Gleichberechtigte Verhütung: Kommt die “Pille für den Mann”?

Gastautorin: Pia Sophie Schüler - Sonntag, 8.1.2023
Pille, Kondom, Spritze als mögliche Verhütungsmittel. Zeugungsverhütung im AMBOSS-Blog.

Mehr als die Hälfte der Männer möchte mehr Verantwortung bei der Verhütung übernehmen. Welche Verhütungsmittel könnten ihnen künftig zur Verfügung stehen?

Antibabypille, Spirale, Diaphragma: Zur Empfängnisverhütung sind derzeit fast 20 verschiedene Methoden auf dem Markt. Für die “männliche” Zeugungsverhütung gibt es lediglich zwei: Kondom und Vasektomie. Welche neuen Ansätze sind Gegenstand der Forschung? Warum stockt die Entwicklung einer “Pille für den Mann” und anderer Verhütungsmethoden für spermienproduzierende Menschen? Was muss sich ändern, damit mehr Innovation möglich wird? Diesen Fragen widmete sich der “Heile Welt”-Podcast im Interview mit der Pharmazeutin Dr. Katharina Holl.

--- Dieses Interview wurde im November 2021 als "Heile Welt"-Podcast veröffentlicht. Paulina Schimmelfennig hat es für den AMBOSS-Blog transkribiert und gekürzt. — 

Auf einen Blick

  1. Status quo – wie Männer verhüten können
  2. Pearl Index, Handhabung, Kosten: Was ein Verhütungsmittel können sollte
  3. Wie sieht hormonelle Verhütung für Männer aus?
  4. Nebenwirkungen der “männlichen” Verhütung
  5. “Männliche” Verhütung ohne Hormone
  6. Woran scheitert die Entwicklung “männlicher” Verhütungsmethoden?
  7. Wie die Politik die Forschung fördern könnte
  8. Fazit: Wann kommt die “Pille für den Mann”?

Status quo – wie Männer verhüten können

Heile Welt: Welche Möglichkeiten der Verhütung haben sexuell aktive Männer beziehungsweise spermienproduzierende Menschen? 

Dr. Katharina Holl: Eigentlich verhindern nur zwei grundlegende Methoden, dass Spermien in den Genitaltrakt der Frau gelangen. Zum einen das Kondom – das ist weitverbreitet und bisher das einzige Verhütungsmittel, das auch Geschlechtskrankheiten vorbeugen kann. Zum anderen gibt es die Vasektomie, also die Durchtrennung der Samenleiter. Sie kommt nur für relativ wenige Männer infrage, weil es eine mehr oder weniger endgültige Methode ist. 

Heile Welt: Von den sehr einfach zugänglichen Kondomen bis zum operativen Eingriff – dazwischen kommt nicht so viel. Sind diese zwei Verhütungsmittel “den Männern” denn genug?

Holl: Einer internationalen Umfrage zufolge gibt es durchaus einen Bedarf an mehr Verhütungsmitteln für Männer. Mehr als die Hälfte der Befragten würde bei der Verhütung gerne mehr Verantwortung übernehmen. 

Die bisher gängigen Methoden der Zeugungsverhütung und weitere Möglichkeiten der nicht-hormonellen Verhütung finden sich in unserem AMBOSS-Kapitel.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

Pearl Index, Handhabung, Kosten: Was ein Verhütungsmittel können sollte

Heile Welt: Welche Anforderungen müssen erfüllt werden, wenn Pharmaunternehmen oder Forschende ein neues Verhütungsmittel entwickeln möchten? 

Holl: Das ideale Verhütungsmittel wird es wahrscheinlich nie geben, aber es gibt essenzielle Kriterien. Da ist zum einen natürlich die kontrazeptive Sicherheit: Es wird immer ein möglichst niedriger Pearl Index angestrebt. Zum anderen ist eine einfache Handhabung wichtig. Je komplizierter ein Arzneimittel anzuwenden ist, desto eher resultieren auch Anwendungsfehler. Außerdem sollten wenige oder keine Nebenwirkungen auftreten. Schon sehr geringe Nebenwirkungen können Anwender:innen abschrecken, weil sie keinen Leidensdruck durch eine Krankheit haben, sondern Verhütung eher als eine Lifestyle-Entscheidung betrachten. Darüber hinaus ist entscheidend, dass die Kontrazeptionsmethode reversibel ist. Wenn wir von einer pharmakologischen Option ausgehen, sollte sie möglichst wenig mit anderen Arzneimitteln oder auch Nahrungsmitteln interagieren. Bei der “Antibabypille” kommen Interaktionen ja relativ häufig vor, beispielsweise mit manchen Antiepileptika. Zudem sollte die Wirkung möglichst schnell eintreten. Kaum jemand möchte erst einmal drei Monate eine Methode anwenden, bevor sie überhaupt wirkt. Gerade in Ländern des Globalen Südens, die einen hohen Bedarf an Kontrazeptionsmethoden haben, sind auch die Kosten ein wichtiger Faktor. 

Wie sieht hormonelle Verhütung für Männer aus?

Heile Welt: Welche Ansatzpunkte für Verhütungsmethoden für spermienproduzierende Menschen werden denn gerade erforscht? 

Holl: Die bisher vorhandenen Methoden verhindern lediglich, dass Spermien in die Frau gelangen. Es wäre natürlich gut, wenn sich schon die Produktion der Spermien unterdrücken ließe oder zumindest verhindert würde, dass sie in das Ejakulat gelangen. Zur Erinnerung: Für die Spermienproduktion muss im Hoden eine gewisse Testosteronkonzentration vorhanden sein. Die Testosteronausschüttung wird über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse kontrolliert. Durch einen negativen Feedback-Mechanismus wird die Produktion der vorgeschalteten Hormone unterdrückt, wenn zu viel Testosteron vorhanden ist. Deswegen ist es durch eine Depot-Injektion von Testosteron theoretisch möglich, die körpereigene Testosteronproduktion zu unterdrücken. Dadurch ist im Hoden zu wenig davon vorhanden, um ausreichend Spermien zu produzieren. Allerdings ist dann in der Peripherie, also außerhalb des Hodens, die Konzentration viel zu hoch. Das führt zu typischen Nebenwirkungen, wie man sie auch vom Doping bei Sportler:innen kennt: Akne, einer Abnahme des HDL-Cholesterols oder auch negativen Auswirkungen auf die Prostata. Deswegen würde man dieses Verfahren nicht einsetzen. Aber auf diesem Prinzip basieren Methoden, die schon etwas vielversprechender sind. Dem Testosteron vorgeschaltet ist das GnRH, das Gonadotropin-releasing-Hormon. Dessen Rezeptoren lassen sich blockieren beziehungsweise lässt sich seine Freisetzung hemmen – ganz ähnlich, wie das auch bei der “Antibabypille” für die Frau funktioniert. Dafür können, genau wie bei der Frau, synthetische Gestagene eingesetzt werden. Als Resultat kommt zu wenig Testosteron für die Spermienproduktion im Hoden an. Um den Testosteronmangel in der Peripherie auszugleichen, wird zusätzlichTestosteron substituiert. 

Heile Welt: Ist die Wirksamkeit denn vergleichbar mit der “weiblichen” Antibabypille?

Holl: Ja, die ist vergleichbar. Die Konzentration der befruchtungsfähigen Spermien sinkt auf unter 100.000 pro Milliliter Ejakulat. Normalerweise sind es 20 bis 120 Millionen Spermien; die Fruchtbarkeit ist schon ab 15 Millionen deutlich eingeschränkt.

Nebenwirkungen der “männlichen” Verhütung

Heile Welt: Woran ist es trotz der guten Wirksamkeit bis jetzt gescheitert, ein Verhütungsmittel für “den Mann” zu etablieren, das sich genauso wie bei “der Frau” den negativen Feedbackmechanismus des hormonellen Regelkreislaufs zu Nutzen macht? 

Holl: Vielleicht hat der eine oder die andere schon mal von der WHO-Studie gehört, die von 2009 bis 2011 unter anderem auch in Deutschland durchgeführt wurde. Bei etwa zehn Prozent der Männer traten relativ milde Nebenwirkungen auf, die denen der Antibabypille gleichen. Viele Frauen erfahren Ähnliches auch im Rahmen ihres normalen Menstruationszyklus: leichte Stimmungsschwankungen, leichte Akne, eine Veränderung der Libido. Solche Nebenwirkungen würde man auch in Placebogruppen erwarten. Jedoch ließ sich nicht nachweisen, dass diese Phänomene auf den Placeboeffekt zurückzuführen waren, weil aus ethischen Gründen bei dieser Art von Studien keine Placebokontrolle durchführbar ist.

Heile Welt: Warum gibt es keine Placebokontrollgruppe? 

Holl: Bei der klinischen Testung von Kontrazeptiva ist eine Placebokontrolle nicht möglich, weil damit ungewollte Schwangerschaften riskiert würden, was natürlich ethisch nicht vertretbar ist. Das ist bei den “weiblichen” Verhütungsmethoden genauso. Weil es allerdings schon viele vergleichbare Verhütungsmethoden gibt, wird dann gegen ein Standardverhütungsmittel geprüft. 

Heile Welt: Wie haben die Probanden in der WHO-Studie denn die Nebenwirkungen beurteilt?

Holl: Im Rahmen dieser Studie wurde auch eine Befragung der Probanden durchgeführt. Trotz der aufgetretenen Nebenwirkungen gaben 80 Prozent der Männer an, diese Methode weiterhin in Betracht zu ziehen, wenn sie kommerziell verfügbar wäre. Es scheint also weder an der Wirksamkeit noch an der Akzeptanz gehapert zu haben.

Heile Welt: Laufen aktuell vergleichbare Studien, die genau diesen Wirkmechanismus nochmals aufgreifen und verbessern?

Holl: Ja, es gibt eine gewisse Weiterentwicklung, allerdings meines Wissens nach nichts, was kurz vor dem Durchbruch steht. Ein Wirkstoff – das Nestoron, ein synthetisches Gestagen befindet sich momentan in der klinischen Phase IIb. Es wirkt dual: Einerseits hemmt es die GnRH-Freisetzung und andererseits die lokale Testosteronwirkung im Hoden, weswegen es noch weniger Nebenwirkungen verursachen soll.

“Männliche” Verhütung ohne Hormone

Heile Welt: Welche medizinischen Ansatzpunkte gibt es noch? 

Holl: Man kann selektiv die androgenen Rezeptoren blockieren, also die Rezeptoren, an die das Testosteron bindet. Diese selektiven Androgen-Rezeptor-Modulatoren sollen auch oral bioverfügbar sein. Bei allem, was ich vorher genannt habe, kann man nicht wirklich von der "Pille für den Mann" sprechen, da diese Wirkstoffe parenteral verabreicht werden müssen. Darüber hinaus gibt es nicht-hormonelle Methoden, die aber größtenteils noch nicht über den Tierversuch hinausgekommen sind. Diese Ansätze hemmen die Motilität der Spermien, sodass eine Befruchtung nicht mehr möglich ist. Zum einen werden dabei Retinsäure-Inhibitoren, zum anderen wird auch die kombinierte Blockade von P2X1- und α1-Rezeptoren erprobt. Schon seit längerer Zeit gibt es außerdem ein Verfahren zum reversiblen Verschluss der Samenleiter. Dazu wird ein Polymer-Gel injiziert, das sich mit einem Lösungsmittel wieder auflösen lässt. Die Daten dazu sind schon mindestens zehn Jahre alt. Die entsprechende Studie hatte zwar keine große Probandenzahl, hat aber zumindest gezeigt, dass das Prinzip funktionieren kann. Warum die Forschung dazu nicht weitergegangen ist, lässt sich als nicht-involvierte Person nicht sagen. Insgesamt ist das Problem auch, dass die wenigen vorhandenen Studien von öffentlichen Trägern wie der WHO finanziert werden. Es macht den Eindruck, dass die Industrie das nicht vorantreibt.

Woran scheitert die Entwicklung “männlicher” Verhütungsmethoden?

Heile Welt: Es gibt offensichtlich verschiedene Ansätze, der richtige Druck scheint jedoch nicht dahinter zu sein. Warum ist das so? 

Holl: Es ist schwierig zu sagen, woran es konkret hakt. Es werden zwar nach wie vor neue Verhütungsmethoden oder Weiterentwicklungen der Pille für Frauen entwickelt, aber der Markt für Männer scheint mit Unsicherheit behaftet zu sein. 

Heile Welt: Ist beispielsweise das bereits erwähnte Polymer-Gel aus finanzieller Sicht nicht so attraktiv, weil es sich um eine ein- oder zweimalige Injektion handelt, die über einen relativ langen Zeitraum wirksam ist?

Holl: Ja, genau. Das ist sicherlich bei solchen Methoden das Problem. Ein Medikament, das dauerhaft und am besten noch täglich verabreicht werden muss, verspricht natürlich in Summe höhere Gewinne.

Heile Welt: Allerdings gab es ja auch die bereits erwähnte WHO-Studie, die aus öffentlicher Hand finanziert wurde. Wieso geht es da nicht weiter? 

Holl: Ich nehme an, dass für diese groß angelegte Studie relativ viele Mittel benötigt wurden, die Kosten also sehr hoch sind. Dann scheitert es vielleicht auch an den "lessons learned", also dem, was man beim nächsten Mal anders machen könnte. Die Kriterien müssten so definiert werden, dass nicht wegen verhältnismäßig marginaler Nebenwirkungen eine Studie abgebrochen werden muss. Es gibt von den großen regulatorischen Behörden, beispielsweise der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA, eine Guideline zur klinischen Prüfung von hormonellen Kontrazeptiva für Frauen. Für Männer gibt es so etwas nicht. 

Heile Welt: Wieso könnte man die Zulassungskriterien beziehungsweise den “Nebenwirkungskatalog” nicht einfach übertragen, wenn sie doch für die “weibliche” Pille konkret ausgehandelt vorliegen? 

Holl: Ich denke, dass unterschiedliche Maßstäbe zugrunde gelegt werden. Bei Frauen werden mehr Nebenwirkungen akzeptiert, weil die Alternative eine Schwangerschaft wäre, die große Auswirkungen auf den Körper, die Psyche und die ganze Biografie hat. Bei Männern wird das wahrscheinlich nicht so gesehen. 

Wie die Politik die Forschung fördern könnte

Heile Welt: Was wäre denn hilfreich, um ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen?

Holl: Die pharmazeutische Industrie ist immer noch der beste Innovationstreiber, im Zusammenspiel mit der universitären Forschung. Da sollten auch finanzielle Anreize gesetzt werden. Beispielsweise sollte die Erstattungsfähigkeit geklärt sein. Wenn etwas erstattet wird, gibt es quasi automatisch einen gewissen Absatz. Allerdings stelle ich es mir relativ schwierig vor, dass ein Verhütungsmittel für Männer in Deutschland erstattet wird. Ein weiterer Anreiz wäre, Studien einfacher zu genehmigen. Das heißt natürlich nicht, dass die Kriterien bezüglich Sicherheit gesenkt werden dürfen, sondern dass zum Beispiel die Genehmigungszeiten schneller und die Verfahren einfacher werden. Wir haben bei den Studien zu COVID-19 gesehen, dass dies möglich ist. Wenn die Entwicklungszeit heruntergesetzt wird, dann hat das einen enormen finanziellen Impact. Die meisten Firmen nutzen im Vorfeld von Studien ein Beratungsverfahren bei den Zulassungsbehörden. Für seltene Krankheiten werden diese Verfahren unabhängig vom Umsatz der Firma vergünstigt oder sogar kostenlos angeboten; das könnte auch hier helfen. 

Heile Welt: Würden Sie fordern, dass mehr staatlich subventioniert wird? 

Holl: Ja, das kann sicherlich nicht schaden. Ich würde sagen, man müsste mehrgleisig fahren: Die Industrie wieder ins Boot holen, so wie es auch bei der Antibiotikaforschung angestrebt wird, und parallel auch von der öffentlichen Hand geförderte Studien durchführen. Es gibt auch außerhalb der industriellen Entwicklung in der universitären Forschung Ansätze. Alle Entwicklungen der letzten Zeit kommen aus diesem Bereich. Es ist grundsätzlich gut, dass die öffentliche Hand Anstrengungen unternimmt. Ich habe aber den Eindruck, dass das Thema in den Ländern des Globalen Nordens nicht besonders weit oben auf der Agenda steht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir die Geburtenrate eher erhöhen als senken wollen. Geldgeber sind ja eher internationale Organisationen wie die WHO, die auch die Länder des Globalen Südens im Blick haben.

Fazit: Wann kommt die “Pille für den Mann”?

Heile Welt: Wie realistisch ist es, dass in den nächsten Monaten, Jahren, Dekaden ein “männliches” Verhütungsmittel neben Kondom und Vasektomie auf den Markt kommt? 

Holl: Ich denke, innerhalb von Dekaden ist das schon realistisch. Irgendwann wird es einen Durchbruch geben, weil gesellschaftlich immer mehr Umdenken stattfinden wird. Ich halte es innerhalb der nächsten Monate oder Jahre hingegen nicht für realistisch, weil keine Studien laufen, die eine Zulassung zum Ziel haben. An der Wirksamkeit und Verträglichkeit hapert es nicht, aber es steht trotzdem kein “männliches” Verhütungsmittel unmittelbar vor der Tür. Leider.

heile_welt_logo Heile Welt ist ein Podcast zu medizinischen Themen mit politischen und ethischen Schnittpunkten. Dr. Katharina Holl ist Pharmazeutin und Fachapothekerin für Arzneimittelinformation und arbeitet im Bereich der Arzneimittelzulassung in der pharmazeutischen Industrie. Wer das ganze Interview hören möchte, findet es auf den gängigen Podcast-Plattformen.