Multimorbidität in der Alterstraumatologie: 5 wegweisende Aspekte

Anne Vahldieck - Sonntag, 23.10.2022
Eine geriatrische Patientin liegt mit einem eingegipsten Bein in einem Krankenhausbett. Multimorbidität in der Alterstraumatologie im AMBOSS-Blog.

Die Behandlung geriatrischer, multimorbider Patient:innen stellt eine Herausforderung der Unfallchirurgie dar. Wir stellen die wichtigsten Take-Home-Messages der Alterstraumatologin Dr. med. Stephanie Schibur vor.

Wer an Unfallchirurgie denkt, verbindet damit oft junge, sportliche Patient:innen. Im Zuge des demografischen Wandels1 wird jedoch auch die Versorgung hochbetagter und gebrechlicher Menschen mit Knochenbrüchen immer relevanter. Über konkrete Herausforderungen der Alterstraumatologie haben wir mit der Leipziger Expertin Dr. med. Stephanie Schibur im AMBOSS-Podcast gesprochen. 

Auf einen Blick

  1. Alterstraumatologie: Stolpern als Ausschlussdiagnose
  2. Geriatrische Multimorbidität in der Unfallchirurgie erkennen
  3. Frailty: Besondere Gebrechlichkeit berücksichtigen
  4. Die postoperative Prognose geriatrischer Patient:innen verbessern
  5. Behandlungshoheit in der Alterstraumatologie übernehmen

Alterstraumatologie: Stolpern als Ausschlussdiagnose

Wer nicht erklären kann, wie es zu einem Sturz kam, fürchtet häufig, als gebrechlich oder gar dement zu gelten. Wohl auch deshalb suchen viele geriatrische Patient:innen nach externen Ursachen wie einem unebenen Boden und berichten beispielsweise, sie seien über die Teppichkante gestolpert. Doch Alterstraumatologin Dr. med. Stephanie Schibur warnt: “Der Sturz im klassischen Sinne ist bei Patienten ab 70 eine Ausschlussdiagnose.” Zunächst müssten Behandelnde von einem Sturz aus inneren Ursachen ausgehen. Erst wenn diese durch weitere Diagnostik ausgeschlossen seien, lasse sich ein Sturz aus äußerer Genese annehmen. Deshalb seien neben genauem Zuhören und gezieltem Nachfragen zum Unfallhergang etwa EKG und Röntgen-Thorax unerlässlich – vor allem bei bestehender Multimorbidität. 

Geriatrische Multimorbidität in der Unfallchirurgie erkennen

Die Auswirkungen geriatrischer Multimorbidität auf die Behandlung lässt sich am Beispiel der proximalen Femurfraktur aufzeigen. Diese soll binnen 24 Stunden chirurgisch versorgt werden – allerdings nur, wenn der Allgemeinzustand des Patienten oder der Patientin es zulässt. Alterstraumatologin Stephanie Schibur empfiehlt deshalb, drei Patientengruppen zu unterscheiden: Die Eine ist ansonsten gesund, bringt also keine Nebendiagnosen mit. Die Zweite hat einzelne Komorbiditäten wie einen gut eingestellten Diabetes mellitus. Die dritte Gruppe sind die eigentlich multimorbiden Patient:innen: Sie zeichnen sich durch Erkrankungen aus, die Genesung oder Überleben konkurrierend zur Hauptdiagnose bedrohen. “Die proximale Femurfraktur ist für mich als Unfallchirurg die Hauptdiagnose”, so Schibur. “Aber wenn der Patient eine schwere, dekompensierte Herzinsuffizienz mitbringt oder gar einen frischen Infarkt, dann muss ich das gleichrangig behandeln.”

Die proximale Femurfraktur ist eine der häufigsten Frakturen im Alter. Was es bei Diagnostik, Therapie und Nachsorge unfallchirurgisch zu beachten gilt, findet sich im AMBOSS-Kapitel.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

Frailty: Besondere Gebrechlichkeit berücksichtigen

Während manch ein 75-Jähriger noch Marathon läuft, können selbst jüngere Menschen bereits physisch stark eingeschränkt sein. “Je älter die Patienten werden, umso heterogener werden sie”, sagt Stephanie Schibur. Das kalendarische Alter biete deshalb keinen Aufschluss über den Gesundheitszustand.

Besonders gebrechliche multimorbide Patient:innen zu identifizieren, ist deshalb ein wichtiger Bestandteil des geriatrischen Assessments. Doch wie lässt sich die sogenannte “Frailty”, die sich durch eine hohe Vulnerabilität und geringe funktionelle Reserve auszeichnet, sicher erkennen? Hinweise liefern laut Schibur eine verlangsamte Sprache, verringerte körperliche Aktivität oder Erschöpfungssymptome. Da manche Patient:innen ihre gesundheitlichen Probleme dem “normalen” Alterungsprozess zuschreiben, ist auch eine gründliche körperliche Untersuchung unverzichtbar. Schibur empfiehlt außerdem, dem Menschen die Hand zu geben und ihn zu bitten, fest zuzudrücken: “Wenn da eine richtig kräftige Hand kommt und der Patient problemlos Ihre Anforderungen umsetzt, dann kriegen Sie ein gutes Gefühl – ohne umfangreiche Diagnostik.” Auch Vorerkrankungen und Gewichtsverlust erhöhen die Vulnerabilität eines Menschen. Selbst wer fit wirke, überspiele vielleicht ein Gebrechen. Ab einem Alter von 80 Jahren, so Stephanie Schibur, sei jeder Mensch deshalb als “frail” zu betrachten. Frailty und Multimorbidität gehen dabei oft Hand in Hand.

Die postoperative Prognose geriatrischer Patient:innen verbessern

Bereits vor einem operativen Eingriff sind Patient:innen mit Frailty und/oder Multimorbidität Stressoren ausgesetzt, die ihre physischen Ressourcen beanspruchen. Vom Transport ins Krankenhaus über den Diagnoseprozess bis zur Narkose: “Geriatrische Patienten verzeihen keinen Fehler”, so Stephanie Schibur, “es gibt in der Regel keine zweite Chance.” Um additive Traumata zu vermeiden, darf der Patient also nicht unterkühlen und sollte postoperative Orientierungshilfen erhalten. Um Blutverluste vor, während und nach einer Operation so gering wie möglich zu halten, sind blutungsarme Eingriffe sowie Patient Blood Management (PBM) ratsam. Ein besonderes Augenmerk sollten Behandelnde auch auf die Delirprophylaxe legen – denn rutschen geriatrische Patient:innen in ein postoperatives Delir, verschlechtert sich ihre Prognose enorm. 

Behandlungshoheit in der Alterstraumatologie übernehmen

Zertifizierte Zentren für Alterstraumatologie stellen eine bestmögliche Behandlung geriatrischer Patient:innen sicher, indem Unfallchirurgie und Geriatrie dort nach dem Kriterienkatalog2 der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zusammenarbeiten. In Krankenhäusern ohne ein solches Zentrum wird ein Großteil der präoperativen Vorbereitung und Verantwortung jedoch häufig an die Anästhesiologie abgegeben. Dr. Schibur sieht hier die Unfallchirurgie in der Pflicht, die Behandlungshoheit zu übernehmen. “Das ist wie bei einem Polytrauma: Es geht nicht darum, selbst zu intubieren oder eine Laparotomie durchzuführen, sondern darum, die Gesamtverantwortung für den Patienten zu übernehmen.” Dazu gehöre, für die verschiedenen Fragestellungen die entsprechenden Kompetenzen heranzuziehen. “Aber das Behandlungsziel im Kopf zu behalten, das ist ganz klar meine Aufgabe”, so Schibur. “Und je kleiner das Krankenhaus, desto ehrgeiziger sollte man als Unfallchirurg sein, das nicht wegzudelegieren.”

Alterstraumatologie im AMBOSS-Podcast

Wer wissen möchte, warum das Behandlungsziel in der Alterstraumatologie immer die vollbelastende Mobilisierung sein sollte, kann das ganze Interview mit Stephanie Schibur jetzt im Podcast nachhören:

Kostenfrei hören auf:

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Dr. med. Stephanie Schibur ist Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie mit der Zusatzbezeichnung Geriatrie und leitende Oberärztin am Zentrum für Alterstraumatologie im Helios Park Klinikum Leipzig.

 

Quellen

  1. Lebenserwartung und Sterblichkeit. Statistisches Bundesamt. Zugegriffen Oktober 20, 2022. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aspekte/demografie-lebenserwartung.html
  2. Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie, Kriterienkatalog ®. Version 1.3. Alterstraumazentrum-dgu.de. Zugegriffen Oktober 20, 2022. https://www.alterstraumazentrum-dgu.de/fileadmin/user_upload/AltersTraumaZentrumDGU_Kriterienkatalog_V1.3_01.07.2020.pdf