Organische Ursachen der Psychose – Woran litt van Gogh? (Teil 1)
Genie und Wahnsinn. Vincent van Gogh durchlebte dramatische Höhen und Tiefen, bis er sich schließlich das Leben nahm. Litt der Maler an einer organisch bedingten Psychose?
Vor seinem Suizid soll Vincent van Gogh Stimmen gehört und wie ein Besessener gearbeitet haben. Seinen Künstlerkollegen Paul Gauguin hatte er mit einem Rasiermesser bedroht, sich selbst wenig später das linke Ohr abgeschnitten: Symptome, die an eine primär psychiatrische Diagnose denken lassen. Doch einige Hinweise sprechen für eine somatische Ursache.
Organisch bedingte von nicht-organischen psychotischen Störungen abzugrenzen, stellt bis heute eine diagnostische Herausforderung dar. Wird eine somatische Ursache übersehen, kann das für die Erkrankten schwerwiegende Konsequenzen haben. Wir holen den Fall des niederländischen Malers in die Gegenwart und klären ihn differenzialdiagnostisch ab: An welche Krankheiten müssen wir denken und welche Untersuchungen sind notwendig?
Organische Differenzialdiagnostik? Immer!
Bei jeder neu aufgetretenen psychotischen Störung sollte unabhängig vom Alter der Betroffenen grundsätzlich eine somatische Ursache abgeklärt werden. Es ist sinnvoll, primäre Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) von Störungen zu unterscheiden, die sekundär über eine gestörte Hirnfunktion zu psychotischen Symptomen führen – beispielsweise internistische Erkrankungen oder metabolische Funktionsstörungen (siehe Teil 2). Unter anderem bei den folgenden Red Flags sollten Behandelnde an eine organische Ursache denken:
- Akuter Beginn
- Ungewöhnliches Manifestationsalter
- Epileptische Anfälle und fokalneurologische Symptome
- Bewusstseinseintrübung und Desorientierung
- Neu aufgetretene subakute (innerhalb von 3 Monaten) kognitive oder mnestische Defizite
- Optische Halluzinationen
- Psychomotorische Symptome, zum Beispiel Katatonie
- Fluktuierender Verlauf
- Frühe Therapieresistenz gegen Antipsychotika
- Fluktuierende Psychopathologie
- Fieber
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Primäre Erkrankungen des ZNS
Fokalneurologische Symptome, epileptische Anfälle oder Gedächtnisstörungen können Alarmzeichen für eine primäre ZNS-Erkrankung sein. Zeigte der Künstler entsprechende Symptome?
Epilepsie
Zeitgenossen berichteten, van Gogh habe unter tonischen Spasmen der Hand gelitten und teilweise abwesend vor sich hin gestarrt. Für die Dauer dieser Episoden habe eine Amnesie bestanden. Auch daran, Gauguin bedroht oder sich das Ohr abgeschnitten zu haben, konnte sich der Maler kaum erinnern. Seine Ärzte gingen von einer Epilepsie aus und behandelten ihn mit Kaliumbromid, einem der ersten Antikonvulsiva. Hierunter besserte sich van Goghs Zustand nach eigenem Bekunden deutlich, dennoch setzten die weiterbehandelnden Ärzte das Medikament wenig später wieder ab. Möglicherweise ein schwerwiegender Fehler.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde aufgrund von van Goghs Verhalten eine Temporallappenepilepsie als mögliche Ursache diskutiert. Seine starken Stimmungsschwankungen könnten laut American Journal of Psychiatry auf eine mögliche interiktale dysphorische Störung zurückzuführen sein. Verschiedene Epilepsieformen, allen voran die Temporallappenepilepsie, gehen zudem mit einer erhöhten Psychoseprävalenz einher.
Heutzutage hätte van Gogh also zwingend eine Elektroenzephalografie (EEG) mit der Frage nach epilepsietypischen Potenzialen sowie eine kranielle Magnetresonanztomografie (cMRT) zur Abklärung kortikaler Läsionen und weiterer struktureller Hirnveränderungen erhalten müssen. Außerdem wären laborchemisch die Elektrolytwerte sowie Schilddrüsen-, Leber- und Nierenretentionsparameter untersucht worden.
Psychische Verhaltensstörung durch Alkohol und andere Substanzen
Vincent van Gogh konsumierte während der Arbeit große Mengen Alkohol, vor allem Cognac und Absinth. In einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb er zwei Jahre vor seinem Tod: „Wenn der Sturm in mir zu laut brüllt, trinke ich ein Glas zu viel, um mich zu betäuben.“ Jahrelanger Alkoholmissbrauch könnte sein Hirn geschädigt und dadurch akustische Alkoholhalluzinosen, mnestische Störungen und Wahnsymptome ausgelöst haben. Auch ein Alkoholentzugsdelir als möglicher Auslöser seiner Psychose wird diskutiert.
Einige Autor:innen vermuten wiederum eine chronische Absinthintoxikation als mögliche Ursache für van Goghs Symptomatik. Psychotrope Eigenschaften der Grünen Fee gelten heutzutage allerdings als unwahrscheinlich und der viel beschriebene Absinthismus ist wohl am ehesten eine Folge schädlichen Alkoholkonsums. Bemerkenswert hinsichtlich einer etwaigen Epilepsie ist allerdings, dass Absinth das prokonvulsive Nervengift Thujon enthält.
Würde sich van Gogh in einer heutigen Klinik vorstellen, wären neben einem Drogenscreening also auch eine ausführliche Alkoholanamnese sowie Laboruntersuchungen auf Leberschäden und Malnutrition angezeigt.
Entzündlicher ZNS-Prozess
Van Gogh ging regelmäßig in Bordelle und war zeitweise mit einer Prostituierten liiert. Aus diesem Grund wird auch eine Neurosyphilis als mögliche Ursache seiner Symptomatik diskutiert: Diese kann sowohl zu epileptischen Anfällen als auch zu psychotischen Störungen führen. Allerdings zeigte van Gogh keine weiteren Lues-IV-Symptome wie Ataxie, Hirnnervenausfälle oder Sensibilitätsstörungen.
Doch auch zahlreiche weitere entzündliche ZNS-Prozesse können psychotische Symptome auslösen. Daher sollte serologisch neben Syphilis auch auf Borreliose, HIV und Toxoplasmose getestet werden. EEG und cMRT sind auch hier angezeigt; außerdem eine Liquorpunktion. So könnten sich auch Hinweise auf eine mögliche Multiple Sklerose ergeben. Bei entsprechendem Verdacht sollten zudem Untersuchungen auf virale oder bakterielle Herdenzephalitiden und weitere immunvermittelte Hirnentzündungen erfolgen.
Zerebrale Raumforderungen
Van Gogh galt als starker Raucher. Sich selbst porträtierte er oft mit Pfeife. Zwar wäre er mit 37 Jahren noch etwas jung für ein Lungenkarzinom mit zerebraler Metastasierung gewesen - diese häufen sich vor allem ab der sechsten Lebensdekade -, neu aufgetretene Psychosen sollten aber dennoch eine radiologische Abklärung hinsichtlich intrakranieller Raumforderungen nach sich ziehen
Weitere Differenzialdiagnosen
Abhängig von Klinik, Patientenalter und Familienanamnese sollten auch neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson, Chorea Huntington oder die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung erwogen werden. Abgelaufene Schädel-Hirn-Traumen oder zerebrale Gefäßerkrankungen wie Ischämien oder Hirnvenenthrombosen kommen als mögliche Ursachen einer Psychose ebenfalls in Betracht.
Skeptisch sein! Auch bei langjährigen Diagnosen
Die Differenzialdiagnostik organisch bedingter psychotischer Störungen ist komplex. Auch bereits lange bestehende Diagnosen aus dem schizophreniformen Spektrum können falsch sein und sollten gegebenenfalls kritisch auf organische Ursachen geprüft werden. Eine portugiesische Studie widmete sich dieser Thematik und untersuchte retrospektiv 200 Krankenakten. Das Ergebnis: Jeder vierten vermeintlichen Schizophrenie lag eine organische Ursache zugrunde. Bis die richtige Diagnose gefunden war, vergingen im Mittel zwölf Jahre. Skeptisch sein lohnt sich also. Manchmal kann schon eine kurze Recherche helfen, lange Krankengeschichten und damit ganze Menschenleben in die richtige Bahn zu lenken.
Im zweiten Teil unserer differenzialdiagnostische Spurensuche über Vincent van Gogh weiter beleuchten wir Störungen, die sekundär über eine gestörte Hirnfunktion zu psychotischen Symptomen führen. Könnte der Maler etwa an Porphyrie gelitten haben? Das AMBOSS-Kapitel Schizophrenie bietet einen kompakten Überblick zu den somatischen Differenzialdiagnosen der psychotischen Störung. Wer Tipps für die Anamnese und eine Liste notwendiger Blutuntersuchungen sucht, findet sie im AMBOSS-Kapitel Epilepsie. Relevante Laborwerte und Screeningtests zur Abklärung bei Alkoholabhängigkeit sind im AMBOSS-Kapitel Alkohol (Intoxikation und Abhängigkeit) zusammengefasst. Weitere Informationen zum Umgang mit riskantem Alkoholkonsum finden sich auch im AMBOSS-Podcast und im AMBOSS-Blog. Eine strukturierte Zusammenfassung der Enzephalitis-Abklärung findet sich im AMBOSS-Kapitel Enzephalitis. Das AMBOSS-Kapitel Delir bietet eine Übersicht über organische psychische Störungen nach ICD-10. |
Quellen
- Blumer D. The illness of Vincent van Gogh. Am J Psychiatry. 2002;159(4):519-526. doi:10.1176/appi.ajp.159.4.519
- Waxman SG, Geschwind N. The interictal behavior syndrome of temporal lobe epilepsy. Arch Gen Psychiatry. 1975;32(12):1580-1586. doi:10.1001/archpsyc.1975.01760300118011
- Nolen, W.A., van Meekeren, E., Voskuil, P. et al. New vision on the mental problems of Vincent van Gogh; results from a bottom-up approach using (semi-)structured diagnostic interviews. Int J Bipolar Disord 8, 30 (2020). https://doi.org/10.1186/s40345-020-00196-z
- DGPPN e.V. (Hrsg.) für die Leitliniengruppe: S3-Leitlinie Schizophrenie. Langfassung, 2019, Version 1.0, zuletzt geändert am 15. März 2019, verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html