Polyneuropathie und ihre Ursachen
"Orientierung im Dickicht": Wie das neue AMBOSS-Kapitel die Polyneuropathie-Diagnostik für alle Fachrichtungen zugänglich macht.
Dr. med. Mischa Braun-Schwerdtfeger ist Oberarzt der Neurologischen Fachkliniken Beelitz-Heilstätten und Redakteur in der AMBOSS-Fachgruppe Neurologie. Er erklärt uns, wie das Kapitel hilft das Syndrom Polyneuropathie besser zu begreifen.
Auf einen Blick
- Wie hilft das AMBOSS-Kapitel “Polyneuropathie” im ärztlichen Alltag?
- Welchen Abschnitt sollten auch fachfremde Kolleg:innen unbedingt lesen, bevor sie beispielsweise zum Konsilschein greifen?
- Was bietet dieses Kapitel ärztlichen Kolleg:innen, das sie sonst nirgendwo finden?
- Was ist inhaltlich neu? Warum ist das wichtig?
- Gibt es etwas, das dich bei der Arbeit am Kapitel selbst überrascht hat?
- Wie würdest du den folgenden Satz beenden? “Während meiner eigenen Weiterbildung hätte ich dieses Kapitel unbedingt gebraucht…”
Wie hilft das AMBOSS-Kapitel “Polyneuropathie” im ärztlichen Alltag?
Polyneuropathien sind zwar neurologische Erkrankungsbilder, haben ihre Ursache in vielen Fällen aber außerhalb des Nervensystems. Sie begegnen also nicht nur Neurolog:innen. Unser Kapitel soll zunächst helfen, Polyneuropathien besser zu verstehen. Schließlich handelt es sich um eine Gruppe vieler verschiedener Erkrankungen, deren klinische Erscheinungsbilder sich überschneiden. Polyneuropathie ist keine Enddiagnose, sondern muss als Syndrom begriffen werden. Das Kapitel vermittelt einen roten Faden, ein grundlegendes Schema, ein schrittweises Vorgehen im praktischen Umgang damit. Erstens: Wie stelle ich eine Polyneuropathie fest? Welche Typen oder Unterformen gibt es? Wie beschreibe ich sie? Eine möglichst genaue Beschreibung hilft mir dann beim zweiten Schritt: Wie gehe ich pragmatisch vor, um die Ursache zu finden, also die Krankheit hinter dem Syndrom? Und drittens, denn hier will ich ja eigentlich hin: Wie behandle ich die Betroffenen am besten? Das kann ich nur, wenn ich die Ursache der Polyneuropathie kenne.
Die Ursachen der Polyneuropathie sind vielfältig. Unser AMBOSS-Kapitel hilft, Schritt für Schritt den Weg vom Symptom zur Diagnose bis hin zur Therapie zu finden. |
Welchen Abschnitt sollten auch fachfremde Kolleg:innen unbedingt lesen, bevor sie beispielsweise zum Konsilschein greifen?
Wer dem Konsiliar oder der Konsiliarin möglichst ausführlich berichten möchte, kann sich anhand der Einteilung nach den betroffenen Qualitäten und den Hinweisen zur Anamnese Orientierung verschaffen. Um die ätiologische Abklärung zu beschleunigen, ist der Abschnitt zur grundlegenden Blutuntersuchung sicher hilfreich. Und natürlich gilt es immer, mögliche Differenzialdiagnosen auszuschließen.
Was bietet dieses Kapitel ärztlichen Kolleg:innen, das sie sonst nirgendwo finden?
Wenn ich die Ursache einer Polyneuropathie, also die “Krankheit hinter dem Syndrom”, bereits kenne und bloß Informationen dazu suche, gibt es sicher auch andere gute Quellen. Aber anfangs kenne ich die Diagnose ja noch nicht! Unser Kapitel zeichnet deshalb konsequent den Weg von den Beschwerden und Symptomen hin zur Ursache nach. AMBOSS listet die Eigenschaften der jeweiligen Polyneuropathie-Form nicht nur auf wie ein klassisches Lehrbuch, sondern hilft, die strukturiert erhobenen Befunde Schritt für Schritt zuzuordnen. Das Kapitel geht also quasi den umgekehrten Weg – aber genau den, der im echten klinischen Leben gegangen werden muss. Als Übersichtskapitel ist es außerdem verknüpft mit zahlreichen anderen AMBOSS-Kapiteln, die ausführlich auf einzelne ursächliche Erkrankungen eingehen, etwa Diabetes, Guillain-Barré-Syndrom oder CIDP.
Was ist inhaltlich neu? Warum ist das wichtig?
Wirklich bahnbrechende Entwicklungen gab es hinsichtlich Diagnostik und Therapie leider nicht. Zwar stehen einige neue medikamentöse Behandlungsoptionen zur Verfügung, aber nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen profitiert davon. Für die vegetative Funktionsdiagnostik, deren Stellenwert in den vergangen Jahren gewachsen ist, gilt Ähnliches. Das bilden wir im Kapitel mit ab. Außerdem haben wir natürlich die neuen DGN-Leitlinien eingearbeitet. Dabei haben wir uns aber entschieden, die Empfehlungen der tatsächlichen Chronologie des klinischen Arbeitens anzupassen. Denn leider lassen sich die Leitlinien mit ihrem Enzyklopädie-Charakter nur schwer im Sinne einer konkreten Handlungsanleitung lesen. So gibt es viele verschiedene Polyneuropathie-Erkrankungen, von denen die meisten allerdings sehr selten sind. Wir sind der Meinung, dass es weniger wichtig ist, alle beim Namen zu kennen. Viel wichtiger war uns, im Dickicht eine Orientierung zu bieten und den Kolleg:innen eine verlässliche Strategie an die Hand zu geben, mit der sie sich einen Weg bahnen und die Möglichkeiten eingrenzen können. Auf der Suche nach gemeinsamen Nennern oder guten Unterscheidungsmerkmalen der einzelnen Polyneuropathie-Ursachen haben wir viel vergleichendes Literaturstudium betrieben. Andererseits mussten wir das Kapitel auch an den richtigen Stellen verschlanken. Das war wahrscheinlich die kniffligste Aufgabe bei der Kapitelerstellung.
Gibt es etwas, das dich bei der Arbeit am Kapitel selbst überrascht hat?
Überrascht hat mich, dass es zur “Volkskrankheit Polyneuropathie” nur sehr wenige epidemiologische Daten gibt. Aber fest steht: Sie ist wirklich häufig und deshalb ist unser neues Kapitel nicht nur für Neurolog:innen wichtig.
Wie würdest du den folgenden Satz beenden? “Während meiner eigenen Weiterbildung hätte ich dieses Kapitel unbedingt gebraucht…”
…weil ich von Anfang an immer wieder mit dem Problem konfrontiert war – lange bevor ich selbst eine Strategie im Kopf hatte. Irgendeine Laboruntersuchung habe ich jedes Mal vergessen! Auch der Stellenwert der neurophysiologischen Funktionsdiagnostik in diesem Kontext war mir lange nicht klar. Schon als neurologischer Assistent sollst du dich anderen gegenüber als Polyneuropathie-Experte äußern, meist bevor du jemals selbst eine EMG-Nadel in der Hand hattest. Unser Kapitel hilft jetzt, die Anforderung an die Diagnostik so zu formulieren, dass alle dabei glücklich werden.