Kinderschutz: „Unser Ziel ist, Familien zu helfen“

Britta Verlinden - Sonntag, 12.2.2023
Ein Kind sitzt mit angezogenen Knien auf dem Fußboden und versteckt sein Gesicht. Medizinischer Kinderschutz im AMBOSS-Blog.

Kindeswohlgefährdung geht uns alle an. Was gilt es aus ärztlicher Sicht zu wissen und zu tun, um Betroffene zu schützen? 

Studien zufolge erlebt mindestens jedes zehnte Kind Gewalt oder Vernachlässigung im eigenen Zuhause. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) schult Fachkräfte darin, Betroffenen zu helfen. Im AMBOSS-Podcast berichten DGKiM-Geschäftsführerin Dr. med. Frauke Schwier und Kinderschutzmediziner Dr. med. Jo Ewert von ihrer praktischen Arbeit und politischen Forderungen. 

Auf einen Blick

  1. Hinschauen: Kindesmisshandlung ist häufig, wird aber selten erkannt
  2. Wissen: Gewalt und Vernachlässigung haben Folgen
  3. Kooperieren: Kinderschutz geht nur im Team  
  4. Nachfragen: Belastete Familien erkennen und unterstützen
  5. Achtgeben: Als Helfende im Kinderschutz selbst gesund bleiben
  6. Direkt zur Podcastfolge

Hinschauen: Kindesmisshandlung ist häufig, wird aber selten erkannt

Nach Schätzung der WHO werden 90% aller Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung nicht erfasst. Das heißt, den bei Polizei oder Jugendamt gemeldeten Fällen steht eine große Dunkelziffer gegenüber. Diese lässt sich anhand repräsentativer Befragungen der erwachsenen Bevölkerung einschätzen. Dabei erheben Forschende, welchen Belastungen die Teilnehmenden in ihrer Kindheit ausgesetzt waren und welche Formen von Misshandlung und Vernachlässigung sie erlebt haben. „Mit allen Schwächen, die solche Dunkelfeldbefragungen haben“, sagt Kinderschutzmediziner Jo Ewert, „sind sie das Beste, das es in der Kinderschutzmedizin gibt, um die wirkliche Prävalenz zu schätzen.“

So haben Studien zufolge 7% der deutschen Bevölkerung moderate bis extreme Formen von körperlicher oder seelischer Gewalt erlebt. Berücksichtigt man auch leichtere Formen, steigt der Anteil auf 10%. Bei der Vernachlässigung seien die Zahlen noch deutlich höher, so Ewert: „Das ist schon dramatisch.“ Statistisch gesehen sind in jeder Schulklasse zudem ein bis zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen.

„Diesen Gedanken zuzulassen, fällt einfach enorm schwer”, sagt Frauke Schwier, die Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM). So hielten es einer Forsa-Umfrage zufolge 90% der Befragten zwar für wahrscheinlich, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Nahfeld, etwa in ihrer Familie, sexuell missbraucht würden. „Aber 85% konnten kategorisch ausschließen, dass das in ihrem eigenen Nahfeld passiert“, so Schwier.

Unter anderem aufgrund dieser Diskrepanz habe sich der Kinderschutz in der Medizin immer weiter professionalisiert. „Damit Fachkräfte das auch über lange Zeit machen und gut und professionell damit umgehen können“, sagt Schwier, „muss man sich wappnen, schulen und immer wieder neu dazulernen.“ Für die Expertin ist dabei die „Hauptsache“, dass kein Kind auf Erwachsene trifft, die ihm erst einmal nicht glauben, weil sie die Vorstellung nicht ertragen. „Denn das ist das Schlimmste, was jemandem, dem etwas widerfahren ist, passieren kann“, so Schwier. 

Kinderschutzmedizin
© AMBOSS GmbH

Welche Red Flags weisen auf Misshandlung und Vernachlässigung hin? Unser Kapitel Kinderschutzmedizin enthält praktische Handlungsempfehlungen und ist auch ohne Abo frei zugänglich.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

Wissen: Gewalt und Vernachlässigung haben Folgen 

Kindesmisshandlung und -vernachlässigung führen unmittelbar, aber auch langfristig zu individuellem Leid. „Wir haben hier eine Risikogruppe“, sagt Jo Ewert. Viele Betroffene spüren die Folgen auch noch im Erwachsenenalter. So erkranken sie häufiger an Diabetes mellitus, kardiovaskulären und sogar malignen Erkrankungen. 

Mediziner:innen müssen in der Lage sein, körperliche und seelische Verletzungen zu erkennen und zu behandeln. Neben Schulen, Jugendämtern oder freien Trägern der Jugendhilfe ist das Gesundheitssystem daher ein wichtiger Akteur in Sachen Kinderschutz. „Gerade bei den Ressourcen hapert es aber gewaltig“, sagt Ewert. Dem Experten zufolge halten nur wenige Kliniken feste Stellen für den Kinderschutz vor und längst nicht alle Häuser und Praxen haben ein Kinderschutzkonzept – obwohl sie eigentlich dazu verpflichtet sind.

Diese Verpflichtung hat auch einen volkswirtschaftlichen Hintergrund: In Deutschland fallen einer Publikation im Lancet Public Health zufolge pro Jahr 117 Milliarden Euro für die Folgen belastender Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACE) an – 3% des Bruttoinlandsprodukts. Auch aus diesem Grund sollte die Medizin über mehr Fachkräfte verfügen, die sich mit dem Thema beschäftigen, fordert Ewert. „Es kann nicht sein, dass manche Kolleginnen und Kollegen seit Jahren in ihrer Freizeit noch die Kinderschutzfälle der Station abklären.“ 

Kooperieren: Kinderschutz geht nur im Team

Anders als das verpflichtende Kinderschutzkonzept sind Kinderschutzgruppen, in denen Fachkräfte verschiedener Berufsgruppen zusammenarbeiten, an Krankenhäusern bisher freiwillig. Am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) koordiniert Jo Ewert eine solche Gruppe. Dort ist es dem Pädiater zufolge seit ihrer Gründung im Jahr 2018 bereits zu „massiven Veränderungen“ gekommen: „Wir haben eine ganz andere Sensibilisierung für das Thema.“ Vor allem aber seien die Fallzahlen stark angestiegen. „Das zeigt, wie wichtig die Strukturierung solcher Prozesse ist“, so Ewert. „Leider muss man sagen, dass Fälle sonst untergehen.“

Wer eine feste Kinderschutzgruppe gründen möchte, sollte zunächst in Erfahrung bringen, ob die Leitung des Krankenhauses damit einverstanden ist und welche Ressourcen sie dafür zur Verfügung stellt. „Solange das nicht geklärt ist“, warnt Schwier, „kann man das nicht tun.“ Wer anfange, Kinderschutz allein zu betreiben, werde damit auf Dauer nicht gesund bleiben.

Besteht bereits eine Kinderschutzgruppe, können Kolleg:innen im Verdachtsfall dort ein Kinderschutzkonsil anmelden. Pädiater:innen und Kinderschutzmediziner:innen wie Ewert sichten dann gemeinsam die Befunde, ordnen die Anamnese ein, sprechen mit Eltern und Kind und versammeln die nötigen Fachbereiche, um über das weitere Vorgehen zu beraten. 

Am UKE gehören außer der Pädiatrie und der Kinderschutzmedizin etwa der Sozialdienst und eine Psychologin zum festen Team. Je nach Fall sind neben Rechtsmedizin, Kinderchirurgie, Kinderradiologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie auch – etwa, wenn es um ein Schütteltrauma geht – Neurochirurgie, Neuroradiologie und Augenheilkunde involviert. 

Sind Differenzialdiagnosen vom Tisch und eine Kindesmisshandlung wahrscheinlich, wird unter Einbeziehung der Eltern zeitnah die Jugendhilfe informiert. „Das ist kein Bruch der Schweigepflicht“, so Ewert. „Wir haben eine Befugnisnorm und die würden wir als Kinderschutzgruppe dann auch nutzen, weil wir wissen, dass wir als Gesundheitseinrichtung gar nicht die Mittel haben, ausreichend zu helfen.“ 

Nachfragen: Belastete Familien erkennen und unterstützen

Um die diagnostische Sicherheit zu erhöhen, sollten Behandelnde Red Flags und Risikofaktoren kennen sowie die Anamnese und erhobene Befunde auf Plausibilität prüfen. Jo Ewert mahnt jedoch: „Wir Fachkräfte sind nicht dazu da, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen.“ In den meisten Fällen hätte man es nicht mit „schrecklichen Menschen“ zu tun, sondern mit Eltern, die in einer Überforderungssituation steckten. 

„Das heißt überhaupt nicht, dass es in Ordnung ist, ein Kind zu misshandeln“, so Ewert. Aber mit dieser inneren Grundhaltung falle es leichter, dazu beizutragen, dass es nicht nochmal passiert. „Wir sind keine Ermittlungsbehörde, wir müssen kein Verbrechen aufklären“, sagt Ewert. “Unser Ziel ist, den Familien zu helfen.“

Für Frauke Schwier ist es deshalb auch eine „Red Flag“, bei der Anamnese zu hören, dass jemand überlastet ist und nicht weiß, wo es Hilfe gibt. Schwier appelliert dabei auch an ärztliches Personal in der Erwachsenenmedizin, über die eigenen Patient:innen in Erfahrung zu bringen: Haben sie Kinder zu versorgen? Gibt es einen Partner, eine Partnerin oder Großeltern, eine andere menschliche Ressource, eine zweite Bezugsperson für das Kind? Schwier erwarte von niemandem, dass er Erziehungsberatung mache, aber es wäre sehr wünschenswert, wenn auch die Erwachsenenmedizin wüsste, an wen sich Familien wenden können: „Die Weitervermittlung ins Hilfesystem muss uns in Fleisch und Blut übergehen.“  

Achtgeben: Als Helfende im Kinderschutz selbst gesund bleiben

Insbesondere in den vergangenen zehn Jahren hat die DGKiM bereits viele Verbesserungen erwirkt. Doch Jo Ewert warnt: „Wir brauchen auch eine finanzielle Ausstattung, die es den Helfenden ermöglicht, selbst gesund dabei zu bleiben.“ So seien gute Arbeitsbedingungen wichtig, um mit der Belastung umgehen zu können. Wenn es ausreichend Zeit gebe, Verdachtsfälle leitliniengerecht zu bearbeiten, sei schon ein großer Teil der Last abgepuffert. „Wenn ich immer das Gefühl habe, defizitär zu arbeiten“, so Ewert, „bin ich viel gestresster.“ 

Als zweiten präventiven Aspekt nennt er ein gutes Team. „Dass man eben nicht allein dasteht mit diesen schwierigen Fällen, sondern dass man sich zusammensetzt und zusammenarbeitet“, sagt Ewert, „und dabei auch noch ganz viel voneinander lernt.“ Die Perspektive anderer Berufsgruppen mitzubekommen, sei eine große Stärke der Kinderschutzmedizin. Und drittens motiviere ihn, wie viel Positives man bewirken könne: „Kleine Schritte voran sind da schon große Veränderungen für einzelne Familien, denen geholfen wird.“ 

 

Dr. med. Frauke Schwier ist Fachärztin für Kinderchirurgie und Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM).

Dr. med. Jo Ewert ist Pädiater und Kinderschutzmediziner. Als externer Co-Autor hat er am AMBOSS-Kinderschutzkapitel entscheidend mitgewirkt.  

 

Zur Podcastfolge „Kinderschutz in der Medizin“ mit Frauke Schwier und Jo Ewert

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