Unterscheidung zwischen organisch bedingten und nicht-organischen Psychosen hochrelevant: Wer somatische Ursachen findet, kann häufiger kausal therapieren und dadurch einen dramatischen Benefit erzielen. 

Organische Differenzialdiagnostik: Ein notwendiger Schritt

Im ersten Teil dieser medizinhistorischen Spurensuche ging es um primäre Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) als mögliche Differenzialdiagnosen für van Goghs psychotische Störung. Aber auch internistische Krankheitsbilder oder Toxine können sekundär die Hirnfunktion stören. Finden sich in van Goghs Biografie Hinweise darauf? Wie würde die Diagnostik des historischen Patienten nach modernen Standards ablaufen?

Hinweise auf eine sekundäre Störung der Hirnfunktion

Optische Halluzinationen, subakute kognitive Defizite, Fieber oder unklare abdominelle Beschwerden sollten neben weiteren Anzeichen auch an Psychosen durch sekundäre Störungen des ZNS denken lassen. 

Angeborene Stoffwechselstörungen

Van Gogh litt immer wieder unter starken Magenschmerzen. Loftus et al. interpretierten diese Beschwerden gemeinsam mit der Psychose und den epileptischen Anfällen des Malers als mögliche Manifestation einer akut intermittierenden Porphyrie (AIP): Die Stoffwechselerkrankung führt über akkumulierte Zwischenprodukte der Hämsynthese zu einer Symptomtrias aus Tachykardie, Bauchschmerzen und neurologisch-psychiatrischen Symptomen. Hierunter können Angst, gedrückte Stimmung und Adynamie, aber auch Lähmungen, epileptische Anfälle und Psychosen fallen. Häufig manifestiert sich die AIP um das 30. Lebensjahr und verläuft latent, bis äußere Einflussfaktoren einen akuten Schub auslösen. Dazu gehören Stress, Alkohol, Hungern und Tabakkonsum. All diese Aspekte treffen auf van Gogh zu: In seinen exzessiven Schaffensphasen konsumierte er regelmäßig Alkohol und aß tagelang fast nichts, da er das Geld für Farben sparen wollte. An seinen Bruder Theo schrieb er, dass er vermehrt rauche, um „den leeren Bauch nicht spüren“ zu müssen. Auch das Nervengift Thujon, das in Absinth enthalten ist, kann zu AIP-Schüben führen.

Bei van Goghs Geschwistern und seinem Vater traten neben neurologisch-psychiatrischen Symptomen wie Wahnvorstellungen auch Lähmungserscheinungen auf. Loftus sieht in dieser auffälligen Familienanamnese Anzeichen für die autosomal-dominant vererbte AIP. Zwar ist kein pathognomonisch nachdunkelnder Urin dokumentiert, doch auch dafür hat Loftus eine Erklärung parat: Der erste Fallbericht einer AIP sei erst ein Jahr vor van Goghs Suizid erschienen und den behandelnden Ärzten vermutlich noch nicht bekannt gewesen. Außerdem verändert der Harn nur in etwa der Hälfte der Fälle seine Farbe.

Heutzutage müsste zur Abklärung einer AIP der Urin des Malers auf Porphyrinmetabolite untersucht werden. Aber auch weitere Stoffwechselstörungen können zu Psychosen führen, so zum Beispiel der Morbus Wilson oder die Homocystinurie.

Vergiftung

Auch eine Bleivergiftung kann mit Enzephalopathie und starken Bauchschmerzen einhergehen. Eine mögliche Giftquelle: die bleihaltigen Ölfarben des Künstlers. So sollen beispielsweise Frida Kahlo, Peter Paul Rubens und Caravaggio ebenfalls an einer chronischen Bleivergiftung gelitten haben. Van Gogh hat seine Farben wohl teilweise sogar gegessen. In zahlreichen Briefen finden sich Hinweise auf eine chronische Vergiftung mit dem Schwermetall. Seinem Bruder Theo schreibt er 1886: „Ich habe nicht weniger als zehn Zähne verloren“, und drei Jahre später: „Rey (der behandelnde Arzt, Anm. d. Redaktion) sagte mir, dass ich wirklich nur anämisch war.“ Tatsächlich geht die Bleivergiftung neben der klassischen Symptomtrias aus Darmkolik, Anämie und Nervus-radialis-Lähmung auch mit einem erhöhten Risiko für Zahnverluste einher. Auch van Goghs Verwirrtheit, Schlaflosigkeit oder beispielsweise Aggressivität gegenüber Gauguin (siehe Teil 1) ließen sich durch eine chronische Bleivergiftung erklären. 

Neben Bauchkoliken, blauschwarzem Zahnfleischsaum und Fallhand kann eine hypochrome Anämie den Verdacht auf eine Bleivergiftung als Ursache einer Psychose lenken. Im Blutausstrich sähe man basophil getüpfelte Erythrozyten. Eine Bleibestimmung im Blut sichert die Diagnose. 

Vitaminmangel

Die Fastenperioden und der Alkoholabusus des Malers könnten zu einem chronischen Vitaminmangel geführt haben. Fehlt es dem Körper etwa an Vitamin B12, können sich neuropsychiatrische Symptome wie Antriebslosigkeit, gedrückte Stimmung oder eine Psychose einstellen. Neben der bereits erwähnten Anämie finden sich in van Goghs Briefen auch Hinweise auf vegetative Folgeerscheinungen eines möglichen Vitamin-B12-Mangels wie Impotenz

Heutzutage wäre in van Goghs Blutbild bei Vitamin-B12-Mangel vermutlich eine megaloblastäre Anämie aufgefallen. Wichtig zu wissen: Neurologische und psychiatrische Symptome können schon auftreten, bevor sich die Anämie oder ein Abfall des Vitamin-B12-Spiegels im Labor nachweisen lassen. Bei Psychose und anamnestischen Hinweisen wie veganer Ernährung, Alkoholabusus, exokriner Pankreasinsuffizienz oder Schwangerschaft sollten daher die Frühmarker Holo-Transcobalamin und Methylmalonsäure bestimmt werden.

Auch ein Niacin-Mangel (Vitamin B3) kann zu psychiatrischen Auffälligkeiten wie Desorientierung und Aggression führen. Er wird beispielsweise durch Alkoholabusus, das Karzinoid-Syndrom oder das Antibiotikum Isoniazid ausgelöst und lässt sich über die Bestimmung von Niacin sowie seinen Abbauprodukten im Urin feststellen.

Weitere Differenzialdiagnosen: Pillen, Salze und Hormone

Elektrolytverschiebungen und ein gestörter Glucosestoffwechsel können ebenfalls psychotische Symptome auslösen, fallen heutzutage jedoch meist rasch im Routinelabor auf. Wichtig ist, bei entsprechenden Laborwerten und psychischen Auffälligkeiten auch an Cortisolstoffwechselstörungen wie das Cushing-Syndrom oder eine Nebennierenrindeninsuffizienz als mögliche Differenzialdiagnosen zu denken. Die Schilddrüsenparameter und -antikörper sind nicht weniger wichtig: Sowohl eine Hypo- als auch eine Hyperthyreose können psychotische Symptome auslösen. Eine Hashimoto-Enzephalopathie geht unter anderem mit Psychose, Desorientierung, Amnesien und epileptischen Anfällen einher. 

Außerdem kommen iatrogene Ursachen infrage: Digitalis-Intoxikationen können beispielsweise mit Übelkeit, Bauchschmerzen und einem visuell wahrgenommenen Gelb- beziehungsweise Grünstich einhergehen, wie man ihn von van Goghs berühmten Sonnenblumen kennt. Weitere Medikamente wie Antiparkinsonmittel, Triptane, Chinolone, Corticosteroide oder verschiedene Immunsuppressiva können ebenfalls Psychosen auslösen.

Woran litt van Gogh? Das Fazit

In Vincent van Goghs Biografie finden sich etliche Hinweise auf depressive und hypomanische bzw. manische Episoden. Er litt an akustischen Halluzinationen und in seiner Familie gab es zahlreiche psychiatrische Erkrankungen. Viele Publikationen diskutieren daher neben einer bipolar affektiven Störung auch eine Schizophrenie oder eine schizoaffektive Störung.

Das AMBOSS-Kapitel Schizophrenie bietet einen kompakten Überblick zu den somatischen Differenzialdiagnosen der psychotischen Störung. Darin findet sich auch eine Auflistung von Medikamenten, die eine psychotische Symptomatik induzieren können.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

 

Gegen solch eine primär psychiatrische Diagnose spricht, dass die psychotischen Episoden erst spät in van Goghs Leben auftraten und nur relativ kurz anhielten. Außerdem lagen einige Anzeichen für eine organisch bedingte Psychose vor, etwa fokalneurologische Symptome, epileptische Anfälle, Gedächtnisstörungen und optische Halluzinationen.

Von den somatischen Differenzialdiagnosen decken vor allem die Temporallappenepilepsie (siehe Teil 1) und die AIP van Goghs psychiatrisch-neurologische Symptome ab. Sein schädlicher Alkohol- und Absinthkonsum hätte beide Erkrankungen aggravieren und darüber hinaus zu einem Alkoholentzugsdelir führen können. 

Letztlich bleibt unklar, an welcher Erkrankung van Gogh litt. Nur eine chronische Bleivergiftung ließe sich anhand von Knochenuntersuchungen heutzutage noch sichern, der Rest bleibt wohl für immer Spekulation. Fest steht: Wer eine organische Ursache einer Psychose findet, kann sie im besten Fall kausal therapieren – und damit die Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen drastisch verbessern. Eine gründliche Spurensuche lohnt sich also. Nicht nur bei historischen Patient:innen.

Hinweise auf eine primäre Erkrankung des ZNS des berühmten Malers werden im Blogartikel Organische Ursachen der Psychose – Woran litt van Gogh (Teil 1)? behandelt. Dort findet sich auch eine Übersicht möglicher Alarmzeichen für eine organisch bedingten Psychose.

 

Quellen

  1. Blumer D. The illness of Vincent van Gogh. Am J Psychiatry. 2002;159(4):519-526. doi:10.1176/appi.ajp.159.4.519
  2. DGPPN e.V. (Hrsg.) für die Leitliniengruppe: S3-Leitlinie Schizophrenie. Langfassung, 2019, Version 1.0, zuletzt geändert am 15. März 2019, verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html