Tuberkulose: Wissen erhalten, Resistenzen bekämpfen
In Krisenzeiten steigen auch in Niedriginzidenzländern die Tuberkulosezahlen. Was Behandelnde hierzulande über die Infektion wissen sollten.
Weltweit ist nach WHO-Angaben jeder vierte Mensch latent mit Tuberkulose infiziert. Pro Jahr erkranken 10 Millionen Menschen an aktiver Tuberkulose und 1,5 Millionen sterben daran. Dabei ist die Tuberkulose eigentlich medikamentös behandelbar. In welchen Fällen kommt diese Differenzialdiagnose auch in einem Niedriginzidenzgebiet wie Deutschland infrage? Und woran müssen Behandelnde bei Diagnostik und Therapie denken? Diese Fragen haben Dr. med. Brit Häcker und Dr. med. Ralf Otto-Knapp vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose im AMBOSS-Podcast beantwortet. Ihre wichtigsten Take-Home Messages gibt es hier.
Auf einen Blick
- Tuberkulose-Wissen erhalten – auch bei niedrigen Inzidenzen
- Progressionsrisiko der latenten Tuberkulose abwägen
- Nur drei Risikogruppen sollten auf eine latente Infektion gescreent werden
- Leitsymptom Husten: Wann differenzialdiagnostisch an eine Tuberkulose zu denken ist
- Extrapulmonale TBC: Lymphknoten exstirpiert? Mykobakteriologie nicht vergessen!
- Gemeinsam gegen Resistenzen: Tuberkulose-Erreger möglichst direkt nachweisen
- Fazit
Tuberkulose-Wissen erhalten – auch bei niedrigen Inzidenzen
Die Tuberkulose zählt in Deutschland mit 4.000 Neuerkrankungen im Jahr mittlerweile zu den seltenen Krankheiten. Weltweit hat die Tuberkulose-Versorgung allerdings Rückschritte gemacht, da infolge der Coronavirus-Pandemie nicht genügend diagnostische und personelle Ressourcen zur Verfügung standen. So ist die Mortalität im vergangenen Jahr sogar erstmals seit zehn Jahren wieder angestiegen. Das Ziel der WHO, die Tuberkulose bis 2035 auszurotten, scheint mit aktuell 1,5 Millionen Todesfällen in weiter Ferne. “Wir leben in Westeuropa auf einer Insel der Glückseligen, was die Tuberkulose angeht”, sagt Ralf Otto-Knapp im AMBOSS-Podcast, “aber um uns herum steht das Wasser relativ hoch.” In Krisensituationen erkrankten deshalb auch in Deutschland mehr Menschen an Tuberkulose. Das sei in der Vergangenheit so gewesen und auch für die Zukunft absehbar. “Daher brauchen wir das Wissen um die Tuberkulose – und auch die Strukturen, um sie zu behandeln”, so Otto-Knapp.
Progressionsrisiko der latenten Tuberkulose abwägen
Deutlich häufiger als eine aktive Tuberkulose ist eine latente Infektion, die nach WHO-Schätzungen ein Viertel der Weltbevölkerung betrifft. Aber was sich beim Einzelnen auf pathophysiologischer Ebene abspielt, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten: Handelt es sich um Erreger, die sich aktuell nicht replizieren, aber eigentlich vital sind? Oder hat es der Körper bereits geschafft, den Erreger dauerhaft zu eliminieren – und die vermeintlich schlummernde Tuberkulose ist nichts weiter als eine “immunologische Narbe”? “Dafür gibt es keinen Test”, erklärt Brit Häcker im AMBOSS-Podcast, und das sei ein Problem bei den Zahlen der WHO: “Wie hoch ist der Anteil der Menschen, die tatsächlich ein reales Risiko haben, in ihrem Leben noch einmal an Tuberkulose zu erkranken?” Häcker zufolge entwickelt einer von 20 erwachsenen Betroffenen nach einer latenten Infektion auch eine aktive Tuberkulose. Das Progressionsrisiko ist allerdings nicht für alle Menschen gleich hoch. Es stellen sich also zwei Fragen: Wer muss auf eine latente Infektion hin untersucht werden? Und bei wem gilt es, eine latente Tuberkulose auch zu behandeln? Häckers Fazit: Es sei nicht sinnvoll, blind alle Menschen mit einem Test zu untersuchen, der nicht zwischen “latent Infizierten” und “Eliminierten” unterscheiden und auch keine Aussage darüber treffen könne, wie hoch das Progressionsrisiko ist. Stattdessen sollte man jene testen, die auch ein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben.
Welche Diagnostik ist bei Tuberkulose erforderlich? Welche Symptome treten bei extrapulmonalen Verlaufsformen auf? Wie lässt sich die Erkrankung resistenzgerecht behandeln? Antworten auf diese und weitere Fragen gibt das AMBOSS-Kapitel Tuberkulose. |
Drei Risikogruppen sollten gezielt auf eine latente Infektion gescreent werden
Grundsätzlich screent das Gesundheitsamt enge Kontaktpersonen von Menschen, bei denen eine aktive Tuberkulose festgestellt und per Meldepflicht erfasst wurde. Lässt sich eine Infektion nachweisen, wird auch eine präventive Therapie empfohlen. “Man weiß, dass eine frische Ansteckung mit einem höheren Progressionsrisiko verbunden ist”, so Häcker. Eine weitere Risikogruppe sind Patient:innen, die TNF-α-Inhibitoren oder andere Biologika einnehmen, die das Progressionsrisiko einer latenten Tuberkulose erhöhen können. Für einige Medikamente ist der Test vor Behandlungsstart vorgeschrieben: “Bevor man eine Therapie beginnt, sollte man eine latente Tuberkulose-Infektion ausschließen beziehungsweise, wenn man sie sieht, präventiv behandeln”, erläutert Häcker. Die dritte Gruppe sind Menschen mit einer HIV-Infektion. International gehe man davon aus, dass diese ein deutlich erhöhtes Risiko haben, eine Tuberkuloseprogression zu erleiden. “In der neuen Tuberkulose-Leitlinie haben wir uns entschieden, dies anders zu bewerten”, sagt Häcker, “weil in Niedriginzidenzländern oftmals eine gute immunologische Kontrolle vorherrscht.” Bei zusätzlichen Risikofaktoren oder der Erstdiagnose einer HIV-Infektion ist ein Tuberkulose-Test allerdings auch hierzulande empfohlen.
Leitsymptom Husten: Wann differenzialdiagnostisch an eine Tuberkulose zu denken ist
Um die Tuberkulose besser einschätzen zu können, ist es Otto-Knapp zufolge hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass Tuberkulose-Bakterien sehr langsam wachsen. Die Symptomatik tritt daher in der Regel erst verzögert auf. Besteht ein Husten länger als drei Wochen, sollten Behandelnde zumindest an Tuberkulose denken. Natürlich seien andere Differenzialdiagnosen in Deutschland momentan deutlich häufiger und zuerst abzuklären. “Aber irgendwo auf der Liste der Differenzialdiagnosen sollte auch die Tuberkulose mitbedacht werden”, so Otto-Knapp. Geht der Husten mit B-Symptomen wie Fieber, Nachtschweiß und Gewichtsverlust einher und kommen Risikofaktoren hinzu, erhärtet sich der Verdacht. Besonders zügig sollten Behandelnde an eine Tuberkulose denken, wenn Patient:innen aus Ländern mit hohen Inzidenzen wie Indien, Indonesien, China, aber auch einigen osteuropäischen Ländern kommen: “Wenn dort jemand mit unspezifischen Beschwerden und länger andauerndem Husten zum Arzt geht, dann denkt man als Erstes an die Tuberkulose. Das muss man auch hier in die Praxis übertragen.”
Extrapulmonale TBC: Lymphknoten exstirpiert? Mykobakteriologie nicht vergessen!
Die extrapulmonale Tuberkulose betrifft meist Personen mit unreifem oder gestörtem Immunsystem: kleine Kinder, Menschen mit HIV-Infektion oder immunsupprimierte Personen. Pleura und supraklavikuläre Lymphknoten sind dabei häufig betroffen. Wer einen verdächtigen Lymphknoten entfernt, sollte nicht das gesamte Material zur Lymphomdiagnostik in Formalin konservieren, sondern einen Teil nativ in die Mykobakteriologie schicken. Knochen, Abdomen, Meningen: Die extrathorakale Tuberkulose hat zahlreiche weitere Manifestationsorte. Oft komme man erst darauf, weil andere Diagnosen oder pathologische Befunde nicht passen, so Brit Häcker. Als Beispiel nennt sie eine Peritonitis carcinomatosa, die sich plötzlich als epitheloidzellige Granulome entpuppt. “So etwas ist gar nicht so selten”, sagt Häcker. Das Wichtigste sei deshalb, überhaupt daran zu denken und gerade bei Risikogruppen besonders aufmerksam zu sein: “Bei Menschen, die aus Ländern kommen, wo Tuberkulose häufig ist, sind manchmal andere Organsysteme betroffen.”
Gemeinsam gegen Resistenzen: Tuberkulose-Erreger möglichst direkt nachweisen
Zwar ist der direkte Erregernachweis ein Grundprinzip der infektiologischen Diagnostik. Da Tuberkulosebakterien sich jedoch manchmal schwer nachweisen lassen, sind Patient:innen in der Vergangenheit häufig auch ohne direkten Erregernachweis behandelt worden. Die neue Leitlinie fordert nun eine invasivere Diagnostik: Ist der Erreger im Sputum nicht zu finden, sollte in einer Lungenlavage oder anderen Materialien nach ihm gesucht werden. Der Grund: Nur die Mykobakterien selbst geben Aufschluss darüber, auf welche Antibiotika sie ansprechen. “Wir wollen den Erreger haben, um keine Resistenzen zu übersehen”, erklärt Ralf Otto-Knapp. Ohne Erregernachweis könne es vorkommen, dass eine Tuberkulose mit den üblichen Standardmedikamenten behandelt wird, ohne dass ihre Resistenzen detektiert wurden. “Dann schlägt die Behandlung natürlich nicht an – und im schlechtesten Fall produzieren wir noch mehr Resistenzen.”
Dabei ist auch die Therapie der nicht-resistenten Tuberkulose bereits sehr aufwändig: Betroffene müssen über mindestens sechs Monate eine Kombination mehrerer nebenwirkungsreicher Antibiotika einnehmen. “Und es gibt leider immer noch keinen Impfstoff”, sagt Ralf Otto-Knapp, “das ist natürlich etwas, das viel Geld kostet und viele Ressourcen – die im Moment leider nicht in die Tuberkuloseversorgung gesteckt werden.”
Fazit
Dass die Tuberkulose nur wenig Aufmerksamkeit erhält, könnte auch mit der Stigmatisierung von Erkrankten zu tun haben: Selbst viele Fachkräfte verbinden mit Tuberkulose vor allem Armut, Sucht und HIV – mit Faktenwissen ließe sich der Marginalisierung Betroffener entgegentreten und zur Verbesserung von Versorgung und Forschungslage beitragen.
Dr. med. Brit Häcker und Dr. med. Ralf Otto-Knapp sind ärztliche Mitarbeitende beim Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose in Berlin.
Die Podcastfolge "Tuberkulose" mit Dr. med. Brit Häcker und Dr. med. Ralf Otto-Knapp: