Digitale Gewalt: 'Niedergelassene können sich schwerer schützen'

Britta Verlinden - Freitag, 9.9.2022
Eine Ärztin sitzt in ihrer Praxis vor dem Computer und hält sich die Augen zu. Schutz vor digitaler Gewalt im AMBOSS-Blog.

Am 10. September ist Welttag der Suizidprävention – ein Anlass, um auch über Hass im Netz und digitale Gewalt zu reden. HateAid-Juristin Josephine Ballon erklärt im Interview, wie Menschen in Gesundheitsberufen damit umgehen können.

– Triggerwarnung: Suizid, Gewalt –
 

AMBOSS-Blog: Im Sommer hat sich die österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr das Leben genommen, nachdem sie im Internet mit Hass und Drohungen überflutet wurde. HateAid ist eine Beratungsstelle für Betroffene von digitaler Gewalt. Was ist digitale Gewalt?

Josephine Ballon: Wir arbeiten bewusst mit diesem Begriff. Digitale Gewalt ist viel mehr als der Hasskommentar in sozialen Netzwerken. Digitale Gewalt verübt auch, wer Bilder manipuliert und zweckentfremdet oder im Netz Lügen über jemanden verbreitet. Auch die Morddrohung per E-Mail ist digitale Gewalt oder die Veröffentlichung persönlicher Daten – der Privatadresse, der Telefonnummer, der Schule der Kinder. Das Internet ist sehr innovativ. Dort entstehen immer neue Formen, Menschen herabzuwürdigen und mundtot zu machen. 

Akute Suizidalität ist ein Notfall, mit dem sich Ärzt:innen aller Fachrichtungen konfrontiert sehen können. Welche Fragen gehören zur Suizidanamnese – und wie geht man praktisch vor, wenn sich der Verdacht auf Suizidalität erhärtet? Antworten gibt unser Kapitel zur Suizidalität.

ZUM AMBOSS-KAPITEL


AMBOSS:
Welche Hilfe erhalten Betroffene bei HateAid?

Ballon: Alle Menschen, die digitale Gewalt erlebt haben, können sich an uns wenden. Als Erstes bieten wir eine psychosoziale Beratung an. Wir beraten aber auch zu Sicherheitsfragen: Wie bewege ich mich sicher im Netz? Wie verhindere ich, dass persönliche Informationen in die falschen Hände gelangen? Zudem finanzieren wir Prozesskosten. Damit ermöglichen wir den Betroffenen, sich ohne eigenes Kostenrisiko gegen die Täter:innen oder gegen Onlineplattformen zu wehren. Wir helfen aber nicht nur Einzelnen, sondern wollen auch die Rahmenbedingungen verbessern, um Hilfe niedrigschwellig zugänglich zu machen. Daher machen wir auch Lobbyarbeit, um für digitale Gewalt und die Belange von Betroffenen zu sensibilisieren. Leider ist es für die Justiz- und Strafverfolgungsbehörden, die immer noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen sind, teilweise schon eine Herausforderung, überhaupt anzuerkennen, dass es sich hier um echte Straftaten handelt.

AMBOSS: Wer wendet sich an euch? 

Ballon: In den drei Jahren, seit es HateAid jetzt gibt, haben sich vor allem Menschen gemeldet, die marginalisierten Gruppen angehören und auch im analogen Leben schon Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Aber es wenden sich auch immer mehr Leute an uns, die sich im Internet zu gesellschaftlich relevanten Themen äußern: Aktivist:innen, Journalist:innen, Politiker:innen. Mittlerweile ist es eigentlich völlig egal, ob es um Feminismus geht oder um den Schutz der Bienen – im Internet kann jeder Mensch zur Zielscheibe werden.

AMBOSS: Auch medizinische Fachkräfte…

Ballon: Ja, das hat mit der Pandemie deutlich zugenommen. Wir versuchen, Menschen in Gesundheitsberufen auch gezielt anzusprechen. In unserem Podcast “Über Hassreden” war zum Beispiel auch die Virologin Melanie Brinkmann zu Gast. Viele der Ärzt:innen und Pflegenden, die sich bei uns melden, befassen sich mit COVID-19 oder haben die Impfungen befürwortet.

AMBOSS: Mit welchen Problemen wenden sich Ärzt:innen an HateAid? 

Ballon: Oft geht es um Beleidigungen oder Bedrohungen. Aber auch Verleumdungen kommen vor, zum Beispiel, wenn jemand Lügen darüber verbreitet, was Ärzt:innen angeblich in ihrer Praxis tun. Das passiert in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke oder über Privatnachrichten und E-Mails. Gerade Niedergelassene haben ja keine Wahl: Sie müssen natürlich erreichbar sein. Da bleibt es nicht aus, dass Drohanrufe in der Praxis eingehen. 

AMBOSS: …das ist dann nicht mehr digital. 

Ballon: Aber es hängt natürlich mit der Mobilisierung im Netz zusammen. Insbesondere die Querdenken-Bewegung und Impfgegner:innen mobilisieren sich oft über Telegram. Telegram gilt mittlerweile als Vermittlungsmedium zwischen kleineren radikalen Splitter-Plattformen und den großen Mainstream-Netzwerken, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichen. Hier zeigt sich auch die politische Dimension digitaler Gewalt: Spätestens seit der sogenannten “Flüchtlingskrise” 2015 haben rechte und rechtsextreme Gruppierungen das Internet und die sozialen Netzwerke für sich entdeckt. Im Jahr 2019 hat das Bundeskriminalamt 73 Prozent der politisch motivierten Hasspostings diesem Spektrum zugeordnet. Heute bedienen diese Gruppierungen eine große Bandbreite an Themen, sodass die Einordnung nicht mehr so leicht gelingt. Da stehen eben keine eindeutig rechtsextremen Parolen mehr, sondern es geht um Impfungen oder um Pandemie-Maßnahmen. Für COVID-19-motivierte Hasspostings hat das Bundeskriminalamt schon im Jahr 2020 eine eigene Kategorie im Bereich der politisch motivierten Kriminalität geschaffen – weil es nicht wusste, wohin damit. 

AMBOSS: Angenommen, ich bin auf Twitter bedroht worden, etwa weil ich in meiner Kinderarztpraxis gegen COVID-19 impfe. Wie kann mir HateAid jetzt helfen?

Ballon: Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass es sich um eine Gewalterfahrung handelt. Das Recht gilt im Internet wie auf der Straße! Über 60 Prozent der Internetnutzer:innen haben schon digitale Gewalt bemerkt; ein Drittel der Gesamtbevölkerung und die Hälfte der jungen Erwachsenen waren sogar selbst betroffen. Und leider erleben wir immer mehr Menschen, die sich daran gewöhnt haben. Also sagen sich nicht nur die Täter:innen: “Uns passiert ja eh nichts”, sondern auch die Betroffenen denken: “Das kann keine Straftat sein, das erlebe ich doch jeden Tag...” 

AMBOSS: Ihr helft also bei der Einordnung und bestärkt die Menschen in ihrer Entscheidung, sich Hilfe zu suchen. 

Ballon: Genau, denn digitale Gewalt ist für alle Betroffenen emotional belastend, egal ob sie in der Öffentlichkeit stehen oder nicht. In unserer Beratung können wir dabei helfen, einen individuellen Umgang mit der Situation zu finden. Es ist eine beliebte Taktik, sich persönlicher Informationen zu bedienen, um Menschen im Netz ganz gezielt mundtot zu machen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich als dumm und hässlich beschimpft werde oder ob mir jemand schreibt: “Ich weiß, wo deine Kinder zur Schule gehen.” Gerade für Menschen, die sich häufig öffentlich äußern, stellt sich die Frage: Wie gehe ich damit um? Ignoriere ich das? Moderiere ich es weg? Oder übe ich mich in Gegenrede? Das ist sehr individuell. 

AMBOSS: Du sagtest vorhin, dass ihr auch juristische Unterstützung anbietet. Wie läuft das ab?

Ballon: Wir raten dazu, Kommentare und Nachrichten anzuzeigen, die die Schwelle zum Strafbaren möglicherweise überschritten haben. Es ist wichtig, dass diese Fälle in den Akten der Strafverfolgungsbehörden landen. Dabei ist es übrigens nicht die Aufgabe der Betroffenen, zu entscheiden, ob es sich um Straftaten handelt oder nicht! Wer das Gefühl hat, es könnte eine Straftat sein, sollte sie anzeigen. Ohne Anzeige kann keine Strafverfolgung stattfinden. Wer anzeigt, hat wenigstens eine kleine Chance, dass etwas passiert. Dabei ist es auch wichtig, die Beweise vernünftig zu sichern. 

AMBOSS: Wie mache ich das? 

Ballon: Man braucht verwertbare Screenshots, die ausreichend Details enthalten, etwa das Datum und die Uhrzeit – sowohl des Posts als auch der Bildschirmaufnahme. Dabei können wir auch helfen, denn das ist nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern potenziell auch retraumatisierend. Rechtsdurchsetzung ist uns insgesamt ein wichtiges Anliegen. Wir unterstützen Betroffene nicht nur bei Strafanzeigen, sondern auch dabei, zivilrechtlich gegen Täter:innen vorzugehen. Da geht es zum Beispiel darum, Unterlassungstitel oder einstweilige Verfügungen vor Gericht zu erwirken. Dafür kooperieren wir auch mit Anwaltskanzleien. 

AMBOSS: Was würde das im konkreten Fall einer Praxis bedeuten? 

Ballon: Wer im Internet von jemandem beleidigt, bedroht oder diffamiert wird, kann sich mit rechtlichen Mitteln ziemlich effektiv dagegen wehren. Voraussetzung ist, dass sich die Person identifizieren lässt. So ein Gerichtsverfahren bedeutet natürlich Aufwand, aber am Ende lässt sich eine Unterlassungserklärung erwirken. Das heißt, die Person darf nicht mehr wiederholen und muss überall löschen, was sie verbreitet hat. Verstöße können zudem mit einer erheblichen Geldstrafe geahndet werden.

AMBOSS: Und wenn es sich um Straftaten handelt und ich Sorge habe, dass einer virtuellen Drohung eine Tat im echten Leben folgen könnte?

Ballon: Wichtig ist auch hier, Anzeige zu erstatten und bei der Polizei darauf zu bestehen, ernst genommen zu werden. Beratungsstellen können dabei helfen und noch mehr Druck machen. Leider hat längst nicht jede Polizeidienststelle in Deutschland verstanden, dass das, was im Netz passiert, nicht im Netz bleibt. Deshalb: genau beobachten, Beweise sichern, Anzeigen stellen, damit man die Gefahrenlage nachweisen kann. Allerdings ist es für Niedergelassene natürlich schwerer, sich zu schützen – schließlich kann man einer Praxisinhaberin ja nicht sagen, sie solle einfach die Adresse aus dem Internet nehmen.

AMBOSS: Das leuchtet ein. Wenn wir schon nicht die Praxisadresse aus dem Internet entfernen können, wie sollten wir denn mit persönlichen Daten umgehen?

Ballon: Viele Menschen unterschätzen den Schutz privater Daten noch immer. Mein vollständiges Geburtsdatum hat nichts in den sozialen Medien zu suchen. Die Schule der Kinder, das Fitnessstudio, in dem ich alle paar Tage bin: Diese Informationen gehören nicht ins Internet. Auch für Ärzt:innen empfiehlt sich ein Privatsphäre-Check: Den eigenen Namen in die Suchmaschine eingeben und mindestens bis zur fünften Ergebnisseite durchklicken, ob irgendwo die private Adresse oder Telefonnummer auftauchen – oder vielleicht Angaben über die Kinder, die da nichts zu suchen haben. Wer derartige Informationen entfernen lassen will, kann bei der Website oder, wenn die Website nicht erreichbar ist, zumindest bei Google einen Löschantrag stellen. Eine sinnvolle Maßnahme könnte auch eine Melderegistersperre sein. In Deutschland ist es ganz einfach, sich die Privatadresse einer Person zu besorgen – man braucht dafür nur ihren vollständigen Namen und ihr Geburtsdatum. Wer befürchtet, angefeindet zu werden, und nicht möchte, dass Fremde die Privatadresse über das Einwohnermeldeamt in Erfahrung bringen können, kann eine Melderegistersperre beantragen.

AMBOSS: Gibt es noch etwas, das du unseren ärztlichen Leser:innen mit auf den Weg geben möchtest?

Ballon: Ja, zwei Gedanken. Erstens: Was uns im Internet angreift, sind erstmal nur Profile. Es ist seit Jahren gang und gäbe, sich Fake-Profile anzulegen. Die Täter:innen tun das absichtlich, um wie eine größere Gruppe zu wirken. Wenn sich fünf Leute jeweils 50 Profile anlegen, sind das schon 250 Kommentare, obwohl nur ein Bruchteil an Menschen dahinter steht. Zweitens: Es geht fast nie um das Opfer als Person, sondern meistens darum, ein Exempel zu statuieren. Das hat wiederum eine Wirkung auf andere, um diese eben auch mundtot zu machen. Es hilft, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen: Da hat sich nicht die ganze Welt gegen dich verschworen, das sind strategische Kräfte, die da am Werk sind. Auch wenn es dich natürlich persönlich trifft – es geht nicht um dich als Person. 

 

Josephine Ballon ist Head of Legal der HateAid gGmbH, die 2018 von den Nichtregierungsorganisationen Campact und Fearless Democracy ins Leben gerufen wurde. Als gemeinnützige Organisation finanziert sich HateAid über Fördergelder und Spenden.