Diabetes mellitus Typ 1: Primärprävention gesucht

Maria Strandt - Freitag, 19.8.2022
Ein Pankreas umrahmt von den Händen einer Ärztin. Prävention von Diabetes mellitus Typ 1 im AMBOSS-Blog.

Gene, Umwelt, Immunsystem: Die Pathophysiologie des Diabetes mellitus Typ 1 ist komplex. Warum tritt er auf und wie ließe er sich verhindern?

Lebenslange Insulintherapie, bedrohliche Langzeitfolgen: Der Diabetes mellitus Typ 1 kann die Lebensqualität Betroffener deutlich einschränken. Umso vorteilhafter wäre es, seine Manifestation von vornherein abzuwenden. Um diesem Ziel näherzukommen, müssen wir zunächst besser verstehen, welche Faktoren die krankheitsrelevanten Autoimmunprozesse auslösen. Was ist über das komplexe Zusammenspiel von Genen und Umwelt bekannt, das letztendlich zur Zerstörung der insulinproduzierenden Betazellen des Pankreas führt – und welche möglichen Präventionsansätze lassen sich daraus ableiten?

Auf einen Blick

  1. Diabetes mellitus Typ 1: Idealer Kandidat für die Prävention?
  2. Mikrobiom und Diät: Was hat der Darm mit Diabetes mellitus Typ 1 zu tun?
  3. Infektionen und Insulinbedarf: Betazellen im Stress
  4. Hängen die Psyche und Diabetes mellitus Typ 1 zusammen?
  5. Wie kann eine Primärprävention für Diabetes mellitus Typ 1 aussehen? 

Diabetes mellitus Typ 1: Idealer Kandidat für die Prävention?

Bislang galt die Manifestation eines Diabetes mellitus Typ 1, im Gegensatz zu Typ 2, nicht als beeinflussbar. Warum scheint seine Prävention inzwischen in greifbarer Nähe? Zum einen kennen wir die Zielgruppe, die davon profitieren könnte: Kinder, bei denen ein genetischer Score ein erhöhtes Risiko ermittelt hat. Zum anderen wissen wir heute: Nur 7,6% dieser Kinder erkranken vor ihrem 10. Geburtstag. Es entwickeln also über 90% – trotz ihres erblichen Risikos – in diesem Zeitraum keinen Diabetes.1 Um die Autoimmunprozesse auszulösen, die schließlich zur Erkrankung führen, müssen somit auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Autoantikörper treten häufig bereits im ersten Lebensjahr auf, was dafür spricht, dass frühkindliche und pränatale Einflüsse besonders relevant sind.2 Gelänge es, diese zu identifizieren und auf sie einzuwirken, ließe sich der Ausbruch der Erkrankung möglicherweise verhindern. Welche Faktoren hat die Forschung aktuell im Blick?

Mikrobiom und Diät: Was hat der Darm mit Diabetes mellitus Typ 1 zu tun?

Zunehmend erhält das Mikrobiom des Darms als Schnittstelle zwischen Umwelt und Immunsystem die Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Metagenomanalysen aus Stuhlproben ermöglichen Einblicke in seine molekulare Funktion. Ob diese sich zwischen Kindern, die einen Diabetes mellitus Typ 1 entwickeln, und solchen, die trotz des genetischen Risikos gesund bleiben, unterscheidet, versuchten Forschende im Rahmen der TEDDY-Studie herauszufinden.3 Tatsächlich zeigten sich bei den gesunden Kontrollen vermehrt bakterielle Gene, die für die Biosynthese kurzkettiger Fettsäuren bedeutend sind. Diese Short-Chain fatty Acids (SCFA) zeigten im Tiermodell einen protektiven Effekt: Erhalten sogenannte NOD-Mäuse (Non-obese diabetic Mouse) eine spezielle Diät, die die bakterielle Produktion von SCFA ankurbelt, entwickeln diese Mäuse trotz ihrer normalerweise hohen Spontaninzidenzen fast nie einen Diabetes mellitus Typ 1.

Die Ernährung moduliert auch das menschliche Mikrobiom – beispielsweise zeigte sich in der TEDDY-Studie, dass neben dem Alter und dem Wohnort auch das Stillen für die Zusammensetzung des Mikrobioms relevant ist. Es scheint einem Diabetes mellitus Typ 1 vorzubeugen, auch wenn die protektive Wirkung relativ gering ausgeprägt ist.2 Nahrungsbestandteile beeinflussen zudem nicht nur das Mikrobiom, sondern auch das Immunsystem: Sie können als Antigene das Immunsystem triggern und zu einem inflammatorischen Milieu im Darm beitragen. Aus diesem Grund sind auch zahlreiche weitere Aspekte der Ernährung wie die mütterliche Vitamin-D-Aufnahme während der Schwangerschaft, Kuhmilchexposition im Säuglingsalter und der Zeitpunkt der Gluteneinführung Gegenstand der Forschung – eindeutige Ergebnisse liegen allerdings noch nicht vor.

Infektionen und Insulinbedarf: Betazellen im Stress

Auch Infektionen können das Risiko für einen Diabetes mellitus Typ 1 erhöhen, indem sie eine Entzündung der Betazellen auslösen. Dass Viren das Pankreas schädigen können, geriet zuletzt im Rahmen der COVID-19-Pandemie in den Fokus. Für den Typ-1-Diabetes besonders bedeutend scheinen Enteroviren zu sein: Sie zeigen einen Tropismus für Betazellen und können womöglich in ihnen persistieren.4 Mütterliche Antikörper schützen den Nachwuchs vor dem negativen Effekt einer Infektion – doch durch deutlich verbesserte hygienische Lebensbedingungen lässt möglicherweise die Herdenimmunität gegen Enteroviren nach, sodass Mütter auch kaum noch Nestschutz weitergeben.5 Zukünftig könnten deshalb Impfungen gegen Enteroviren in der Prävention eine Rolle spielen. Die protektive Wirkung der Rotavirusimpfung auf die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 1 zeigt, dass Impfungen grundsätzlich eine erfolgreiche Strategie darstellen können. Welche Erreger eine besonders große Rolle in diesem Zusammenhang spielen, werden voraussichtlich Virom- und Phageomanalysen zeigen. 

Doch nicht nur eine Infektion, auch ein erhöhter Insulinbedarf stresst die Betazellen. Der Mechanismus dahinter: Erschöpfen Betazellen, produzieren sie vermehrt nicht-funktionale Peptide, die wiederum als Autoantigene das Immunsystem gegen Betazellen richten können.5 Ein gesteigerter Insulinbedarf besteht beispielsweise bei hohem Zuckerkonsum, einer hohen Wachstumsgeschwindigkeit sowie in der Pubertät. Faktoren wie Übergewicht oder psychischer Stress tragen zu einer Insulinresistenz bei, wodurch die Betazellen größere Mengen des Hormons produzieren müssen. Passend zur Betazellstress-Hypothese zeigten Studien, dass ein hohes Geburtsgewicht und eine starke Gewichtszunahme in der frühen Kindheit mit einem erhöhten Risiko für einen Typ-1-Diabetes einhergehen. Der Effekt dieser Faktoren ist allerdings nur moderat; beispielsweise erhöht ein Geburtsgewicht über vier Kilogramm das Erkrankungsrisiko um nur zehn Prozent.6

Hängen die Psyche und Diabetes mellitus Typ 1 zusammen?

Bereits im 17. Jahrhundert vermutete der englische Arzt Thomas Willis, dass “lang anhaltender Kummer” zu einem Diabetes mellitus führen kann. Tatsächlich haben seither einige Studien gezeigt: Psychische Stressoren gehen der Manifestation eines Diabetes mellitus Typ 1 häufig voraus.7 Zu den untersuchten Faktoren gehören Ereignisse wie der Verlust eines Elternteils oder das Leben in einem Kriegsgebiet, aber auch Lernschwierigkeiten oder soziale Probleme mit Gleichaltrigen. Ein Beispiel: Fühlen sich Eltern durch die Kindererziehung stark gestresst, erhöht dies einer schwedischen Studie8 zufolge das Erkrankungsrisiko des Kindes – unabhängig davon, ob Autoimmunerkrankungen in der Familie vorkommen. Gleiches gilt für traumatische Ereignisse im ersten Lebensjahr.

Wie kann die Psyche einen Diabetes mellitus auslösen? Dass psychischer Stress die Insulinresistenz verstärken kann, ist auch bei nicht-diabetischen Patient:innen bereits belegt. Zugrunde liegt womöglich, dass über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHN-Achse) ausgeschüttete Glucocorticoide und Katecholamine den Zuckerstoffwechsel verändern. Neben der gesteigerten Insulinresistenz wirken psychische Faktoren auch direkt auf das Immunsystem. Sympathische Nervenfasern beeinflussen lymphatisches Gewebe und die Immunzellen selbst haben adrenerge Rezeptoren. Dadurch kann Stress proinflammatorische Zustände und autoimmune Prozesse verstärken. Der Zusammenhang von Stress und Autoimmunität ist nicht ganz neu. Spannend für die Prävention wäre zu wissen, ob bestimmte Altersgruppen besonders vulnerabel für die immunologischen Folgen und die Entwicklung eines Typ-1-Diabetes durch Stress sind – und somit gezielt von präventiven Maßnahmen profitieren könnten.7

Mehr Informationen zu Symptomen, Diagnostik und Therapie des Diabetes mellitus bietet das entsprechende AMBOSS-Kapitel.

ZUM AMBOSS-KAPITEL

Wie kann eine Primärprävention für Diabetes mellitus Typ 1 aussehen? 

Wie lassen sich die bisherigen Erkenntnisse in Präventionsprogramme umsetzen? Zunächst gilt es, Kinder mit einem hohen genetischen Risiko zu identifizieren. In Sachsen stößt ein entsprechendes Screeningprogramm im Rahmen einer Studie auf großes Interesse: Allein im Jahr 2019 ließen über 40% aller Eltern ihr Neugeborenes testen.9 

Ziel des Screenings war es, genetisch vulnerable Teilnehmende für zwei Präventionsstudien zu rekrutieren: Die POInT-Studie (Primary Oral Insulin Trial)10 untersucht, ob die tägliche orale Einnahme von Insulin durch immunmodulatorische Effekte verhindern kann, dass das Kind diabetesrelevante Autoantikörper bildet. Inspiration fanden die Forschenden in der Allergologie, wo Studien gezeigt haben, dass ein regelmäßiger Erdnussverzehr bei vulnerablen Kindern die Allergieinzidenz senken kann. Im Zusammenhang mit Diabetes mellitus Typ 1 fiel die Wahl auf Insulin, da Antikörper gegen Insulin häufig bereits früh im Krankheitsverlauf entstehen und seine orale Gabe zudem ein gutes Sicherheitsprofil aufweist. Oral gegeben wirkt sich Insulin nicht auf den Blutzucker aus, da es nicht in den Blutstrom gelangt, wie Vorstudien zeigten. Meist toleriert das Immunsystem oral aufgenommene Antigene – ein Effekt, der sich auch in der Diabetesprävention als nützlich erweisen könnte.

Die zweite Untersuchung, die SINT1A-Studie (Supplementation with B. Infantis for Mitigation of Type 1 Diabetes)11, setzt ebenfalls an einer immunologischen Schnittstelle des Verdauungsapparats an. Durch die Gabe eines Probiotikums im ersten Lebensjahr versuchen Forschende, das Mikrobiom zu beeinflussen und sich die positiven Eigenschaften von Bifidobakterien zunutze zu machen: Beispielsweise enthält der Stuhl von Säuglingen, die von Bifidobakterien kolonisiert sind, höhere Konzentrationen der bereits erwähnten protektiven kurzkettigen Fettsäuren (SCFA). 

Ergebnisse der POInT- und der SINT1A-Studie werden erst in einigen Jahren vorliegen. Bis dahin gibt es womöglich bereits weitere Erkenntnisse über das hochkomplexe Zusammenspiel von Genen, Umwelt, Psyche und Immunsystem. Es bleibt spannend, in welcher Form die Forschung in der Klinik ankommen wird – und ob es eines Tages tatsächlich gelingt, Autoimmunerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 1 effektiv vorzubeugen.

 

Zum Weiterhören

Wer mehr über die Zusammenhänge zwischen psychischen Belastungen und Diabetes mellitus erfahren möchte, sei auf unsere Podcastfolge zum Thema “Diapression" verwiesen. Hier geht es darum, warum Diabetes und Depression so häufig gemeinsamen auftreten.

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Auch die Auslöser anderer Autoimmunerkrankungen sind Gegenstand der Forschung. Was ihre Zwillingsstudie zu diesem Thema ergeben hat, erklärt die Neurologin PD Dr. L.A. Gerdes in der Podcastfolge: “Multiple Sklerose: Paradigmenwechsel in Forschung und Therapie”

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Quellen

1. Bonifacio E, Beyerlein A, Hippich M, Winkler C, Vehik K, Weedon MN, Laimighofer M, Hattersley AT, Krumsiek J, Frohnert BI, Steck AK, Hagopian WA, Krischer JP, Lernmark Å, Rewers MJ, She JX, Toppari J, Akolkar B, Oram RA, Rich SS, Ziegler AG; TEDDY Study Group. Genetic scores to stratify risk of developing multiple islet autoantibodies and type 1 diabetes: A prospective study in children. PLoS Med. 2018 Apr 3;15(4):e1002548. doi: 10.1371/journal.pmed.1002548. PMID: 29614081; PMCID: PMC5882115.

2. Craig ME, Kim KW, Isaacs SR, et al. Early-life factors contributing to type 1 diabetes. Diabetologia. 2019;62(10):1823-1834. doi:10.1007/s00125-019-4942-x

3. Vatanen T, Franzosa EA, Schwager R, et al. The human gut microbiome in early-onset type 1 diabetes from the TEDDY study. Nature. 2018;562(7728):589-594. doi:10.1038/s41586-018-0620-2

4. Richardson SJ, Morgan NG. Enteroviral infections in the pathogenesis of type 1 diabetes: new insights for therapeutic intervention. Curr Opin Pharmacol. 2018;43:11-19. doi:10.1016/j.coph.2018.07.006

5. Rewers M, Ludvigsson J. Environmental risk factors for type 1 diabetes. Lancet. 2016;387(10035):2340-2348. doi:10.1016/S0140-6736(16)30507-4

6. Cardwell CR, Stene LC, Joner G, et al. Birthweight and the risk of childhood-onset type 1 diabetes: a meta-analysis of observational studies using individual patient data. Diabetologia. 2010;53(4):641-651. doi:10.1007/s00125-009-1648-5

7. Sharif K, Watad A, Coplan L, Amital H, Shoenfeld Y, Afek A. Psychological stress and type 1 diabetes mellitus: what is the link?. Expert Rev Clin Immunol. 2018;14(12):1081-1088. doi:10.1080/1744666X.2018.1538787

8. Sepa A, Wahlberg J, Vaarala O, Frodi A, Ludvigsson J. Psychological stress may induce diabetes-related autoimmunity in infancy. Diabetes Care. 2005;28(2):290-295. doi:10.2337/diacare.28.2.290

9. Heinke S, Hommel A, Loff A, Berner R, Bonifacio E for the Freder1k- & POInT-Study-Team: The willingness to participate in pediatric type 1 diabetes studies. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 488–9. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0171

10. Ziegler AG, Danne T, Dunger DB, et al. Primary prevention of beta-cell autoimmunity and type 1 diabetes - The Global Platform for the Prevention of Autoimmune Diabetes (GPPAD) perspectives. Mol Metab. 2016;5(4):255-262. Published 2016 Feb 22. doi:10.1016/j.molmet.2016.02.003

11. Ziegler AG, Arnolds S, Kölln A, et al. Supplementation with Bifidobacterium longum subspecies infantis EVC001 for mitigation of type 1 diabetes autoimmunity: the GPPAD-SINT1A randomised controlled trial protocol. BMJ Open. 2021;11(11):e052449. Published 2021 Nov 9. doi:10.1136/bmjopen-2021-052449