Elektrokonvulsionstherapie (EKT) – viel mehr als eine Ultima Ratio

Philipp Winghart - Sonntag, 11.12.2022
Bunte elektrische Kabel ragen aus einem Gehirnmodell. Elektrokonvulsionstherapie (EKT) im AMBOSS Blog.

Die Elektrokonvulsionstherapie ist sicher und wirksam. Um hartnäckigen Vorurteilen zu begegnen, braucht es vor allem Wissen – über die Psychiatrie hinaus.

Zwei Männer führen Jack Nicholson in eine Kammer mit vergittertem Fenster. Sie drücken ihn auf eine Pritsche, legen ihm Elektroden an die Schläfen und verabreichen ihm einen Stromstoß. Den darauffolgenden Krampfanfall stellt der Schauspieler so eindrücklich dar, dass der Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ bis heute das Bild der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) negativ prägt. Aber wie läuft die Behandlung heutzutage tatsächlich ab und was sollten wir darüber wissen? 

Auf einen Blick

  1. Warum bestehen so viele Vorurteile gegenüber der Elektrokonvulsionstherapie? 
  2. Wann ist eine Elektrokonvulsionstherapie angezeigt? 
  3. Wie läuft die Elektrokonvulsionstherapie ab?
  4. Wie wirkt die Elektrokonvulsionstherapie?
  5. Welche Nebenwirkungen können bei der Elektrokonvulsionstherapie auftreten?
  6. Kann eine Elektrokonvulsionstherapie auch bei Risikogruppen durchgeführt werden?
    1. EKT bei Kindern
    2. EKT bei Schwangeren
  7. Elektrokonvulsionstherapie: Ein Fazit

Warum bestehen so viele Vorurteile gegenüber der Elektrokonvulsionstherapie? 

Für gleich drei Erkrankungen empfehlen die jeweiligen S3-Leitlinien eine EKT: Schizophrenie, unipolare Depression und bipolare affektive Störung. Dennoch bietet nur knapp die Hälfte der psychiatrischen Kliniken hierzulande die Methode an 1. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich hinten, insbesondere hinter den skandinavischen Ländern oder den USA 2. Das liegt unter anderem daran, dass sich in der Allgemeinbevölkerung, aber auch bei medizinischem Personal Vorurteile gegenüber der EKT halten. Diese gehen sowohl auf die Antipsychiatriebewegung der 1970er-Jahre als auch auf irreführende mediale Darstellungen zurück 3. Viele Filme zeigen die EKT als eine unmenschliche Behandlung, die bei vollem Bewusstsein stattfindet, Schmerzen bereitet und zu anhaltender Amnesie führt. Verständlicherweise verunsichert das psychiatrisch Erkrankte. Der ärztlichen Aufklärung kommt daher eine besonders wichtige Rolle zu.

Wann ist eine Elektrokonvulsionstherapie angezeigt?

Liegen psychotische, manische, depressive oder katatone Symptome vor, kann eine EKT sinnvoll sein. Insbesondere wenn pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsversuche nicht ausreichend wirken oder Suizidalität oder Nahrungsverweigerung das Leben der Betroffenen bedrohen. Außerdem hilft ein Blick in die Krankengeschichte: Schlugen in der Vergangenheit Medikamente bei der betroffenen Person an oder nicht? Führten sie zu starken Nebenwirkungen? Hat eine EKT in der Vergangenheit bereits Linderung verschafft? Diese Fragen helfen, eine individuelle Empfehlung abgeben zu können. 

Wichtig zu wissen: Die EKT ist keine Ultima Ratio. Beim therapieresistenten depressiven Syndrom führt eine wiederholte und erfolglose Pharmako- bzw. Psychotherapie beispielsweise dazu, dass Krankheitsepisoden unnötig lange andauern – was wiederum die Erfolgsaussichten künftiger EKT-Serien verschlechtern kann 4. Betroffene sollten daher spätestens nach dem zweiten erfolglosen konventionellen Therapieversuch von der EKT als effektive Behandlungsmöglichkeit erfahren 5.

Wie läuft die Elektrokonvulsionstherapie ab?

Pritsche, Wachleute und vergitterte Fenster? Eine moderne EKT hat mit der eingangs geschilderten Filmszene nichts zu tun: Sie findet in ruhiger und möglichst entspannter Atmosphäre statt. Ein Anästhesieteam leitet eine Kurznarkose ein und verabreicht ein Muskelrelaxans. Über Elektroden an der Kopfhaut applizieren die behandelnden Psychiater:innen kurze Stromimpulse, die einen generalisierten Krampfanfall auslösen. Dieser dauert im Regelfall etwa eine Minute und äußert sich aufgrund der Relaxation meist nur im Bereich der Gesichtsmuskulatur, da der applizierte Strom diese direkt stimuliert. Die Behandelten wachen bereits wenig später wieder auf und können nach kurzer Nachbeobachtung zurück auf die Station. Einige Praxen und Kliniken bieten auch ambulante EKT-Sitzungen an.

   

Weitere Hinweise zu Durchführung, Platzierung der Stimulationselektroden und Behandlungsdauer einer EKT finden sich im AMBOSS-Kapitel Hirnstimulationsverfahren.

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Wie wirkt die Elektrokonvulsionstherapie?

Für den therapeutischen Effekt kommen drei Akteure infrage: der applizierte Strom, der dadurch ausgelöste generalisierte Krampfanfall sowie die Mechanismen, die das Gehirn ergreift, um den Krampfanfall wieder zu beenden 6. Da weder hohe Stromstärken noch eine besonders lange Anfallsdauer mit einem verbesserten Outcome einhergehen, untersuchen zahlreiche Forschungsgruppen den Einfluss der antikonvulsiven Mechanismen. So schüttet unser Gehirn im Verlauf einer EKT-Serie beispielsweise vermehrt inhibitorische Neurotransmitter wie GABA 7 aus, was unter anderem die antidepressive Wirkung der EKT erklären könnte 8

Auch auf die Neuroplastizität scheint sich die EKT positiv auszuwirken: Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2021 zeigte, dass im Verlauf einer EKT-Serie insbesondere die Amygdala und der Hippocampus an Volumen zunehmen 9 – neuroanatomische Strukturen, die bei depressiv Erkrankten oft verkleinert sind 10. Auch Entzündungsmediatoren 11 wie Cortisol, TNF-α und Interleukin 6, die bei der Entstehung von Depressionen eine wichtige Rolle spielen, fallen im Verlauf einer EKT-Serie ab. 

   

Immer auf dem neuesten Stand. Die neuesten Leitlinien-Empfehlungen und viele weitere wichtige Infos zur Depression finden sich im AMBOSS-Kapitel Unipolare Depression.

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Der genaue Wirkmechanismus der EKT bleibt zwar ungeklärt, anhand empirischer Daten lassen sich aber Rückschlüsse auf ihren therapeutischen Effekt ziehen: Bei über der Hälfte der depressiven Störungen führt sie zur Remission 12, insbesondere wenn zeitgleich psychotische Symptome vorliegen. Auch bei therapierefraktärer Schizophrenie zeigt sie gute Effekte: Selbst wenn die letzte medikamentöse Behandlungsoption Clozapin nicht mehr hilft, profitiert noch über die Hälfte der Betroffenen, wenn eine EKT das Medikament ergänzt 13.

Welche Nebenwirkungen können bei der Elektrokonvulsionstherapie auftreten?

Spannungskopfschmerz oder Übelkeit infolge der Anästhesie sind häufig, lassen sich aber meist gut und rasch symptomatisch therapieren. Kurzfristig treten außerdem milde bis moderate inselartige Erinnerungslücken auf, die vor allem den Zeitraum um die EKT herum betreffen und sich meistens innerhalb von Tagen bis Wochen zurückbilden. In ihrer Aufklärungshilfe zur EKT ist die DGPPN sehr klar: Ein Ausfall der gesamten Erinnerungsleistung kommt nie vor 14.

Schwere Nebenwirkungen wie hämodynamisch relevante Herzrhythmusstörungen, Apnoe oder hypertensive Entgleisungen sind selten. Sie lassen sich durch Monitoring und eine klinische Nachbeobachtungszeit gut erkennen und behandeln. 

Kann eine Elektrokonvulsionstherapie auch bei Risikogruppen durchgeführt werden?

Absolute Kontraindikationen zur EKT gibt es nicht. Bei schweren somatischen Begleiterkrankungen sollten die involvierten Disziplinen aber den möglichen Nutzen sorgfältig gegen die krankheitsspezifischen Risiken abwägen. Das gilt insbesondere bei erhöhtem intrazerebralen Druck, Schlaganfall oder frischem Myokardinfarkt. Todesfälle im Zusammenhang mit einer EKT sind bei einer Mortalitätsrate von etwa 1:50.000 aber äußerst selten 15.

EKT bei Kindern

Eine deutsche Studie 16, die Mitte des Jahres im Journal of ECT erschien, legt nahe, dass die EKT bei psychiatrisch erkrankten Kindern und Jugendlichen eine erfolgversprechende und sichere Behandlungsoption sein kann. Die Forschenden analysierten retrospektiv 32 Fälle, in denen Kinder oder Jugendliche eine EKT-Serie erhielten, nachdem vorherige pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsversuche frustran verlaufen waren. Fast die Hälfte sprach auf die Behandlung an und bei etwas mehr als einem Fünftel zeigte sich nach Abschluss der EKT-Serie eine deutliche Besserung oder sogar Symptomfreiheit. Zu schweren Nebenwirkungen kam es dabei nicht – die Mehrheit der behandelten Kinder und Jugendlichen gab überhaupt keine unerwünschten Effekte an. „Dennoch brauchen wir dringend große kontrollierte Studien, die EKT bei Kindern und Jugendlichen systematisch untersuchen“, so der Erstautor der Studie 17.

EKT bei Schwangeren

Schwere psychiatrische Erkrankungen stellen für eine Schwangere und ihr ungeborenes Kind ein ernst zu nehmendes Risiko dar. Das liegt zum einen an möglichen Folgen der psychiatrischen Grunderkrankung wie Suizid oder Autoaggression, zum anderen an einem erhöhten Risiko für gynäkologische Komplikationen wie peripartale Blutungen oder vorzeitige Plazentaablösung 18. Während ältere Reviews 19 eine EKT in der Schwangerschaft aufgrund möglicher schwerwiegender Komplikationen nur als Ultima Ratio  einordnen, stellt sie laut einer aktuellen Stellungnahme der DGPPN kein erhöhtes Risiko dar 20. In jedem Fall sollte eine sorgfältige, interdisziplinäre Nutzen-Risko-Abwägung erfolgen.

Elektrokonvulsionstherapie: Ein Fazit

Obwohl die Elektrokonvulsionstherapie sicher und wirksam ist, bestehen ihr gegenüber sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei medizinischem Personal weiterhin Vorurteile. Laut DGPPN sollten Betroffene generell und frühzeitig über die EKT informiert werden. Neben den behandelnden Psychiater:innen können auch zuweisende Ärzt:innen maßgeblich dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, kontinuierlich die Indikation zu prüfen und so langfristig die Versorgungslage zu verbessern.

Depression und Diabetes im AMBOSS-Podcast

Wer mehr über die Zusammenhänge zwischen Depression und Diabetes mellitus erfahren möchte, sei auf unsere Podcastfolge zum Thema “Diapression" verwiesen.  Warum treten die Erkrankungen so häufig gemeinsamen auf?

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Quellen

  1. Jolivet A, Grözinger M. Electroconvulsive Therapy in Germany: Development Over 8 Years With a Background of 4 Decades. J ECT. 2021;37(1):30-35. doi:10.1097/YCT.0000000000000699
  1. Wilhelmy S, Rolfes V, Grözinger M et al. Knowledge and attitudes on electroconvulsive therapy in Germany: A web based survey. Psychiatry Res. 2018;262:407-412. doi:10.1016/j.psychres.2017.09.015
  1. McDonald A, Walter G. Hollywood and ECT. Int Rev Psychiatry. 2009;21(3):200-206. doi:10.1080/09540260902747888
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  1. Grözinger MC, Conca A, DiPauli J, Ramseier F, Hrsg DGPPN e.V. , Elektrokonvulsionstherapie: Psychiatrische Fachgesellschaften aus vier Ländern empfehlen einen rechtzeitigen und adäquaten Einsatz. 2012
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  1. Luscher B, Shen Q, Sahir N. The GABAergic deficit hypothesis of major depressive disorder. Mol Psychiatry. 2011 Apr;16(4):383-406. doi: 10.1038/mp.2010.120. Epub 2010 Nov 16. PMID: 21079608; PMCID: PMC3412149
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  1. Grözinger M, Först C, Conca A et al. EKT in 24 Fragen, ein DGPPN-Ratgeber für Patienten und Angehörige, unter Mitarbeit des DGPPN-Referats „Klinisch angewandte Stimulationsverfahren in der Psychiatrie“, Sektion „Elektrokonvulsionstherapie“, S. 10
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  1. IDW Pressemitteilung: Elektrokonvulsionstherapie ist sicher und wirksam für Kinder und Jugendliche, 05.07.2022
  1. Zilles-Wegner D, Trost S, Walliser K et al. Elektrokonvulsionstherapie in der Schwangerschaft: Fallbericht und interdisziplinäre Behandlungsvorschläge. Nervenarzt. 2021 Jan;92(1):50-56. German. doi: 10.1007/s00115-020-00960-7
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  1. Stellungnahme der DGPPN, Indikationen zur Elektrokonvulsionstherapie, S. 6, 04.07.2022