Sichelzellkrankheit: Operation am Genom?
Anämie, Infarkte, Schmerzen – die Sichelzellkrankheit ist eine schwere, oft tödliche Hämoglobinopathie. Betroffene können dank CRISPR-Cas & Co. auf Heilung hoffen.
Valin statt Glutamat. Eine winzige Punktmutation auf Chromosom 11 gefährdet weltweit Millionen Menschenleben. Erythrozyten ändern ihre Form, verlieren an Elastizität. Diagnose: Sichelzellkrankheit.
In Deutschland zählt sie bislang zu den seltenen Erkrankungen. Im Mittleren Osten und vor allem im subsaharischen Afrika ist die Sichelzellkrankheit dagegen weit verbreitet. Durch zunehmende Migration werden wir diese Anämieform künftig wohl auch in Europa häufiger sehen. Neue Erkenntnisse aus der Gentherapie könnten bei ihrer Behandlung dann eine entscheidende Rolle spielen.
Zur Erinnerung: Der zugrunde liegende Aminosäureaustausch führt über defekte Hämoglobin-β-Ketten zum sog. Sichelzellhämoglobin (HbS). Unter Sauerstoffmangel verklumpt HbS, was den Erythrozyten ihre krankheitstypische Form verleiht. Sichelzellen haben eine kürzere Lebensdauer und sind weniger beweglich als ihre Doppelgänger mit physiologischem adulten Hämoglobin (HbA). Die Folge sind rezidivierende Mikroinfarkte in Knochen, Organen und Gefäßen; ischämisches Gewebe geht zugrunde und verursacht ein entscheidendes Charakteristikum der Sichelzellkrankheit: Schmerzen. Diese sog. vasookklusiven Krisen sind der häufigste Grund für Betroffene, ärztlichen Rat zu suchen.
Über den Blutstrom erreichen die Sichelzellen nahezu jedes Gewebe. Entsprechend vielfältig sind die Komplikationen: Durch häufige Infarkte atrophiert die Milz, was bakterielle Infektionen begünstigt. Zerebrale Insulte oder fulminant verlaufende pulmonale Komplikationen wie das akute Thoraxsyndrom stellen absolute Notfallsituationen dar und können für die Betroffenen fatale Konsequenzen haben. Langfristig leiden viele unter Folgeschäden wie Glomerulopathie, Retinopathie oder pulmonaler Hypertonie.
Therapeutisch werden Erythrozytenkonzentrate eingesetzt. Zu häufige Transfusionen bergen jedoch die Gefahr der Alloimmunisierung und des Hyperviskositätssyndroms – die Indikation ist also streng zu stellen. Medikamentös kommen Hydroxycarbamid und der P-Selektin-Binder Crizanlizumab bei der Symptomkontrolle zum Einsatz.
Kausal hilft bislang allein die allogene Stammzelltransplantation. Da Menschen aus dem Mittleren Osten und afrikanischer Abstammung in den Registern stark unterrepräsentiert sind, ist die Wahrscheinlichkeit allerdings gering, für sie geeignete Spender:innen zu finden.
Hier kommt die Gentherapie ins Spiel, denn sie könnte eine allogene Spende überflüssig machen: Hämatopoetische Stammzellen der Betroffenen werden gesammelt und in vitro genetisch modifiziert. Nach myeloablativer Chemotherapie lassen sich die veränderten Zellen rückübertragen. Menschen mit Sichelzellkrankheit werden so zu ihren eigenen Stammzellspender:innen. In einer französischen Studie gelang eine solche “genetische Korrektur” bereits: Lentiviren brachten ein Anti-Sichelzell-β-Globin-Gen in die Stammzell-DNA eines erkrankten Probanden ein. Nach Retransplantation traten außer einer leichten, infektbedingten Episode keine sichelzelltypischen Symptome mehr auf.
Ein mögliches Problem: Die Viren bauen ihre Fracht an willkürlichen Stellen ins Genom ein. Zwei Probanden, deren Stammzellen in einer anderen Studie ebenfalls mit Lentiviren modifiziert worden waren, erkrankten an akuter myeloischer Leukämie. Noch ist nicht geklärt, ob das Virus, die Chemotherapie oder eine grundsätzliche Vulnerabilität für hämatoonkologische Entartungen die Erkrankungen verursachte.
Eine risikoärmere Herangehensweise könnte die Genschere CRISPR-Cas9 bieten. Sie lässt sich präzise steuern und kommt bereits in mehreren Forschungsgruppen zum Einsatz, um die Bildung von fetalem Hämoglobin (HbF) bei Erkrankten wieder anzukurbeln. HbF blockt die HbS-Verklumpung und verhindert dadurch die Sichelzellbildung. Darum sind homozygote Föten und Kinder vor dem dritten Lebensmonat asymptomatisch. Nach der Geburt stellt der Körper allmählich von HbF auf HbA um. Dafür ist unter anderem das BCL11A-Gen verantwortlich. Inaktiviert CRISPR-Cas9 dessen erythrozytären Enhancer, beginnen auch Erwachsene, wieder relevante Mengen HbF zu produzieren. Zwei entsprechend therapierte Personen zeigten ein Jahr nach der Behandlung physiologische Hb-Werte und benötigten keine weiteren Bluttransfusionen. Vasookklusive Krisen traten nicht mehr auf.
Gelänge es gar, die Mutation im β-Globin-Gen durch einen gesunden DNA-Strang zu ersetzen, würde dies das Ende der Sichelzellkrankheit bedeuten. Auch dieser Ansatz wird bereits in klinischen Studien erprobt.
Ob und wann die Gentherapie breite Anwendung findet, ist noch nicht absehbar. Das Risiko maligner Entartungen gilt es dringend weiter zu erforschen. Da gleichzeitig bis zu 80% der Kinder mit Sichelzellkrankheit in Afrika vor ihrem fünften Geburtstag sterben, sollten weltweit Kräfte gebündelt werden, um grundlegende Vorsorgemaßnahmen wie Antibiotikaprophylaxe und Immunisierung umzusetzen. In Deutschland zumindest hat sich die Prävention vor Kurzem verbessert: Seit diesem Monat ist die Sichelzellkrankheit Teil des bundesweiten Neugeborenenscreenings.
Wie die “Genschere” CRISPR-Cas9 funktioniert, erklärt dieses AMBOSS-Video:
Quellen
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