Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit
Kurativ oder palliativ? Vor dieser Frage stehen Eltern sehr kleiner Frühgeborener. Wie Ärzt:innen ihnen helfen können, erklärt Prof. Bührer.
Jedes Jahr kommen in Deutschland circa 60.000 Kinder zu früh auf die Welt. Der Welt-Frühgeborenen-Tag am 17. November möchte auf diese besonders vulnerablen Patient:innen und ihre Familien aufmerksam machen. Im Interview mit dem AMBOSS-Blog spricht der Klinikdirektor der Neonatologie der Charité über die Prognose von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit, gibt Tipps zur Gesprächsführung und beschreibt, wie die Sterbebegleitung in diesen Fällen aussehen kann.
Auf einen Blick
- Medizinische Prognose sehr kleiner Frühgeborener
- Welche Faktoren beeinflussen den Verlauf bei Frühgeborenen?
- Die Grauzone: ein gesellschaftlicher Konsens
- Kurativ oder palliativ: Wer entscheidet?
- Tipps für die Gesprächsführung
- Individuell auf Eltern von Frühgeborenen eingehen
- Sterbebegleitung bei Frühgeborenen
AMBOSS-Blog: Was kennzeichnet Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit und wo liegt diese Grenze heutzutage?
Prof. Christoph Bührer: Wir sprechen hier über Frühgeborene, die ohne medizinische Intervention sterben würden. Dass diese Kinder überleben, ist also ein Artefakt der modernen Medizin. Mit abnehmendem Gestationsalter überleben allerdings immer weniger Kinder und das Risiko für bleibende Schäden steigt. Die Rate der verstorbenen beziehungsweise schwerbehinderten Kinder steigt ab einem gewissen Punkt so weit an, dass eine intensivmedizinische Therapie in Frage zu stellen ist. Es gibt eine Grauzone, innerhalb derer sowohl ein kuratives als auch ein palliatives Vorgehen als gleichwertig erachtet wird. Sie liegt in Deutschland bei 22+0 bis 23+6 Schwangerschaftswochen, gerechnet ab dem ersten Tag der letzten Regel der Schwangeren. Haben die Kinder ein Geburtsgewicht unter 400 Gramm, verlängert sich die Grauzone bis zu einem Gestationsalter von 24+6 Schwangerschaftswochen.
Medizinische Prognose sehr kleiner Frühgeborener
AMBOSS: Wie ist die Prognose dieser sehr kleinen Frühgeborenen? Wie viele von ihnen überleben?
Bührer: Das Risiko zu sterben verringert sich mit jedem weiteren Tag der Schwangerschaft und die Überlebensrate steigt innerhalb weniger Wochen sehr stark an. Da es sich um wenige Fälle handelt, besteht eine große Unschärfe in der Vorhersagekraft. Wenn die Umstände stimmen, überlebt knapp die Hälfte der 22 Wochen alten Babys, die man aktiv zu retten versucht. Bei 23 Wochen alten Kindern sind es rund zwei Drittel, nach 24 Wochen bereits 80 bis 90 %.
AMBOSS: Wie viele dieser Kinder tragen schwere Einschränkungen davon?
Bührer: Das kommt auf die Definition einer “schweren” Einschränkung an. Sind das eine Standardabweichung, zwei Standardabweichungen, drei Standardabweichungen unter dem Mittel einer Referenzpopulation? Je nach Betrachtungsweise sind die Zahlen sehr unterschiedlich. Es gibt jedoch auch Kinder, die später einen normalen IQ haben und körperlich nicht beeinträchtigt sind.
AMBOSS: Neben einer Intelligenzminderung kommen auch andere Entwicklungsstörungen wie Autismus-Spektrum-Störungen bei ehemaligen Frühgeborenen häufiger vor. Wie groß ist dieses Risiko?
Bührer: Auch hier kommt es auf die Ausprägung an: Einige haben autistische Wesenszüge und andere erfüllen alle klinischen Kriterien eines Autismus. Dazwischen besteht ein fließender Übergang. Etwa 10 % haben autistische Wesenszüge. Allerdings können ehemalige sehr kleine Frühgeborene damit verbundene Einschränkungen unter Umständen schlechter kognitiv kompensieren als andere Kinder mit ähnlichen Symptomen, wenn ihr IQ niedriger ist.
AMBOSS: Sind auch die typischen Frühgeborenen-Komplikationen wie eine bronchopulmonale Dysplasie (BPD) oder eine nekrotisierende Enterokolitis (NEK) bei sehr kleinen Frühgeborenen häufiger?
Bührer: Die meisten dieser ganz kleinen Kinder haben eine BPD und eine Retinopathie (ROP). Außerdem haben sie das höchste Risiko, eine Hirnblutung zu erleiden. Die Inzidenz der NEK steigt mit abnehmendem Gestationsalter nur relativ leicht an, aber eine andere Komplikation, die fokale intestinale Perforation, gibt es praktisch nur bei extrem Frühgeborenen.
Welche Faktoren beeinflussen den Verlauf bei Frühgeborenen?
AMBOSS: Ist für die Prognose eigentlich das Gestationsalter oder das Geburtsgewicht entscheidend? Spielen auch weitere Faktoren eine Rolle?
Bührer: Geburtsalter und Geburtsgewicht sagen etwa gleich viel aus. Deshalb spielt in der deutschen Leitlinie zusätzlich zum Gestationsalter das Geburtsgewicht als dichotomer Faktor (unter 400 Gramm) eine Rolle. Auch das Geschlecht ist bedeutsam: Die Prognose von Mädchen ist so viel besser, als wären sie bereits ein bis zwei Wochen älter. Auch der Geburtsort hat einen Einfluss, also ob die Geburt in einem Perinatalzentrum stattfindet. Außerdem ist relevant, ob die Mutter eine antenatale Steroidgabe erhalten hat. Diese verbessert die Prognose über zwei Mechanismen, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können: Zum einen beschleunigt die Wirkung des Steroids die Lungenreifung und stabilisiert die Gefäße im Gehirn, was das Risiko einer Hirnblutung verringert. Zum anderen ist eine abgeschlossene Steroidgabe ein Indiz dafür, dass die Frau mindestens 48 Stunden vor der Geburt im Perinatalzentrum war, wodurch das Team mehr Zeit für die organisatorische Vorbereitung hatte.
Bei der bronchopulmonalen Dysplasie (BPD) ist die Prävention wesentlich effektiver als die Therapie. Wie diese gelingen kann und was es außerdem zur häufigsten Langzeitfolge sehr unreifer Frühgeborener zu wissen gilt, beschreibt unser Kapitel. |
AMBOSS: Welche postnatalen Faktoren können im Verlauf die Prognose beeinflussen?
Bührer: Je kränker das Kind, desto schlechter die Prognose. Sie verschlechtert sich, wenn man das Kind nicht von der Beatmung entwöhnen kann, wenn es eine schwere, beidseitige Hirnblutung erleidet oder eine NEK bekommt und wochenlang parenteral ernährt werden muss. Komplikationen, die am ehesten zu einer Therapiezieländerung führen, sind entweder schwere beidseitige Hirnblutungen oder ein Multiorganversagen im Rahmen einer NEK oder schweren Sepsis. Charakteristisch für diese Situationen ist, dass das Kind sterben würde, wenn wir bestimmte Maßnahmen unterlassen. Eine andere Komplikation, die periventrikuläre Leukomalazie, hat zwar sehr negative Auswirkungen auf die Entwicklung, doch benötigen die – meist etwas älteren – betroffenen Kinder keine intensivmedizinische Therapie mehr. Das heißt, bei diesen Kindern besteht gar nicht die Option, außergewöhnliche Maßnahmen zurückzufahren und das Kind im Sinne einer palliativen Therapie sterben zu lassen.
AMBOSS: Gibt es medizinische Neuerungen, die zukünftig die Prognose sehr kleiner Frühgeborener verbessern könnten?
Bührer: Leider gibt es aktuell keine medizinische Entwicklung und keine neuen Medikamente, die uns sonderlich weiterbringen. Auf der organisatorischen Seite ist die Zentralisierung am wichtigsten für den Therapieerfolg. Das heißt, es sollte eine begrenzte Anzahl von Kliniken geben, die schwerpunktmäßig solche Kinder behandeln und wo dadurch auch die entsprechende Erfahrung vorhanden ist. Das ist politisch schwierig durchzusetzen, weil viele Kinderkankenhäuser sich über Frühgeborene finanzieren. Überlebt ein solches Kind auf Station, lebt es erstmal drei Monate in der Klinik. Nach der Entlassung bekommt die Krankenkasse eine sehr dicke Rechnung. Seit Länder wie Schweden die Versorgung zentralisiert haben, erreichen sie sehr gute Ergebnisse. Zum Vergleich: In Schweden konzentrieren sich die Perinatalzentren für Kinder unter 28 Wochen auf sechs Städte, in Deutschland gibt es über 160 Level-1-Perinatalzentren.
Die Grauzone: ein gesellschaftlicher Konsens
AMBOSS: Gerade weil viele betroffene Kinder versterben, gibt es die Grauzone, innerhalb der sowohl ein kuratives als auch ein palliatives Therapieziel möglich ist. Wie wird dieser Zeitraum festgelegt?
Bührer: Die Grauzone ist nicht durch die Natur bestimmt, denn von Natur aus würden diese Kinder sterben. Stattdessen handelt sich um eine Entscheidung, die im gesellschaftlichen Konsens getroffen wird. Das führt dazu, dass diese Frist in verschiedenen Ländern unterschiedlich definiert ist. Bei uns liegt die Grauzone zwischen 22+0 und 23+6 Schwangerschaftswochen, in Österreich umfasst sie nur den Zeitraum zwischen 23+0 und 23+6 Wochen. In der Schweiz liegt sie zwischen 24+0 und 24+6 und in Schweden zwischen 22+0 und 22+6 Schwangerschaftswochen. Das heißt: Die Grauzonen von Österreich, der Schweiz und Schweden überlappen sich nicht.
AMBOSS: Sie waren an der Erstellung der deutschen AWMF-Leitlinie beteiligt. Warum hat man sich für eine im internationalen Vergleich eher frühe Grauzone entschieden?
Bührer: Das war ein Konsens zwischen Geburtsmedizinern, Neonatologen, Kinderkrankenschwestern, Hebammen und Elternvertretern. Zum einen hat man eine bereits länger bestehende Tradition fortgesetzt. Zum anderen sind die vergleichsweise guten Ergebnisse aus Schweden eingeflossen – wobei auch in Schweden 22 Wochen alte Frühgeborene selten völlig ohne Einschränkungen überleben. Eltern sollten die Möglichkeit bekommen, den schwedischen Weg zu gehen – deshalb kommt in der deutschen Leitlinie bereits ab 22 Wochen ein kuratives Vorgehen in Betracht. Man wollte ihnen aber auch die Option geben, bis zu einem Gestationsalter von 23+6 Schwangerschaftswochen zu sagen: „Ich möchte, dass lieber nichts gemacht wird.“ Die deutsche Grauzone ist besonders, weil sie zwei Wochen umfasst, während in unseren Nachbarländern Österreich, der Schweiz und den Niederlanden nur eine Woche vorgesehen ist.
AMBOSS: Heißt das, Eltern haben in Deutschland mehr Entscheidungsmöglichkeiten?
Bührer: Ja, die Eltern haben bei uns einen größeren Kompetenzspielraum, denn in der Grauzone zählt die elterliche Entscheidung. Es ist typisch für die deutschsprachigen Leitlinien, zu betonen, dass die Eltern am Steuer sitzen und die ärztliche Aufgabe darin besteht, das Benzin nachzufüllen. In den schwedischen Empfehlungen wird zwar auch erwähnt, dass die Eltern entscheiden, dieser Aspekt spielt aber eine deutlich geringere Rolle. In schwedischen Kliniken werden Eltern zwar sehr stark mit einbezogen – aber an dieser Stelle ist die Leitlinie direktiver als die deutschen Empfehlungen.
AMBOSS: Inwiefern spiegeln sich in den internationalen Empfehlungen auch gesellschaftliche Haltungen wieder?
Bührer: Vergleichen wir einmal die Schweiz mit Deutschland. Die Schweiz ist ein wohlhabendes Land, wohlhabender als Deutschland. Trotzdem beginnt man dort erst bei 24+0 Schwangerschaftswochen mit einer kurativen Therapie. Das liegt an einer anderen Grundhaltung. Man hat dort nicht die Ansicht: „Das Leben als solches ist heilig und man muss alles machen, damit das Kind überlebt.“ Stattdessen ist die Frage nach der Lebensqualität bedeutsamer.
Kurativ oder palliativ: Wer entscheidet?
AMBOSS: An der Therapie eines Frühgeborenen ist ein multidisziplinäres Behandlungsteam beteiligt. Wer entscheidet letztlich darüber, ob ein kuratives oder palliatives Vorgehen gewählt wird?
Bührer: In der Grauzone entscheiden die Eltern. Bei einem 21 Wochen alten Frühgeborenen hingegen können die Eltern noch so viel fordern – da ist eine Therapie aussichtslos. Deswegen darf ein Arzt auch gar nicht versuchen, das Kind intensivmedizinisch zu behandeln. Unsere medizinischen Interventionen sind schließlich schmerzhaft und daher nur gerechtfertigt, wenn ein bestimmtes Behandlungsziel erreicht werden kann. Bei einem größeren Kind ist die Lage auch klar. Seine Chancen sind so gut, dass man sich fragen würde: Warum wollen die Eltern, dass wir nichts machen? Wenn es in so einem Fall zu einer Diskrepanz käme, müsste man schlimmstenfalls das Familiengericht einschalten. Das kommt aber so gut wie nie vor und ist eigentlich immer Ausdruck einer schiefgelaufenen Kommunikation.
AMBOSS: Wie treffen Eltern eines Frühgeborenen die Entscheidung für eine intensivmedizinische oder eine palliative Therapie?
Bührer: Entscheidend ist das Wertesystem der Eltern, das es im ärztlichen Gespräch zu explorieren gilt. Manche Eltern sind nicht daran gewöhnt, über ihr Wertesystem zu sprechen, schämen sich vielleicht auch, wenn ihre Werte nicht dem Mainstream entsprechen. Doch ist es das entscheidende Kriterium, denn die Eltern müssen mit den Konsequenzen leben: Überlebt das Kind, müssen sie es großziehen, auch wenn das sehr schwer sein kann. Stirbt es, begleiten sie es dabei; und die Hoffnung auf das Kind ist vorbei. Das heißt, entweder haben sie ein verstorbenes Kind, um das sie trauern, oder sie haben ein Kind, das vielleicht ihr ganzes Leben nachhaltig verändert, weil es schwerbehindert ist.
AMBOSS: Welche Rolle spielen Ärzt:innen in diesem Prozess? Hat die ärztliche Kommunikation nicht auch einen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung der Eltern?
Bührer: Es macht natürlich einen Unterschied, wie rosig oder grau man die Zukunft dieses Kindes darstellt. Dabei geht es nicht nur darum, was man sagt, sondern vor allem um die emotionale Grundfärbung der Darstellung. Dadurch fließt das Wertesystem der Ärzte massiv in die Entscheidung ein: Die eigene Grundhaltung äußert sich auch in der Art und Weise, wie sie kommunizieren – und je nachdem wie positiv oder negativ sie sich äußern, werden die Eltern womöglich auch eine andere Entscheidung treffen. Darüber hinaus hat das Wissen der Ärzte um die Prognose von Frühgeborenen einen großen Einfluss. Die Eltern wollen keine Prozentzahlen hören, sondern wissen: “Was bedeutet das konkret für mein Kind?” Eltern sind zudem andere Einschränkungen wichtiger als den Ärzten. Ärzte haben früher oft die Zerebralparese betont, dabei können viele Eltern damit deutlich besser umgehen als zum Beispiel mit einer schweren autistischen Störung ihres Kindes. Manche Ärzte wissen jedoch gar nicht, wie groß das Autismusrisiko der Kinder ist.
Tipps für die Gesprächsführung
AMBOSS: Wie können Ärzt:innen denn die Prognose der betroffenen Kinder angemessen vermitteln?
Bührer: Ein Arzt, der solche Gespräche führt, muss sich sehr gut darüber informieren, was aus diesen Frühgeborenen werden kann und was nicht. Er muss außerdem in der Lage sein, die Prognose so zu erklären, dass die Eltern sie verstehen. Zahlen bringen dabei in der Regel wenig, stattdessen sollte man konkret schildern, was auf diese Kinder zukommt. Anders als bei einem Zustand nach einer schweren Asphyxie oder einer schweren Meningoenzephalitis werden diese Kinder nicht teilnahmslos in einem Bett liegen. Diese Kinder lernen laufen und sprechen. Irgendwann gehen sie in die Schule, kommen dort aber aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen vielleicht nicht so gut zurecht. Bei einer solchen Beschreibung können die meisten Eltern sich vorstellen, was das bedeutet. Für einige Eltern ist das etwas Schreckliches, weil sie ihren eigenen sozialen Aufstieg bedroht sehen. Andere Eltern sagen: „Das ist egal. Hauptsache, es ist ein glückliches Kind.“ Die Glücksfähigkeit ist etwas sehr Wichtiges. Auch die Partizipation des Kindes am Leben spielt für Eltern eine große Rolle, also dass sie sich vorstellen können, dass ein solches Kind einen Platz in der Familie und in der Gesellschaft bekommt. Das ist bei den meisten dieser Kinder gegeben. Kinder, die seltene Syndrome haben, oder Kinder, die eine schwere Asphyxie hatten, haben viel stärkere Einschränkungen als 23 oder 24 Wochen alte Frühgeborene.
AMBOSS: Die meisten Eltern hatten bis zu diesem Zeitpunkt mit der Neonatologie kaum Berührungspunkte. Wie können Ärzt:innen sich im Gespräch der Frage nach den Werten der Eltern annähern?
Bührer: Fast alle extrem Frühgeborenen kommen in der Schule besser klar als ein Kind mit einer Trisomie 21. Trisomie 21 können sich viele vorstellen. Man kann also auch fragen: „Wie war die Schwangerschaft, haben Sie eine Pränataldiagnostik durchführen lassen? Hätten Sie die Schwangerschaft abgebrochen, wenn die Diagnostik ergeben hätte, dass Ihr Kind eine Trisomie 21 hat?“ Wenn die Eltern diese Frage klar beantworten können, wird daran ihr Wertehorizont gut sichtbar.
AMBOSS: Haben Sie noch weitere Tipps, wie ärztliche Gespräche mit Eltern von Frühgeborenen gelingen können?
Bührer: Wichtig ist nicht, zu vermitteln: „Ihr Kind ist jetzt bei 22+6 Schwangerschaftswochen und wenn es morgen zur Welt käme, hätte es ein 50-prozentiges Risiko zu sterben. Wenn es überlebt, hat es ein 50-prozentiges Risiko, schwerbehindert zu sein.“ Damit überfährt man die Eltern. Stattdessen sollte man sich als erstes nach der Frau erkundigen und fragen, was die Eltern bisher schon gehört haben. Als Neonatologe ist man ja nicht der Erste, die mit den Eltern spricht. Es gab immer schon Gespräche mit einem Geburtshelfer, einem Pränataldiagnostiker, einer Hebamme. Außerdem leben die Eltern nicht in einem völlig isolierten Raum – sie haben eine Familie, eine Kultur, aus der sie kommen. Dadurch haben sie bereits bestimmte Vorstellungen, die teilweise relativ weit weg von der Realität eines überlebenden Frühgeborenen sind. Daher sollte man zunächst einmal zuhören und keine Botschaften senden, die die Eltern gar nicht hören wollen. Stattdessen sollte man versuchen, den wirklichen Wertehorizont der Eltern zu eruieren und zu akzeptieren. Dieser darf nicht mit dem eigenen Wertehorizont verwechselt werden.
Individuell auf Eltern von Frühgeborenen eingehen
AMBOSS: Wie sieht die Entscheidungsfindung in der Praxis aus?
Bührer: In manchen Fällen weiß man sehr früh, worauf die Eltern hinaus wollen. Andere Eltern müssen sich das erst erarbeiten. Einige signalisieren auch, dass ihnen diese Entscheidung zu komplex ist und fragen: „Was würden Sie mir raten?“ Eine möglichst wertfreie Antwort kann lauten: „Wissen Sie, es gibt Eltern, die entscheiden so – und haben gute Gründe dafür. Andere Eltern entscheiden anders.“ Dadurch verdeutlicht man, dass beide Möglichkeiten völlig akzeptabel sind. Eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung macht die- oder denjenigen nicht zu einer guten oder einer schlechten Mutter beziehungsweise einem guten oder schlechten Vater.
AMBOSS: Kommt es auch vor, dass die Eltern sich vielleicht noch gar nicht richtig als Eltern fühlen, wenn das Kind so früh zur Welt kommt, und es dadurch noch schwerer haben, diese Verantwortung zu übernehmen?
Bührer: Ja, das ist eine sehr schwierige Situation, denn den Eltern fehlen natürlich viele Monate Vorbereitungszeit. Sie haben das Kind noch nie so richtig gesehen oder gespürt. Eine Frau spürt ein Kind ungefähr ab 22, 23 Schwangerschaftswochen. Der Prozess des Elternwerdens muss in diesen Fällen beschleunigt ablaufen – gewissermaßen eine Cito-Reifung.
Sterbebegleitung bei Frühgeborenen
AMBOSS: Wenn die Eltern sich – entweder gleich nach der Geburt oder im Verlauf – für ein palliatives Vorgehen entscheiden, beginnt die Sterbebegleitung. Wie läuft das praktisch ab?
Bührer: Wenn das im Kreißsaal stattfindet, legen wir der Mutter das Kind auf die Brust und dort bleibt es, bis es verstorben ist. Wir versuchen, möglichst wenig zu interferieren. Die Mutter hat nur ganz wenig Zeit für sich und ihr Kind. Diese Zeit muss zu 100 % ihr gehören. Darum halten wir uns im Hintergrund – sodass wir helfen können, falls notwendig, aber die Eltern auch nicht durch unsere Tätigkeit alarmieren. Ist das Kind schon eine Zeit lang auf Station, bevor eine Komplikation ein Umdenken erzwingt, müssen die Eltern erstmal über die Situation informiert werden. Dann sollte man sie fragen, ob sie eine Taufe wollen oder andere religiöse Rituale für sie wichtig sind. Womöglich hilft es, die Station vorübergehend für andere Angehörige zu öffnen. Wenn Menschen in einer Großfamilie leben, ist es wichtig, dass Oma und Opa auch kommen können. Wir legen die Kinder oft in ein großes Erwachsenenbett, sodass die Mutter sich dazu legen und körperliche Nähe zu ihrem Kind spüren kann. Wir versuchen insgesamt eine private Stimmung herzustellen, sodass die Eltern-Kind-Interaktion im Vordergrund steht und nicht wir und unsere Geräte. Im Umgang mit den Eltern kommt es vor allem darauf an, warm und authentisch zu sein. Das können viele Ärzte und Pflegekräfte sehr gut – wir sind einfach da.
AMBOSS: Das ist für die Eltern sicherlich eine unfassbar schmerzhafte Situation. Wahrscheinlich ist es aber auch für das Team nicht einfach – insbesondere wenn ein Kind bereits länger in Behandlung war. Wie gehen Sie als Arzt damit um, wenn ein Kind stirbt?
Bührer: Man trauert mit, weil man das Kind schließlich kennt und wir in gewisser Weise auch Angehörige des Kindes sind. In der Erwachsenenmedizin sterben viel mehr Menschen als bei uns, aber dort hat man das Gefühl: Das ist ein alter Mensch, der sein Leben gehabt hat und dem womöglich auch nur Leid bevorstehen würde, wenn er noch mal nach Hause zurückkäme. Dadurch ist der Tod vielleicht leichter zu akzeptieren – aber es ist nicht grundsätzlich anders. Wer so ums Leben kämpft wie wir, muss auch mit dem Tod vertraut sein und darf ihn nicht als etwas sehen, das nicht passieren darf. Man lernt mit ihm umzugehen, damit man seine Menschlichkeit erhält.
Prof. Christoph Bührer ist seit 2008 Direktor der Klinik für Neonatologie der Charité Berlin und Präsident der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI).
Ethische Fragen in der Medizin – nicht nur bei Frühgeborenen relevant
Was passiert, wenn Eltern und Behandlungsteam sich in der Therapie eines Kindes nicht einig sind? Im zweiten Teil unserer Podcast-Doppelfolge zu Krankheit und Schuld beschreibt Prof. Paul einen solchen Fall aus medizinethischer Sicht. Im ersten Teil der Reihe fragen wir unter anderem: Sind Ungeimpfte schuld, dass die Coronapandemie so lange anhält?